(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 1/07, 29) < home RiV >


„Anstand in finsterer Zeit“

Leserbriefe zu MHR 2/2006, 14 ff., MHR 3/2006, 7ff., und MHR 4/2006, S. 19 ff.

 

I.

Die bisherige Diskussion hat zwei unterschiedliche Schwerpunkte: Zum einen geht es um die Beurteilung der Schriften von Konrad Löw, zum anderen um die Frage, ob die Freiheit der Meinungsäußerung in der MHR Grenzen hat oder haben sollte.

Zum ersten Punkt möchte ich einige Passagen aus dem Aufsatz „Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte“ von Konrad Löw zitieren, von dem sich die Bundeszentrale für politische Bildung später distanzierte:

„Die Sammlung der Entscheidungen des BVerfG füllt mehr als einhundert Bände, vom Sittengesetz des Artikels 2 war aber nur einmal die Rede, und das liegt fast fünfzig Jahre zurück. Seit dieser Zeit ist das Sittengesetz für die Richter geradezu inexistent ebenso wie die ‚Verantwortung vor Gott und den Menschen’… Die Ausblendungen zentraler Vorgaben der Verfassung werden dadurch noch brisanter, dass sie durch andere Worte ersetzt werden, die geradezu das Gegenteil des Intendierten besagen. … Die Worte „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ sind dem Artikel 2 entnommen, an die Stelle des dort als Schranke genannten Sittengesetzes ist die Selbstbestimmung getreten, an die Stelle der Verantwortung vor Gott und den Menschen die Eigenverantwortung. ... ‚Eigenverantwortung’ und ‚Selbstbestimmung’ leisten der Selbstsucht Vorschub, die in unseren Tagen immer mehr in diverse Süchte entartet, Magersucht, Fresssucht, Spielsucht, Trunksucht, Drogensucht usw. …

Die meisten Juden empfanden [zu Beginn des 20. Jahrhunderts] gesellschaftliche Brüskierungen als geradezu notwendige Begleiterscheinungen einer heterogenen Gesellschaft. … Die Juden wussten, dass sie selbst nicht verlegen waren, wenn es galt, eigene Interessen zu vertreten oder andere auf die Schippe zu nehmen.“[1] Eine andere Veröffentlichung von Löw enthält – in Bezug auf den Holocaust – folgenden Vergleich: „Doch die Ermordung ganzer Völker auf Befehl von oben ist leider keine Neuigkeit des 20. Jahrhunderts. Allein schon ein Blick in die Thora beweist es. Die 'Helden' solcher Untaten tragen berühmte Namen, Mose, Josua und David."[2] Ich bin nicht in der Lage, das Werk von Konrad Löw umfassend zu bewerten. Deutlich ist mir aber, dass sich seine politischen Einschätzungen von meinen grundlegend unterscheiden. Anders als er befürworte ich die Auslegung, die das Bundesverfassungsgericht dem Grundrechtskatalog des GG gegeben hat. Den Rechten auf Selbstbestimmung und Eigenverantwortung stehe ich ebenfalls positiv gegenüber und sehe in ihnen keine Auslöser für Suchterkrankungen. Löw’s Äußerungen über Juden schließlich lassen, wenn man sie nicht als offen antisemitisch einstufen will, doch zumindest jedwedes Fingerspitzengefühl vermissen. Alles in allem kann ich gut verstehen, dass die Bundeszentrale für politische Bildung davon Abstand genommen hat, den Text von Herrn Löw für Zwecke der öffentlichen Bildung einzusetzen. Anders als Herr Bertram kann ich hierin keine „absurde Kampagne“ gegen Herrn Löw erkennen. Im Gegenteil: Ich hätte es begrüßt, wenn die Werke von Löw auch in der MHR nicht positiv besprochen worden wären.

Nun zur zweiten Frage: Hätte die Veröffentlichung des Artikels von Herrn Bertram durch die Redaktion unterbunden werden müssen? (Nur) in diesem Punkt bin ich nicht ganz der Meinung von Herrn Büchel. Ich denke, dass die MHR den Abdruck auch politisch einseitiger Meinungsäußerungen verkraften kann, wenn deutlich wird, dass es sich nicht um die Meinung des Richtervereins (oder gar: der Hamburger Richterschaft) handelt. Ob die Redaktion eine solche Klarstellung gefördert hat, indem sie zwar beide Leserbriefe von Herrn Büchel, nicht jedoch den Artikel von Herrn Bertram kritisch kommentierte, erscheint mir allerdings zweifelhaft.

Guido Christensen

 

 

II.

Sicherlich sind sich alle darüber einig, dass die Mitteilungen des Hamburgischen Richtervereins – so zuletzt Inga Schmidt-Syaßen in MHR Nr. 4/2006 – „Raum für ein breites Meinungsspektrum“ geben sollen. Dann muss dieser Raum aber auch jeder veröffentlichten Meinung gleichermaßen eingeräumt werden. Warum nur musste Helmut Büchels erster Leserbrief zu dem Beitrag Günter Bertrams „Anstand in finsterer Zeit“ (MHR Nr. 2/2006) mit einer ausführlichen – und leider auch belehrenden – redaktionellen Anmerkung (MHR Nr. 3/2006) versehen werden und warum musste seine darauf folgende Antwort (die aus unserer Sicht sehr beachtliche Bedenken formuliert) eingerahmt werden von drei weiteren Beiträgen (MHR Nr. 4/2006), die sich ganz eindeutig gegen die von Büchel geäußerte Auffassung aussprechen und in denen zum Teil ein unannehmbarer Tonfall angeschlagen wird? Wenn nämlich die angebliche „Bevormundung“ durch Büchel und dessen angebliches Verlangen nach Selbstzensur assoziiert wird mit der Unterdrückung sog. „Entarteter Kunst“ im Dritten Reich, wie es Wolfgang Schneider in seinem Leserbrief in der letzten MHR-Ausgabe getan hat, dann ist dies nicht mehr nur polemisch und zugespitzt, sondern gänzlich überzogen und für uns nicht nachvollziehbar. Warum aber druckt man dann einen solchen Leserbrief nicht mit einer eben solchen distanzierenden Anmerkung der Redaktion? Wenn bei Büchels erstem Leserbrief dazu Veranlassung war, dann ja wohl erst recht bei dem Leserbrief von Schneider. So entsteht der unschöne Eindruck, dass die Redaktion meint, Büchels Kritik beständig widerlegen zu müssen, obwohl der Richterverein nach unserem Verständnis kein Tendenzbetrieb ist. Wir hätten uns jedenfalls von unserem Richterverein gewünscht, dass er nicht wiederholt meint, sich auf eine Seite schlagen zu müssen, sondern auch provokant formulierte kritische Fragen an die Adresse des Vereins kommentarlos abdruckt und eine Bewertung seinen Mitgliedern überlässt. Und wir glauben auch, dass dies dem von der neuen Ehrenvorsitzenden Inga Schmidt-Syaßen formulierten Ziel, einem möglichst breiten Meinungsspektrum in den MHR Raum zu geben, besser gedient hätte. 

Anne Meier-Göring,  Andreas Buske, Joachim Zink

 

III.

Die aus meiner Sicht zu begrüßenden kritischen Stellungnahmen zu Büchels gegen Bertrams Aufsatz „Anstand in finsterer Zeit" (MHR 2/2006, 14 ff) gerichteten Leserbriefe (MHR 3/2006, 7 und 4/2006, 20), insbesondere diejenigen Hirths und I. Schmidt-Syaßens (MHR 3/2006, 7 f und 4/2006, 20 f), übergehen einen Gesichtspunkt, der mir wichtig ist. Ich fühle mich deshalb meinerseits zu einer weiteren Stellungnahme gedrängt.

1. Klarstellend: Ich habe mich bisher weder mit Löw als Person noch mit dessen Veröffentlichungen beschäftigt und beabsichtige dies zurzeit auch nicht.

2. Nicht hierum geht es mir nämlich, sondern um die Art und den Ton der Polemik Büchels gegenüber Bertram, wie sie vor allem unter Ziff. 1 seines erstgenannten Leserbriefes zum Ausdruck gelangen. Wenn dort nämlich Bertram empfohlen wird, „sich doch mit einem Kreis Gleichgesinnter zusammenzuschließen, vielleicht den von ihm geschätzten Konrad Löw oder auch David Irving als Referenten einzuladen und die erste Strophe des Deutschlandliedes abzusingen, deren mangelnde Beliebtheit er an anderer Stelle dieses Heftes bedauert", so soll Bertram offenbar in die Nähe rechtsradikaler Gruppierungen gerückt werden. Die Behauptung, an anderer Stelle bedauere Bertram die mangelnde Beliebtheit der ersten Strophe des Deutschlandliedes („Deutschland, Deutschland über alles ..."), lässt Büchel ersichtlich einfließen, um seine Einschätzung vom Standort Bertrams zu untermauern. Diese Behauptung ist aber eindeutig falsch. In Bezug genommen ist eine „Der Fragebogen" betitelte Veröffentlichung Bertrams (MHR 2/2006, 28 ff), in der es unter anderem darum geht, ob die in einem Fragebogen für Einbürgerungskandidaten des Landes Hessen gestellte Frage, mit welchen Worten die deutsche Nationalhymne beginne, zwingend mit „Einigkeit und Recht und Freiheit ..." zu beantworten sei, oder ob auch eine Antwort „Deutschland, Deutschland über alles ..." richtig sein könne. Dies ist sicherlich keine Frage von brennender Aktualität. Man mag sich verwundert fragen, welches Interesse daran bestehen kann, sich damit zu befassen. Aber es stimmt einfach nicht, dass Bertram hier ein Bedauern über die geringe Beliebtheit der ersten Strophe des Deutschlandliedes zum Ausdruck brächte. Er berichtet vielmehr lediglich, dass die nach dem Wunsche Adenauers als Nationalhymne zu singende dritte Strophe sich während der 70er und 80er Jahre geringer Beliebtheit erfreut habe.

3. Der Versuch Büchels, Bertram in eine Ecke zu drängen, in der sich unbelehrbare Rechtsradikale tummelten, ist absurd. Diese Feststellung kann getroffen werden, ohne dass die Frage beantwortet werden muss, ob der Politologe Löw solchem Gedankengut nahe steht. Letzteres kann ich auch nicht beurteilen, weil ich seine Schriften nicht kenne. Selbst dann nämlich, wenn Bertram solche Tendenzen bei Löw übersehen haben sollte, wäre Büchels Polemik gegen Bertram abwegig und im Ton grob unangemessen (um nicht stärkere Ausdrücke zu gebrauchen). Bertam ist den älteren Richtern nicht nur als fachlich kompetenter, sondern darüber hinaus als gebildeter, kultivierter und moralisch hoch stehender Vertreter unseres Berufsstandes bekannt. Wer dies nicht wissen sollte, kann sich gerade jetzt einen - freilich nur kleinen - Eindruck von seiner Denkungsart durch die Lektüre seines Aufsatzes „Fritz Manasse zum Gedächtnis" (MHR 4/2006, 21 ff) verschaffen, der eine liebevolle Würdigung der wegen ihrer jüdischen Abstammung verfolgten und emigrierten, nach 1945 aber nach Deutschland zurückgekehrten Eheleute Fritz und Käthe Manasse enthält.

4. Büchel, den ich stets für einen besonders intelligenten Kollegen gehalten habe, hat sich ersichtlich über Bertram vor allem wegen des Artikels „Anstand in finsterer Zeit" und der darin zum Ausdruck gelangenden Sympathie für Löw geärgert und ihm deshalb eins auswischen wollen. Er ist dabei Opfer seiner flinken Feder und seiner Lust an überspitzten Formulierungen geworden und hat auf dieser Grundlage ein Urteil über Bertram gefällt, das unrichtig und beleidigend ist. Er täte gut daran, sich - auf welche Weise auch immer - bei Bertram zu entschuldigen.

Henrik Philippi

 

IV.

Wie Schneider (MHR 4/2006, S. 18) bin ich der Meinung, dass Günter Bertram sicher der Letzte ist, dem man ein unkritisches Verhalten zu unserer braunen Vergangenheit vorhalten kann - das muss nicht weiter ausgeführt werden. Nein, ein anderer Satz Wolfgang Schneiders regt meinen Widerspruch: Schneider meint unter Hinweis auf unseren gemeinsamen Geburtsjahrgang 1927, er werde bis an sein Lebensende von Schuldgefühlen begleitet sein, weil er als Luftwaffenhelfer und Soldat nicht nachgefragt und das Zwangsregime gefördert habe.

Ich muss gestehen, dass mir derartige Schuldgefühle fehlen; das ist hoffentlich kein Anlass, mich der Nähe zum rechten Spektrum zu verdächtigen. Uns Oberschüler hat im Februar 1943 niemand um unsere Meinung gefragt, wir wurden im Klassenverband als Flak- oder Marinehelfer eingezogen. Das traf Wolfgang Schneider ebenso wie Joseph Ratzinger, Hans-Dietrich Genscher, Günther Grass, mich und noch viele andere. Dabei hätte ich besonderen Grund, noch heute Gewissensbisse zu haben. Mein Onkel Dr. med. Kracauer (Ehemann einer Schwester unseres Vaters) war mit seinen beiden Söhnen - einige Jahre älter als ich - 1939 aus Polen rechtzeitig nach England emigriert. Dazu hatte er mehrfache Gründe: Er war Pole, Arzt, Reserveoffizier in der polnischen Armee, und er war vor allem Jude. Bei den Gründen, ihn zu töten, hätten die Nazis also freie Auswahl gehabt, schon eines der genannten Merkmale hätte genügt, ihn umzubringen. Meine Vettern dienten während des Krieges im Rahmen der polnischen Legion in der RAF (Royal Air Force). Während sie ihre Bombenangriffe auch auf Hamburg flogen, stand ich als Flakhelfer an der Beobachtungsstation (B l) der ersten Batterie der schweren Flakabteilung 607 an verschiedenen Standorten in Hamburg.

Den zweiten Weltkrieg konnten wir also innerhalb der Großfamilie führen. Jedes Familienmitglied war der Meinung, Recht zu tun. Eine aus heutiger Sicht perverse Situation.

Hans Frantzioch

 

 

Leserbrief zur Mitgliederversammlung

 

Aus der Befürchtung heraus, dass der „offizielle“ MHR-Bericht[3] über den Auftritt der Generalbundesanwältin Harms – sagen wir – unvollständig sein wird (wie seinerzeit derjenige über den Auftritt der Bundesjustizministerin Zypries), erlaube ich mir folgende Bemerkungen:

Mit welcher Flapsigkeit Frau Harms sich über die – m.E. mehr als nahe liegende – Rechtsmeinung äußerte, dass der Umstand der so genannten Unerreichbarkeit von Zeugen (Guantánamo und andernorts) in einer Beweiswürdigung zu berücksichtigen sei, war schon bemerkenswert. Aus meiner Sicht regelrecht erschreckend war, dass Frau Harms bekundete, es müsse verhindert werden, dass Straftäter freigesprochen würden. War es bisher nicht so, dass die Gerichte darüber entscheiden, ob jemand ein Straftäter ist?

Und erschreckend war auch, dass Frau Harms meinte, einen Beschuldigten als einen „Kerl“ bezeichnen zu sollen (auch einen Verurteilten hätte sie übrigens nicht als einen „Kerl“ zu bezeichnen) und sich – Beispiele aufzählend – darüber mokieren zu sollen, dass die Namen der Menschen aus dem
arabischen Sprachraum alle irgendwie gleich klingen würden. Ist Sprache nicht verräterisch?

 

Martin Weise


[1] Es handelt sich um ausgewählte Textstellen, die ich als problematisch empfinde. Wer sich einen eigenen Eindruck vom Gesamttext verschaffen möchte, kann dies im Internet unter folgender Adresse tun: http://www.swg-hamburg.de/Im_Blickpunkt/Eingedenk _ seiner_mehr_als_tausendjahrigen_Geschichte.pdf

[2] Konrad Löw, Die Schuld, Christen und Juden im nationalsozialistischen und heutigen Urteil, 2002, S. 268 f.

[3] Anm. d. Red.: siehe oben Seite 8