(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/06, 14) < home RiV >

Anstand in finsterer Zeit

- Konrad Löw gibt jüdischen

Zeitzeugen das Wort -

 

Der Bayreuther Jurist und Politologe Prof. Konrad Löw hat Anfang des Jahres ein wichtiges Buch vorgelegt: „Das Volk ist ein Trost – Deutsche und Juden 1933 – 1945 im Urteil der jüdischen Zeitzeugen“[1].

1. Der Autor ist den Lesern der MHR kein Unbekannter; an die absurden Kampagnen, die gegen ihn inszeniert worden waren, braucht deshalb nur kurz erinnert zu werden[2]:

Die Bundeszentrale für politische Bildung hatte im Frühjahr 2004 für ihr Deutschlandarchiv einen Aufsatz aus seiner Feder über „Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte“ veröffentlicht, war dann aber in plötzlicher Kehrtwendung über ihn hergefallen, hatte sich von seinem Beitrag einer angeblich relativierenden Geschichtsbetrachtung  wegen mit großer Geste distanziert, ihre Leser und alle Welt um Entschuldigung gebeten, die Vernichtung („Makulierung“) der Restauflage angekündigt und eine erneute Abhandlung über deutschen Antisemitismus durch Wolfgang Benz versprochen, die Benz dann auch gleich mit der Bemerkung einleitete, Löws Aufsatz – „jüngstes Exempel eines missglückten patriotischen Projekts“ – habe seine nunmehr vorgestellten Gedanken über „Die Juden und die nationale Identität“ veranlasst[3]. Wenn Löw sich ausgerechnet auf Viktor Klemperer[4] als Zeugen dafür berufe, dass auch in den Zeiten schlimmster Judenverfolgung und -ent­würdigung im Volke dennoch Anstand und sogar riskante Hilfsbereitschaft weiter verbreitet gewesen seien als gemeinhin angenommen und gelehrt, dann sei dieses Aufbauschen „weniger Fälle von Hilfe“ einfach frech und zugleich ein Indiz für zweifelhafte Absichten[5].

Ob es diese Diffamierung durch einen nicht ganz unbekannten Kollegen - immerhin den Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung! - war, die Löw alsbald wieder zur Feder hatte greifen lassen, um seinen Standpunkt weiter zu erhärten, ist unerheblich. Entscheidend sind Fülle und Art seiner präsentierten Quellen – ist sein Buch selbst[6].

2. Darin lässt Löw nicht etwa Leute, die sich jetzt vom sicheren Port ihrer damaligen Haltung rühmen, zu Worte kommen, sondern jüdische Zeitzeugen: Opfer also, Verfolgte, Geschundene wie eben Viktor Klemperer[7] und etwa fünfzig andere, zitiert aus ihren in Zeiten der Verfolgung oder rückblickend niedergeschriebenen Aufzeichnungen[8] und gibt auch – für unterschiedliche Zeitabschnitte und Ereignisse - anderen, zumal ausländischen Beobachtern der damaligen deutschen Zustände das Wort; auf NS-Quellen (Himmler, Goebbels, „Meldungen aus dem Reich“ des Sicherheitsdiensts usw.) weist er insoweit hin, als dort Klage geführt wird über die Verständnislosigkeit des deutschen Volkes für die „Judenmaßnahmen“ des Regimes[9]. Es ist unmöglich, von dieser großen Quellenpräsentation auch nur einen Eindruck zu vermitteln; man muss sie lesen und - gerade wegen der Reflexionen über extrem gegensätzlicher Erlebnisse und Erfahrungen, auch des zeitlichen und situativen Schwankens der Urteile wegen – sie gründlich auf sich wirken lassen.

Nur einige Beispiele aus jüdischer Feder:

Victor Klemperer 1940: „Ich frage mich oft, wo der wilde Antisemitismus steckt. Für meinen Teil erfahre ich so viel Sympathie, man hilft mir aus, aber natürlich angstvoll. Ich erhielt einen unerfrorenen Weißkohl, eine Kohlrübe und Möhren – lauter seltene Delikatessen. Dazu eine Brotmarke geschenkt ...“[10]. Klemperer im April 1943 über seine Dresdener Zwangsarbeit: „... ich bin auch noch nirgends einer antisemitischen Regung im Betrieb begegnet ... Wie tief haftet der Antisemitismus im Volk? Ich schleppe eine schwere Teekiste. Ein arischer Arbeiter zu mir: „Das ist nichts für Sie, lassen Sie mich!“ Wenig später: „Nirgends unter den männlichen und weiblichen Bureau- und Fabrikleuten des Betriebs ist Antisemitismus zu spüren“[11]); und 1944: „Einzeln genommen sind fraglos neunundneunzig Prozent der männlichen und weiblichen Belegschaft in mehr oder minder hohem Maße antinazistisch, judenfreundlich, kriegsfeindlich, tyranneimüde ..., aber die Angst vor dem einen Prozent Regierungstreuer, vor Gefängnis, Beil und Kugel bindet sie“[12].

Max Krakauer, der mit seiner Ehefrau vom Januar 1943 bis zum Kriegsende mit Hilfe „arischer“ deutscher Bevölkerung in Berlin, Pom-mern und Württemberg sich durchschlagen und versteckt halten konnte, über seine Aufzeichnungen von dieser Verfolgung:

„Ihr Sinn ist es, zu zeigen, dass es in Deutschland jener Jahre, das sich dem außen stehenden Betrachter so ganz und gar im Gewand des Mörders präsentierte, noch eine ganze Anzahl von einzelnen Menschen, von Familien und Institutionen gab, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens und der Existenz ihrer Angehörigen, zum Teil unter Entbehrungen und Strapazen die Fürsorge von zwei von der Gestapo verfolgten und gehetzten Menschen auf sich nahmen ... Nie werden wir oder andere, die von dieser edlen Haltung wissen, ihnen unsere Rettung aus den Klauen der Schergen Himmlers lohnen können[13].

 

Statt weiterer Zitate nur dies aus der Würdigung Alfred Grossers[14]:

„Ein gutes, ein beeindruckendes, ein mutiges Buch. Der Autor ... hat sich die Mühe gegeben anzusammeln, was bis jetzt vernachlässigt oder verzerrt wurde, nämlich die jüdischen Berichte zum Verhalten der deutschen Bevölkerung gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern. Zwei Zitate mögen die Grundorientierung belegen. Unter dem Titel ‚Retter, die keiner mehr kennt’ schrieb Arnold Lustiger ...: ‚Sie bilden das unbezahlbar teure moralische Kapital des deutschen Volkes, mit dem aber sträflich nachlässig umgegangen wird. Diese ‚unbesungenen Helden’ hat die Furcht erregende Brutalität des NS-Regimes nicht von ihren Rettungstaten abbringen können’“.

Grosser zitiert dann die einem Widerstandskreis angehörige Journalistin R. Andreas Friedrich: „‚Wir, die wir im elften Jahr unter Hitlers Herrschaft stehen, haben wenig Grund, uns zu rühmen. Aber wenn Menschen ihr Leben eingesetzt haben für ihre jüdischen Brüder, dann sind es deutsche Nichtjuden gewesen. Hunderte, Tausende, Zehntausende, die täglich und stündlich ihren Kopf riskierten für ein paar armselige Brotmarken, ein vorübergehendes Notquartier ... Ertrotzt, trotz aller Verbote, Gesetze und Propagandabefehle’. Vor meiner Lektüre des Buches wusste ich seit je, dass es Hitler und Goebbels nicht gelungen war, den Judenhass zu verallgemeinern. ... Aber das Ausmaß der Hilfe und Sympathiebekundungen, das Konrad Löw darstellt, war mir unbekannt. ... Lebensmittelhändler, die geheim das Überleben ermöglichen, Krankenhäuser, die verbotswidrig behandeln, Lehrer, die jüdische Schüler gütig und verständnisvoll betreuen: die Darstellung der Helfer und der Hilfsleistungen ist beeindruckend. Und wie Recht hat Löw, die Autoren zu brandmarken, die bewusst die Wahrheit entstellt oder auch nur schlecht überdachte Behauptungen aufgestellt haben. Wenn jemand Klemperer erwähnt, um die Deutschen global zu verurteilen, und dabei nicht das geringste Zitat bringen kann, dann grenzt die Unterlassung an Fälschung ...“[15].

 

3. Den Worten Alfred Grossers bleibt wenig hinzuzufügen:

Die Behauptung deutscher Kollektivschuld verdient längst einen deutlicheren Widerspruch als man gemeinhin riskiert. Zwar wird sie rein verbal selten aufgestellt; umso unbedenklicher aber der Sache nach[16]: Was ist davon zu halten, wenn der unlängst noch als deutscher Außenminister amtierende Joschka Fischer verkündete: „Alle Demokratien ... haben eine Basis. Für Frankreich ist das 1789; für die USA die Unabhängigkeitserklärung ... Nun, für Deutschland ist das Auschwitz[17]; oder wie anders ist der öffentliche Triumphzug Daniel Goldhagens[18] („... in Deutschland geradezu masochistisch gefeiert“, Alfred Grosser) durch Deutschland - bis in die Schulen hinein! – zu erklären? Die Beispiele für einen Mangel an Differenzierungsvermögen oder –willen ließen sich fortsetzen – bis in die Gegenwart hinein. Und starre Geschichtsbilder können sich umso folgenreicher auswirken, je höher die Köpfe positioniert sind, in denen sie sich eingewurzelt haben[19].

Auch die Juden selbst, die in Deutschland leben, zumal aber jene, die nach 1945 hierher zurückgekehrt sind – wie beispielsweise das Ehepaar Käthe[20] und Fritz[21] Manasse -, haben einen Anspruch auf die nunmehr dokumentierte Vervollständigung zeitgeschichtlichen Wissens und Meinens. Denn sie müssen mit dem alten Vorwurf leben (von dem Nicht-Juden meist nichts wissen), nach der Nazizeit wieder ins „Land der Mörder“ oder „der Täter“ zurückgekehrt statt korrekterweise nach Israel, allenfalls in die USA oder sonst ein Ausland gegangen zu sein[22]. Wenn aber das Land der Rückkehr eines war, in welchem es unter den notorisch-grauenhaften Bedingungen auch Anstand, menschliche Solidarität und selbstlose Hilfe für verfolgte Juden gab, dann bleibt von der Durchschlagskraft selbstgerechter, zionistisch eingefärbter Vorwürfe nicht allzu viel übrig.

Konrad Löw besitzt einen ganz persönlichen Zugang zum Thema – d.h. auch einen spezifischen Grund zum Einspruch gegen die gängigen Rede- und Denkgewohnheiten: Als Katholik tief eingewurzelt in Tradition, Glauben und Milieu der kirchlichen Gemeinschaft, hat er katholischen Widerstand gegen die Nazis selbst erlebt, zunächst familiär, ihn dann aber auch außerhalb des engsten Kreises hundertfach bezeugt gefunden[23]. Das war kein lediglich subjektiver Eindruck: Wie viel weniger das katholische Milieu nazistisch verführbar war als das protestantische, zeigt schon die nüchterne Statistik der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932: je größer der katholische Bevölkerungsanteil, desto geringer der Anteil der NSDAP[24]. Viktor Klemperers Notizen quellen geradezu über von Bezeugungen der Anerkennung, der Achtung, ja der Rührung über Zuspruch und Hilfe, die er gerade von katholischer (oft dazu einfach christlicher, natürlich auch konfessionsloser) Seite selbst in schwerster Zeit bekommt, und gegen Ende seines Martyriums meint er, dies sei alles (für ihn, den Agnostiker) doch so viel gewesen, „dass wir eigentlich katholisch werden müssten“[25]. Die Quellen zeigten dann, dass Inkonformität mit der nazistischen Judenpolitik innerhalb der deutschen Bevölkerung über diesen Ausgangspunkt speziell katholischer Erfahrung weit hinausreichte.

Genug: Man muss das opus lesen, prüfen, auf sich wirken lassen – und es beharrlich ergänzen: um Befunde, die dem entsprechen, was Löw hervorhebt, gewiss auch um solche, die das Bild wieder trüben[26]. Den Saldo nämlich muss jeder, so gut er kann, schließlich selbst ziehen. Wie immer er aber ausfällt[27]: Konrad Löw hat sich um die geschichtliche Wahrheit verdient gemacht, indem er den Blick auf eine insgesamt düstere und schlimme Epoche deutscher Geschichte erweitert, differenziert und dadurch von Klischees befreit.

 

Günter Bertram


 


[1] München 2006, 381 Seiten, Euro 34,00.

[2] vgl. dazu MHR 4/2004, S. 42 ff: Bücherverbrennung 2004: Der Fall Konrad Löw, sowie 3/2005, S. 11 ff:
Die Unperson beim Festkommers.

[3] Wolfgang Benz im Deutschland Archiv 3/2004,
S. 475, Fn. 1).

[4] Victor Klemperer, geb. 1881 in Landsberg/Warthe (älterer Bruder des Dirigenten Otto Klemperer); Romanist, Professor, gest. 1960 in Dresden. Er wurde von den Nazis (obwohl protestantischer Christ) als Jude gepeinigt und verfolgt, gerettet letztlich durch die unerschütterliche Treue seiner christlichen Ehefrau Eva - und den alliierten Luftangriff auf Dresden, der den Zugriff der Gestapo in letzter Sekunde hinderte. Später ist er dem Publikum vor allem durch seine akribisch geführten Tagebücher der Jahre 1933 – 1945: „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ bekannt geworden.

[5] Benz aaO. (Anm. 2), S. 479 und Anm. 16.

[6] Dessen Titel „Das Volks ist ein Trost“ ist ein Zitat aus dem Tagebuch Jochen Kleppers vom 11. November 1938. Klepper – selbst christlicher Schriftsteller – wählte mit seiner jüdischen Frau und deren Tochter den Freitod, ehe die Gestapo auf die Familie zugreifen konnte. Auch seine Tagebücher sind erschütternde Zeitdokumente.

[7] Klemperer hatte seine Tagebücher schon 1918 begonnen; allein die der Jahre 1933 bis Mitte 1945 umfassen acht Bände, aus denen Löw für unterschiedliche Zeitpunkte der Verfolgung insgesamt hunderte
Zitate anführt. Klemperers „Tagebuch 1933 - 1945“ liegt in einer „Auswahl für junge Leute“ (in 7. Aufl. 2005, 7,95 Euro) als Taschenbuch vor, gut 200 Textseiten umfassend. Es enthält naturgemäß nur einen kleinen Teil der Löw’schen Zitate, immerhin auch davon einige wichtige. Der pädagogische Zuschnitt – vgl. insb. S. 227 mit einer speziell für die Antisemitismusfrage durchaus irreführenden Prämisse –
läuft freilich wohl auf die übliche, d.h. klischeehafte Auslegung hinaus.

[8] eindrucksvoll auch nach ihrer Zahl, z.B. Else Behrend-Rosenfeld, Werner Blumenthal, Inge Deutsch-kron, Elkan Wolf, Ludwig Feuchtwanger, Bella Fromm, Günther Ginzel, Gideon Greif, Kurt Grossmann, Hans Habe, Martin Hauser, Ruth Klüger, Max Krakauer, Edwin Landau, Joseph Levy, Gerhard Löwenthal, Arno Lustiger, Hertha Nathorff, Eva Reichmann, Hans Rosenthal, Karl Stern, Christine Zahn.

[9] Aus einer Goebbels’schen Notiz für Hitler (zit. bei Löw, aaO., S. 338 mit Fn. 657): „Die Einführung des Judensterns hat genau das Gegenteil von dem bewirkt, was erreicht werden sollte, mein Führer! Wir wollten die Juden aus der Volksgemeinschaft ausschließen. Aber die einfachen Menschen meiden sie nicht, im Gegenteil, sie zeigen überall Sympathie für sie. Dieses Volk ist einfach noch nicht reif und steckt voller Gefühlsduseleien!“ Diesem Befund entspricht, was die Jüdin Else Behrend-Rosenfeld damals notiert: „Wie reagiert die Bevölkerung darauf? Die meisten Leute tun, als sähen sie den Stern nicht, ganz vereinzelt gibt jemand in der Straßenbahn seiner Genugtuung darüber Ausdruck, dass man nun das „Judenpack“ erkennt. Aber wir erlebten und erleben auch viele Äußerungen der Abscheu über diese Maßnahme und viele Sympathiekundgebungen für uns davon Betroffene. ... Mir erklärten unser Metzger und unser Butterlieferant, dass sie uns nun erst recht gut beliefern würden; sie schimpften kräftig auf diese neue Demütigung, die uns angetan wird.“ (zit. bei Löw, aaO., S. 144).

[10] Nachw. bei Löw, aaO., S. 130

[11] Nachw. bei Löw, aaO., S. 164 f .

[12] Nachw. bei Löw, aaO., S. 167

[13] Nachw. bei Löw, aaO., S. 149

[14] Prof. Alfred Grosser, Paris, im Rheinischen Merkur vom 23.02.2006; ähnlich seine Worte bei der Präsentation des Buchs durch den Olzog-Verlag. Zuvor hatte er dem Autor gegenüber bedauert, keine Gelegenheit bekommen zu haben, ein Vorwort für dessen Buch zu schreiben: „Die ganze Anlage des Buches ist neu und mutig. Ich nehme an, dass Sie viel angegriffen und beschimpft werden. Nicht schlimm: Es ist immer gut, Wahrheiten darzustellen“. Tatsächlich ließ der erste Angriff nicht lange auf sich warten: Im „Parlament“ vom 13.03.2006 stand ein Verriss, von dem sich die Redaktion allerdings schon am 27. März ausdrücklich distanzierte und das Löw’sche Buch als gut und eindrucksvoll bezeichnete. Dazu wiederum die Jüdische Allgemeine Wochenzeitung vom 27.04.2006: Erst verrissen, dann verteidigt.

[15] vgl. dazu auch Grossers Ermordung der Menschheit. Der Genocid im Gedächtnis der Völker, München 1990.

[16] auch in der Alternativenbildung Tätervolk / Opfervolk liegt diese kollektive Schuldzuschreibung, der oft eine ebenso verfehlte pauschale Entlastung entspricht.

[17] zit. bei Löw aaO., S. 13

[18] Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, 1996; dem SPIEGEL vom 12.08.1996 (S. 42) ist zu entnehmen, dass Goldhagens ohnehin abwegige Thesen im US-Original noch absurder ausfallen (der Österreicher Hitler ist dort nur noch der Vollstrecker der das deutsche Volk beherrschenden Judenmord-Phantasien) und für den deutschen Markt erst noch geglättet worden waren. 2002 tritt Goldhagen mit dem Buch: Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne hervor; vgl. dazu die kritische Besprechung von Rudolf Lill in: Das Historisch-Politische Buch 51 (2003), 117 ff: Geschichtsforschung oder Geschichtspolitik? Auffälliger- und bezeichnenderweise werden Goldhagens „Willige Vollstrecker“ im Klemperer-Taschenbuch für junge Leute (oben Anm. 7) in den knappen Literaturhinweisen (S. 218) empfohlen, ohne dass der Bearbeiter H. Roth die kritische Literatur dazu auch nur erwähnt.

[19] Der auf Anhieb schwer zu entschlüsselnde Satz „Da die spezifische und über weitere Strecken düstere Historie Deutschlands es schwerlich erlaubt, als Rettendes die Nation ... zu beschwören, was denen überlassen bleibt, die immer noch vom Reich und seinen Herrenmenschen träumen, wird statt dessen unser kulturelles Erbe aufgefahren und zur ‚Leitkultur’ erklärt“ (vgl. FAZ vom 13.02.06: Gleiche Distanz zu allen Religionen), stammt immerhin von der Richterin am BVerfG Homann-Dennhardt und erlaubt die Vermutung, dass sie unter „Reich“ nur das sog. dritte versteht - also Nazismus, letztlich „Auschwitz“, die unsägliche Epoche deutscher Schuld schlechthin.

[20] Käthe Manasse - in memoriam”: MHR 3/1994, 9; vgl. auch MHR 2/2002, 5

[21]Rechtsanwalt Dr. Fritz Manasse wird hundert“: MHR 3/2004, 16

[22] vgl. z.B. neuerlich Jüdische Allgemeine Wochenzeitung vom 24.11.2005: „Auf gleicher Augenhöhe“ - Akzeptiert Israel Juden in Deutschland als gleichberechtigte Partner? Eine Tagung und viel Streit“, wo man liest: „Viele von ihnen plagten Schuldgefühle, weil sie die ‚falsche’ Heimat gewählt hatten. Die Israelis taten ihrerseits wenig, um das Selbstbewusstsein der deutschen Juden zu stärken.“ Das findet (im Umkehrschluß) seine Bestätigung, wenn der Direktor des American Jewish Congress (AJC) Harris es als spezielles Verdienst just seiner Organisation hervorhebt, "dass das AJC die einzige jüdische Organsation war, die nie darüber geurteilt oder es gar verurteilt hat, dass Juden nach der Schoa in Deutschland geblieben sind" (vgl. Jüdischen Allgemeine vom 11. Mai 2006: Interview).

[23] vgl. Klaus Kunkel (Hrsg.): Professor Dr, Konrad Löw, Köln 1987, dort z.B. S. 12 ff: Geprägt in der Zeit des Faschismus.

[24] vgl. Konrad Löw: Die Schuld – Christen und Juden im Urteil der Nationalsozialisten und der Gegenwart, 2002, dort Schaubilder S. 31. Anders als bei den Protestanten, deren Widerspruch zum Regime fast nur von der bekennenden Kirche kam, hat die katholische Kirche (trotz aller - in ihrer Bewertung teils strittigen Kompromisse -, zu denen sie sich gedrängt fühlte) den NS-Antisemitismus von Anfang bis Ende verurteilt und sich den „Arierparagraphen“ – anders als die „Deutschen Christen“, die ihn geradezu begierig übernahmen – niemals aufnötigen lassen.

[25] Nachw. bei Löw, aaO., S. 268, Fn. 389

[26] Die Notizen über menschliche Solidarität und Hilfe sind eingebettet in Schilderungen der Entwürdigung, Ausgrenzung und Vernichtung. Dies ist und bleibt ihr erstes Thema, auch in den von Löw angeführten Quellen, in denen es an verzweifelten Klagen über die „arische“ Umwelt natürlich keineswegs fehlt, auch nicht bei Klemperer. Dass die Nazis bei ihrem Machtantritt im Januar 1933 den Antisemitismus nicht erst erfinden mussten, liegt auf der Hand. Teils wurden jüdische Mitglieder aus Berufsverbänden, Innungen, Kammern, Vereinen usw. schneller ausgeschossen oder sonst marginalisiert, als die neue Obrigkeit dies verlangte. Was unsere eigene „Fakultät“ – die Juristen – betrifft, ist das Thema in den MHR mehr als einmal behandelt worden. Auf kirchlich-protestan­tischer Seite legten die sog. „Deutschen Christen“ einen antisemitischen Eifer übler Art an den Tag (dazu schon oben Anm. 22).

[27] Löw selbst zieht aaO. auf S. 340 f. ein Resümee in 20 Punkten. Ob, wieweit und evtl. mit welchen Einschränkungen oder Zusätzen man sein Fazit sich selbst zueigen macht, ist eine Frage, deren seriöse Beantwortung vertiefte Sachkenntnis erfordert. Zu deren Erwerb steuert sein Buch bisher Unvergleichliches bei.