„100 “ ist für einen Geburtstag keine alltägliche Ziffer, aber der Mann, der ihn still zu begehen (und nicht groß zu feiern) gedenkt, ist es ebenso wenig:
Fritz Manasse wurde am 3. November 1904 als Kind einer alteingesessenen jüdischen Familie in Dramburg/Pommern geboren (und als Pommer fühlt er sich heute noch). Er studierte die Rechte in Berlin, Breslau und wieder in Berlin, wo er 1929 am traditionsreichen Kammergericht die erste Staatsprüfung mit „gut“ ablegte. Dort leistet er auch seinen Referendardienst. Als er im Oktober 1933 zur zweiten Staatsprüfung antrat, waren die Nazis schon seit Monaten am Ruder und hatten alsbald damit begonnen, die deutschen Juden aus dem öffentlichen Leben zu verbannen – mit Herabwürdigung, Terror, Übergriffen[1] und auch - lange vor den berüchtigten Nürnberger Gesetzen vom September 1935 - durch gesetzliche Diskriminierung[2]. Der Prüfungskommission des Kammergerichts aber saß ein anständiger und mutiger Präsident vor, der dem jüdischen Kandidaten schon im Vorgespräch den diskreten Hinweis gegeben hatte, in der Kommission werde ein junger NS-Prüfungsbeisitzer als „Völkischer Beobachter“[3] mitwirken. Der freilich war dann darauf angewiesen, seine intellektuellen Defizite durch zeitgeistige Gesinnungstreue zu übertünchen, irrte über zutreffende Antworten auf eigene Fragen und handelte sich damit wiederholt den kühlen Hinweis des Präsidenten ein, hier habe der Herr Manasse Recht (später ist der tapfere Mann dem Vernehmen nach von den Nazis umgebracht worden). ...
Nach der mit „gut“ bestandenen Prüfung war Fritz Manasse klar, dass er im Deutschen Reich, solange Hitler an der Macht sei, keine Zukunft habe und die Zeichen auf Auswanderung stünden. Nun ging es ihm darum, möglichst schnell in Deutschland noch zu promovieren, was ihm als Landeskind allenfalls im pommerschen Greifswald damals möglich schien. Er reiste also mit einer schon fertigen Dissertation – über Rechtsfragen, die sich aus sozialpolitischen Notlagen in Berlin-Neukölln ergeben hatten – zum Dekan nach Greifswald. Dort, so hoffte er, werde man keine langen Umstände machen. Es ging nämlich die Rede, dass in Greifswald bei der morgendlichen Ankunft die Bahnhofsdurchsage laute: „Die Herren, die zur Promotion angekommen sind, werden darauf hingewiesen, dass für sie die Abendzüge heimwärts um ... auf den Gleisen ... abgehen!“
Aber zunächst war alles anders. Dem Ankömmling wurde eröffnet, er müsse, um zur Doktor-Prüfung zugelassen zu werden, erst einmal zwei Semester in Greifswald studiert haben. Der Dekan verschloss dann aber sein Ohr nicht der Not eines Juden, gab zwar zu bedenken, er selbst könne Ausnahmen nicht zulassen; wenn die Prüfungskommission ihn jedoch überstimme, werde er sich fügen. Das geschah dann prompt: Die entsprechenden Voten wurden flugs im Umlaufverfahren eingeholt. Und so konnte der junge Doktor der Rechte zwar nicht schon den Abendzug nehmen, aber doch bald einen anderen. ...
1935 ging Fritz Manasse zunächst nach Südafrika, von wo er 1938 nach Palästina
(damals britisches Mandatsgebiet) auswanderte. Dort, vor dem deutschen Konsul
(keinem Nazi, sondern einem gestanden-konservativen, vertrauenswürdigen
Beamten, wie der damalige Flüchtling sich heute noch erinnert) schloss er den
Ehebund mit seiner Freundin Käthe, einer Berliner Jüdin, der späteren
Hamburger Landgerichtsdirektorin Dr. Käthe Manasse, die den Lesern der MHR
keine Unbekannte ist[4].
Zwar war Käthe eine entschiedene Anhängerin des Zionismus, während er dieser
Bewegung skeptisch gegenüberstand. Aber mit dem Rabbinat als
Verwaltungsinstanz[5]
hatten beide nichts im Sinne und hielten es statt dessen mit der seit Bismarck
eingeführten deutschen Tradition der Ziviltrauung (und nahmen es hin, in den
Augen frommer Juden in wilder Ehe zu leben).
Mehr als zehn Jahre vergehen dann, bis das Ehepaar Manasse 1949 nach Deutschland (Hamburg) zurückkehrt. Voraufgegangen war ein hartes, entbehrungsreiches Leben in einem Land, dem ein Übermaß an deutschen Akademikern zugeflüchtet war, denen deshalb völlig Ungewohntes abverlangt werden musste. Jüdischer Witz ist ein scheinbar heiteres Gefäß auch bitterer Erfahrung: Frau Manasse pflegte den folgenden zu erzählen: Im Bus zwischen Tel Aviv und Haifa sackt einer ohnmächtig zusammen. „Ich komme schon, bin Arzt!“, ruft wer aus einer Bank; „Lassen Sie nur, ich bin auch Arzt!“, schallt es von einer anderen Stelle; und dergleichen Angebote folgen im Chor. „Unnötig!“, entscheidet der Busfahrer: „ich bin selbst Arzt!“ (Naturgemäß war der Bedarf an deutschen Juristen noch wesentlich geringer als der an Ärzten!). ... Trotzdem waren diese Sorgen und Nöte nur Nebensachen, denn die Angst um die Eltern und Angehörigen daheim[6] - die deutschen Juden - war das, was die Auswanderer umtrieb und ihnen die Kehlen zuschnürte. Die Schreckensbilanz, die später eröffnet wurde, schwebte damals noch als Sorge, böse Ahnung und dunkle Drohung über ihnen. Aber dann fielen auch ihre Familien, soweit im deutschen Reich verblieben, den „Aussiedlungen“ und dem Mord zum Opfer. ...
Die Manasses waren, wie weiter oben bemerkt, 1949 nach Hamburg zurückgekehrt, und der Ehemann schlug seine Praxis hier als Anwalt auf – und zwar als Einzelkämpfer, der er bis heute geblieben ist. Das heißt nun aber nicht, dass er eine von der Gesellschaft abgekapselte Existenz führt – ganz im Gegenteil. Er überhäufte sich (und wurde vor allem überhäuft!) mit einer Fülle von Aufgaben, Ämtern, Mitgliedschaften, Räten, Beiräten und Ehrenämtern, mit Gremienarbeit, war als Ratgeber gesucht und geachtet, so dass es wohl langweilen müsste, alles hergezählt zu bekommen. Es war ja auch ganz offensichtlich und leicht zu begreifen, dass nicht nur die Hansestadt Hamburg, sondern der deutsche Staat überhaupt sich froh und erleichtert darüber zeigten, dass ein vertriebener deutscher Jude zurückgekehrt war und hier, ohne sein Verfolgungsschicksal herauszukehren oder als Anspruch auf besondere Privilegien geltend zu machen, mit Rat und Tat beim Aufbau von Staat, Gesellschaft und Rechtsleben mitwirkte - wie er selbst zu sagen pflegte: schlicht als ein Preuße. Um drei äußere Akte zu nennen, die jedenfalls andeuten, was unentfaltet hinter ihnen steht: 1980 wurde dem 76-Jährigen das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen, 1985 das Große Bundesverdienstkreuz am Bande; 1991 ehrte der Hamburgische Anwaltverein ihn mit der Emil-von-Sauer-Medaille. Damals
im Plenarsaal des HansOLG saß er noch neben seiner Frau; drei Jahre später starb
sie im Alter von 89 Jahren; und seither schlägt er sich allein durch das Leben,
ist inzwischen vom Fahrrad abgestiegen, mit dem er jahrzehntelang von der
Gellertstrasse an der Außenalster ins Büro in der Altstädter Strasse geradelt
war, und nimmt nun die Taxe. Aber, soweit es die Gesundheit erlaubt (er zwingt
es ihr, mittlerweile an zwei Stöcken gehend, notfalls auch ab!), sucht er
werktäglich sein Anwaltsbüro - jetzt im Mühlenkamp 38 - auf und waltet seines
Amtes.
Die Luft wird dünn um den Menschen, der auf die 100 geht. Die Altersgenossen, die Freunde und vertrauten Kollegen sind lange dahin; und - jüdisches Schicksal - die verzweigte Familie ist von den Nazis ausgemordet worden. Wenn er selbst nun hundert wird, dann - um eine Anleihe beim preußischen Staatsphilosophen Immanuel Kant zu machen: - aus Pflicht und nicht aus Neigung. Warum die Natur das bisschen Radfahren dergestalt honoriere und ihn mit der schieren Endlosigkeit des Leben bestrafe, verstehe er nicht recht, habe es jedenfalls nicht beantragt und müsse diese Lebenspflicht wohl einfach hinnehmen. Aber wenn er gestorben sei, dann solle die Kapelle für ihn „muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus“ spielen, laut und kräftig, auch wenn dem Rabbiner das sicherlich missfalle. ...
Günter Bertram
[1] vgl. Sebastian Haffners Bericht aus seiner Referendarzeit 1933 am Kammergericht: MHR 2001, Heft 3, S. 8 ff.
[2] vgl. dazu die Textsammlung von Ingo von Münch: Gesetze des NS-Staates, Gehlen-Texte 2, Hamburg 1968
[3] ironische Verwendung des Titels eines NS-Blatts („Völkischer Beobachter“) zur Bezeichnung von Parteispitzeln
[4] vgl. MHR 1994 Heft 3, S. 9; auch MHR 2002 Heft 2, S. 5 mit ihrem Jugendbildnis
[5] Für das Familienrecht, auch den Eheschluss, war allein die jüdische Geistlichkeit – das Rabbinat - zuständig.
[6] Zur Emigration entschlossen sich in der Regel nur die jüngeren, aktiven Juden; die ältere Generation, durchweg im Reich fest verwurzelt, blieb und hoffte, im Kulturstaat Deutschland werde es so schlimm schließlich doch nicht kommen; man müsse die üblen neuen Gesetze nur treulich befolgen...: ein vieltausendfacher, furchtbarer Irrtum! vgl. nur die Tagebücher Victor Klemperers.