In unserem Mitteilungsblatt vom 15. Juni 1997 (MHR 2/97) hatte Heiko Raabe sich in ein Abenteuer gestürzt: Unter dem halsbrecherischen Titel "Für einen starken Staat ?", dessen Frageform ihn nicht mehr retten konnte, hatte er die seit den frühen 80er Jahren eisern praktizierte Hamburger Jugendpolitik als fragwürdig bezeichnet, soweit sie in dogmatischer Verhärtung über die evidente Kehrseite der - ersatzlosen! - Abschaffung geschlossener Heimplätze kühl hinwegging. Damals wurde das anrührende Schlagwort "Menschen statt Mauern!" aufgebracht - und in seinem Schatten hochdelinquente, schwer gestörte oder extrem gefährdete Kinder und Jugendliche ihrer Selbstdestruktion in ihren durchweg fatalen Milieus überlassen, sofern sie (oder ihre Eltern) nicht freiwillig von den rettenden Angeboten der Jugendhilfe Gebrauch machen wollten. Die Einzelheiten und Fallbeispiele brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Schon vor fast 20 Jahren hatte der von bedrückenden richterlichen Erfahrungen umgetriebene Kollege Rüdiger Sameluk - "von behördlichem Umgang mit gefährdetem Leben" (Mitteilungsblatt 3/1982) - ein paar der traurigen Resultate beschrieben. In alten Dokumenten unseres Richtervereins fand ich in einem Brief, den der Vorsitzende Makowka am 25. Mai 1981 dem Ersten Bürgermeister Klose geschrieben hat, den Satz: "... Nichts wäre schlimmer, als um der Erprobung eines abstrakten, in der Praxis noch nicht erprobten Prinzips willen junge Menschen - und mögen es nur wenige sein - der kriminellen Verwahrlosung und letzten Endes dem Strafvollzug anheim zu geben, vor dem wir sie gerade bewahren wollen ...".
Raabe, um auf ihn zurückzukommen, hatte seinen ebenfalls erfahrungsgesättigten Standpunkt nicht nur in den MHR, sondern auch sonst zum Besten gegeben, z.B. (aus Genossensicht: disziplinloserweise!) in Presseinterviews und hatte lebhafte Zustimmung geerntet, oft indessen (jedenfalls nach Meinung der Rechtgläubigen) von der leider "falschen Seite".
Ich selbst hatte mich, nebenbei bemerkt, gelegentlich, z.B. in einer Zuschrift an das Hamburger Abendblatt, im gleichen Sinne wie Raabe ausgelassen, was am 10.06.1997 mit leider entschärfenden Kürzungen (Weglassung kritisch - maliziöser Passagen zur Senatorin Rosemarie Raab. Aber: "Das Abendblatt und die Hamburger Obrigkeit" wäre ein neues, freilich nicht ganz unergiebiges Thema!) auch erschienen war.
Immerhin hatte diese Zuschrift ein paar Wellen in den Justizbetrieb zurückgeworfen: Zur fraglichen Zeit und danach hatte ich in der GS 27 das sog. Neuwiedenthal-Verfahren zu administrieren: ein etwas umfangreiches Jugendstrafverfahren mit etliche Angeklagten. Zu den Verteidigern gehörte auch Uwe Maeffert, und der veranstaltete alsbald einen seiner aufgeplusterten Wirbel. Er zog den erwähnten Leserbrief hervor, verlas ihn mit empörter Stimme, stellte ein paar rhetorische Fragen und lehnte den Vorsitzenden wegen Befangenheit ab: Voreingenommen gegen die Jugend, Scharfmacher ..., seinem Mandanten nicht zuzumuten. Damit konnte er zwar nichts werden, aber bekanntlich frisst jedes Ablehnungsverfahren Energien, Zeit und gute Stimmung, wobei hier der Mandant, ein junger Ausländer, von allem natürlich nichts begreifen konnte. Die Antragsverwerfung brachte - wen könnte es wundern - keine Abkühlung, der Anwalt hatte sich an der Sache festgebissen, fand alles unglaublich, skandalös und fuhr - in lustvoller Empörung - mit Ablehnungen und sonstigen Interventionen fort. ... Der Rest lässt sich jedenfalls im Ergebnis - in der vom Leben notwendigerweise abstrahierenden und es verfremdenden Sprache der Jurisprudenz - in der NJW 1998, 621 nachlesen.
Zurück zum kritischen Punkt der Hamburger Jugendpolitik: Das Thema: "Geschlossene Heime - pro und contra" hat die Gemüter seit Ende der 80er Jahre bewegt, mehr oder weniger heftig. Die Konjunkturen hängen, wie man weiß, auch mit der in ihrer Intensität schwankenden Hamburger Presseberichterstattung über Jugenddelinquenz und Kinderverwahrlosung zusammen. Aber bei manch' berechtigter Kritik an der Presse: Die Substanz dessen, was dort - zuweilen durchaus aufgebauscht, zuweilen sogar kampagnenhaft - berichtet und kommentiert wurde, pflegte die Presse nicht zu erfinden, sondern der Hamburger Wirklichkeit zu entnehmen. Trotzdem dürften die Medien der gelegentlich aufgekommenen Meinung Vorschub geleistet haben, das Fehlen geschlossener Heime sei der Grund für den - in bestimmten Deliktsbereichen - beunruhigenden Anstieg der Jugendkriminalität, sozusagen der archimedische Punkt, von dem aus alles kuriert werden könne. Das ist, um es kurz zu machen, angesichts der Komplexität vieler miteinander verschlungener Probleme abwegig. Das Thema ist aber auch nicht mit der Belehrung zu erledigen, dass es nur eines von vielen sei, zumal hinter und in ihm Vorurteile und Tabus liegen, die es einbetten in eine gegenüber Fakten nahezu resistente Ideologie:
Auch die Enquete-Kommission der Hamburger Bürgerschaft, der anzugehören ich, wie früher erwähnt (vgl. MHR 1998 Heft 3 S. 20 und Heft 4 S. 13), das Vergnügen hatte, konnte am Thema der geschlossenen Unterbringung nicht ganz wortlos vorbeigehen; sie hatte allerdings zunächst versucht, internen Streit durch eine Selbstbeschränkung auf eine reine Problemumschreibung ohne eigene Stellungnahme auszuweichen. Sie hatte diese Zurückhaltung dann schließlich allerdings selbst für zu dürftig gehalten und den Widerstreit der Meinungen offengelegt:
Das sachverständige Mitglied der Kommission Prof. Dr. Bernd Ahrbeck (Humboldt-Universität Berlin, Institut für Rehabilitationswissenschaften) entwarf den einschlägigen Teil des abweichenden Votums für den Schlussbericht unter dem Titel: "Bewertung des theoretischen Ansatzes der Jugendhilfe im Zusammenhang mit dem Umgang mit gefährdeten Kindern und Jugendlichen in den Hilfen zur Erziehung" mit dem Exkurs: "Verbindliche Unterbringen (sog. geschlossene Heime)". Das sind nur 18 von insgesamt ca. 350 Berichtsseiten: konzentriert und bündig in der Auseinandersetzung mit einer Standartargumentation, die sich z.B. auch bei uns in den MHR als Erwiderung auf die erwähnte Raabe'sche Intervention nachlesen lässt (vgl. MHR 1997 Heft 3 S. 11 ff.). Der kurze Text enthält die längst fällige Replik auf die sich ständig nur selbst reihum zitierende (sozusagen auf die eigenen Schultern klopfende) Literatur, die an der heutigen Lage längst vorbeischreibt und so tut, als müsse sie eine Bastion kritischer Vernunft vor Repression und erneutem "Kinderknast" errichten.
Das Ahrbeck'sche Fazit lautet schließlich:
"Festzuhalten bleibt: Die heutigen Einrichtungen mit einer verbindlichen Unterbringung (ergänze: die es in anderen Bundesländern gibt und über die sich die Kommission Informationen verschafft hatte) sind als pädagogisch - therapeutische Intensivabteilungen zu charakterisieren. Sie stellen bei guter Ausstattung und sorgfältiger Indikation ein ethisch verantwortbares, pädagogisch wirksames Hilfsmittel dar, das dringend benötigte Betreuungs- und Erziehungsaufgaben auch dann noch übernehmen kann, wenn dies anderswo nicht mehr möglich ist. Die Bedeutung einer zeitweisen Freiheitseinschränkung wird dabei nicht leichtfertig unterschätzt. Sie ist aber den zerstörerischen Folgen gegenüberzustellen, die sich aus extrem schädigenden Lebensrealitäten für Kinder und Jugendliche ergeben, wenn ihnen - wie bisher in Hamburg - notwendige und mögliche Hilfen verweigert werden. Dem radikalen, vor allem politisch motivierten Verzicht auf eine verbindliche Unterbringung kann nicht gefolgt werden. Die Einrichtung oder Nutzung einer begrenzten Anzahl von Plätzen mit verbindlicher Betreuung wird befürwortet" (vgl. S. 238 des Kommissionsberichts).
Bemerkenswerterweise haben von den neun Sachverständigen der Kommission sechs dem "abweichenden Votum" zugestimmt (davon drei der vier SPD- benannten Sachverständigen, wobei einer von ihnen seine Zustimmung auf den Grundsatz - mit juristischen Marginalien zu Einzelheiten - beschränkte), drei (1 SPD, 2 GAL) votierten dagegen, während die acht bürgerschaftlichen Mitglieder (4 SPD, 1 GAL, 3 CDU) mit 5: 3, also mehrheitlich - offenbar unerschütterlich der Fraktionslinie folgend - dagegen stimmten. Diese Zementierung bei den Abgeordneten kann einen Beobachter nur erstaunen, der sich daran erinnert, dass innerhalb der SPD etwa zur gleichen Zeit im Vorfeld des Landesparteitags vom April 2000 über Kriminal- und Jugendpolitik einschließlich der Frage nach "gesicherten Heimplätzen" zwischen sog. "rechten" und "linken" Kreisverbänden offen, lebhaft und durchaus kontrovers diskutiert wurde, und im übrigen Ortwin Runde schon zwei Jahre zuvor, bei der Eröffnung des 24. DJGT am 18.09.1998 dazu aufgerufen hatte, Tabus zu durchbrechen, mit einem "schleichenden Rückzug aus der Erziehungsverantwortung" endlich Schluss zu machen und auch den Grundsatz "Menschen statt Mauern" neu zu überprüfen. ...
Politik dort zu erleben, wo sie zwar sicherlich nicht entsteht, aber wo an ihr gehäkelt, gewebt und gesponnen wird - wo Pakete geschnürt, an Disziplin appelliert, Loyalitäten beschworen, wo vielleicht ja auch versprochen, gedroht oder gelockt wird: das ist zwar nicht immer erfreulich, aber stets interessant. Die Emquete-Kommission war, wie gesagt, personell so bunt gemischt und das ihr gestellte Thema ("Jugendkriminalität und ihre gesellschaftlichen Ursachen") derart allgemein, verwaschen und vor allem auslegungsbedürftig, dass der Streit spätestens um ihre Resultate von vorn herein unausweichlich war; und da ein Bericht von über 300 Seiten - sozusagen über Gott und die Welt - nicht jeden fasziniert, war es der oben skizzierte Streit in der Heimfrage (nachdem die CDU das interne Abstimmungsergebnis etwas vorzeitig nach außen hatte dringen lassen) auf den sich die Hamburger Medien begierig stürzten: Kann man's ihnen verübeln?
Sollte aber jemand den ganzen Report lesen wollen:
Er ist die Bürgerschaftsdrucksache 16/4000 vom 11.05.2000 geworden und kann - lt. Kleindruck daselbst -telefonisch unter 89 97 90 - 0 angefordert werden.
Günter Bertram
vgl. auch Aktuelles