(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/06, 25) < home RiV >
Verordnete Tugend:
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
I. Auf verschlungenen Pfaden ins Bundesgesetzblatt
Seit geraumer Zeit wirbt der Beck’sche Verlag in den juristischen Fachzeitschriften für seinen zum Herbst 2006 angekündigten umfangreichen (rund 450 Seiten) und nicht ganz billigen (ca. 50 Euro) Kommentar zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz - „Das Neue AntidiskriminierungsRecht“ (AGG). Die drei kommentierenden Rechtsanwälte werden als wissenschaftliche Kenner des verminten Terrains („Sie haben die Entstehung des AGG von Anfang an kritisch durch Publikationen und Vorträge begleitet“) und erfahrene Pfadfinder durch den Dschungel antidiskriminierungsrechtlicher „Spielregeln“ und verlässliche Ratgeber vorgestellt: Wie kann sich der Mensch demnächst noch gegen Verdacht und ruinöse Verdachtsstrafe wappnen, was sollte er dokumentieren, was wie sagen oder schreiben, was aber besser für sich behalten, welche Freundlichkeiten könnten sich unverhofft gegen ihn wenden? Wegen der Ratschläge dazu und hundert anderen Knifflichkeiten erscheint die Anlage von lediglich 50 Euro für das defense-training-Programm dann freilich doch als eine gut platzierte Investition - zumal für kleinere und Mittelbetriebe (große werden sich selbst zu helfen wissen). Es dreht sich in der Sache um Beratungsprozeduren, über die Olaf Scholz in der hier[1] schon früher erwähnten Bundestagsdebatte zum Antidiskriminierungsgesetz (ADG) vom 21.01.2005 gespottet hatte: „Wer so ist, wie wir alle sein wollen ... und wie ein anständiger Bürger sein sollte, der wird mit diesem Gesetz keine Probleme haben und braucht keinen Rechtsanwalt (Beifall bei der SPD ...). Es ist auch nicht notwendig, dass jetzt viele Unternehmen die teuren Seminare besuchen, die überall angeboten werden: „Wie bereite ich mich auf das ADG vor?“ Das ist verschwendetes Geld, das sollten die sparen (Beifall bei der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). Wer sich schon angemeldet hat, der sollte sich wieder abmelden. Das ist nicht notwendig. Wenn Sie einen Rechtsanwalt gefunden haben, der sagt, man müsse vorsorgen und dokumentieren ..., dann sollten Sie ihn auf Schadensersatz verklagen, weil er Sie falsch beraten hat ...“. In der Debatte hatte die damalige Opposition - wie später auch der Bundesrat[2] - versichert, keinem ADG zustimmen zu können, das über die schiere Eins-zu-Eins-Umsetzung der einschlägigen europäischen Richtlinien hinausgehe[3], und Norbert Röttgen (CDU/CSU) hatte die im Übrigen recht zahnlos-defensiv vorgetragenen Einlassungen seiner Seite immerhin richtig auf den Punkt zugespitzt: „Wir reden heute in dieser Debatte der Sache nach über ein Gesetz zur Bekämpfung der Vertragsfreiheit ... Sie legen die Axt an die Vertragsfreiheit in unserem Land ... darauf zielen Sie ab! ... Sie wollen sozusagen den freien Menschen überwinden zu einem guten Menschen. Was gut ist, bestimmt die rot grüne Regierung ... Kollege Scholz hat hier wörtlich gesagt ‚Wir’ – also Sie ... – ‚als anständige Bürgerinnen und Bürger ...’. Wer gibt Ihnen das Recht zu einer derartigen Hybris und Arroganz, wissen zu wollen, was für die Menschen gut ist und wie der Einzelne leben soll ...“[4].
Das alles galt ein Jahr später als gestrichen, ausgelöscht, ungesagt – oder war verdrängt worden: Ende Juni 2006 saßen Scholz und Röttgen einträchtig beieinander und suchten nach retuschierenden Formeln, die ihren Fraktionen – der CDU/CSU zumal! - das neue „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ (wozu das alte Projekt flugs umgetauft worden war: nun also „AGG“ statt „ADG“!) schmackhaft machen sollten[5]. Inzwischen hatte ja eine Große Koalition im Berliner Reichstag Platz genommen, die sich in ihrem Vertrag vom 11. November 2005[6] allerdings mit der knappen Bemerkung „Die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien werden in deutsches Recht umgesetzt“[7] auf die alte restriktive CDU-Linie geeinigt zu haben schien. Man konnte zunächst auch vermuten, dass die SPD die Beschränkung (zurück zu den EU-Vorgaben!) nicht als eigenes Opfer empfand, weil die überschäumende Antidiskriminierung weniger ihre eigene Sache als ein ihr aufgedrängtes „grünes“ Lieblingsprojekt gewesen war[8]. Aus Gründen indessen, über die sich nur spekulieren ließ, verlangte die SPD dann aber, beim alten Entwurf der Regierung Schröder/Fischer zu bleiben, und aus Motiven, die noch viel rätselhafter erscheinen, setzte die CDU/CSU all’ ihren Reden und Erklärungen zum Trotz diesem Ansinnen keinen ernsthaften Widerstand entgegen[9]. Nur Bundespräsident Köhler hatte sich den Einwurf erlaubt, er halte es für fragwürdig, in Deutschland nun all’ die „neuen bürokratischen Hemmnisse“ , die das AGG erfindet, „aufzubauen“[10], musste aber den postwendigen Rüffel des grünen Volker Beck einstecken, ein Gesetz, das die Rechte von Behinderten[11] und Homosexuellen schütze, solle ein Bundespräsident nicht kritisieren[12]. Der Schlussgalopp dieser Gesetzgebung bis zur – offenbar widerwilligen – Unterzeichnung durch den Präsidenten war chaotisch verlaufen: Nachdem aus optischen und Prestigegründen (Grundsätze hatten schon längst nicht mehr zur Debatte gestanden) einzelne Worte, Zahlen, Fristen oder Halbsätze schnell geändert worden waren[13], hatten die Beteiligten selbst den Überblick verloren. Die Sprecherin des BMJ sprach von „kleineren redaktionellen Ungenauigkeiten“, verursacht durch „Eile und Hektik der Tage vor der Verabschiedung“, die man auch im Hause Zypries übersehen habe, deren wegen man jedoch keinesfalls „das Fass wieder aufmachen“ werde, zumal sie durch spätere Novellen ausgeräumt werden sollten, an denen das Haus bereits arbeite[14]. Obwohl es durchweg bei der Überbietung der Europavorgaben geblieben war, kam schließlich auch noch die Frage auf, ob das Gebot der Richtlinien jetzt etwa punktuell auch unterschritten sein könnte. „Im Zweifel müssen die Richter die Bestimmungen eben europarechtskonform auslegen“, ließ das BMJ dazu verlauten[15].
Nach allem lässt sich vermuten, dass im Herbst dieses Jahres einige Exemplare des eingangs genannten Kommentars auf den Schreibtischen der Ministerialreferenten liegen werden, die zu ergründen haben, was der Gesetzgeber ein paar Monate zuvor beschlossen oder gemeint hatte, hatte beschließen wollen oder gerade weder sagen noch im Gesetz offenbaren wollte, und wo und wie nun wieder ergänzt, nachgebessert, geflickt oder geglättet werden müsse. Dass auch Abgeordnete sich dann noch für ihre alten – flugs durchgewinkten - Texte interessieren könnten, wird man allerdings kaum erwarten dürfen.
II. Alter Wein im neuen Schlauch
Wenn dieses Mitteilungsblatt in Fächern oder Briefkästen liegt, wird der vom Bundespräsidenten am 14.08. d.J. unterzeichnete Gesetzestext schon seit geraumer Zeit als Sonderdruck (AGG nebst zwei weiteren Artikeln mit vielen Seiten Begründung) den juristischen Fachzeitschriften (z.B. NJW 2006, Heft 36) beigelegen haben. Es ist unmöglich, dieses legislative Produkt hier inhaltlich zu skizzieren, geschweige denn angemessen zu kommentieren. Aber das wird in der Fachliteratur – nicht nur in der arbeitsrechtlichen - bald erfolgen, wobei zur schon aktenkundigen Kritik mangels echter Neuerungen wenig grundsätzlich Neues nachzutragen sein wird[16]. Hier nur ein paar lose hingestreute Bemerkungen, die freilich auch nicht im luftleeren Raum – ohne sachliche Prämisse - schweben dürfen:
AGG § 1 nennt als Ziel des Gesetzes, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse
oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder des sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“.
Was heißt „Benachteiligung“? Dieser Begriff wird zu Untergruppen zerlegt als (1) unmittelbare - und (2) mittelbare Benachteilung sowie (3) Belästigung:
§ 3
(1) Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde ...
(2) Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.
(3) Eine Belästigung ist eine Benachteiligung, wenn unerwünschte Verhaltensweisen, die mit einem in § 1 genannten Grund im Zusammenhang stehen, bezwecken oder bewirken, dass die Würde[17] der betreffenden Person verletzt und ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird.
Man kann darauf wetten, dass allein schon diese bemerkenswerten „Definitionen“ für unendlichen Streit sorgen werden.
Der Anwendungsbereich des Gesetzes ist weitgreifend, aber ausgesprochen unklar geregelt; auch darüber wird Streit entstehen: Dass es sich hier keineswegs um eine bloße Erweiterung des zunächst gegen den Staat gerichteten Art. 3 (3) GG (im Sinne einer dem deutschen Recht durchaus geläufigen Grundrechtsdrittwirkung) handelt, sondern um viel mehr – eben dies war die Geschäftsgrundlage des ganzen Unternehmens, die schon wegen diverser EU-Richtlinien (RL), die in der Begründung dann auch ausufernd beschworen werden, als unerschütterlich galt[18]. Doch die Erstreckung ins Privatrecht geht über die RL weit hinaus (vgl. § 19: Zivilrechtliches Benachteiligungsverbot). Wegen just dieses Überschusses hatte die SPD sich im Januar 2005 noch besonders gerühmt[19], hängt dies jetzt aber, wohl zur Schonung des gegenwärtigen Koalitionspartners, nicht mehr an die große Glocke.
Nach der Grundkonzeption des AGG ist das Privatrecht den Diskriminierungsverboten schlechthin unterworfen. Es wird aber insoweit aus ihren Fesseln wieder befreit, als der Gesetzgeber sich bereit erklärt, darauf zu verzichten, bestimmte, zumal persönliche Lebensbereiche zu reglementieren, vgl. etwa
§ 9 (4): keine Anwendung auf familien- und erbrechtliche Schuldverhältnisse
oder
§ 9 (5): keine Anwendung auf zivilrechtliche Schuldverhältnisse, bei denen ein besonderes Nähe- oder Vertrauensverhältnis der Parteien oder ihrer Angehörigen begründet wird. Bei Mietverhältnissen kann dies insb. der Fall sein, wenn die Parteien oder ihre Angehörigen Wohnraum auf demselben Grundstück nutzen ...“.
Im Übrigen werden in unterschiedlichen Zusammenhängen - mit Ausnahmen, Gegenausnahmen und sonstigen Klauseln (auch schon bei den einzelnen Diskriminierungsmerkmalen) - Einschränkungen gemacht oder erlaubt, vgl. z.B. nur § 8, Ziffer 1:
Eine unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 genannten Grundes ist zulässig, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit ... eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist.
So hat der Gesetzgeber - unter Rückgriff auf unterschiedliche Regelungsfiguren – zahlreiche Ausnahmen, teils freilich auch nur als unbestimmte Möglichkeiten in seinen Text geschrieben, durch die er zu vermeiden trachtet, dass ganz offensichtlich groteske Folgen eintreten, zu welchen eine rigide Durchsetzung seines Konzepts würde führen müssen. Im Ergebnis bleibt es dann also bei der Zulässigkeit von Seniorentellern (Alter!), Frauenparkplätzen und –badetagen, Männerchören, Kindermädchen (Geschlecht!), Kinder-Rabatte (Jugend) usw. Über den Grundsatz aber sollten auch hundert Ausnahmen nicht täuschen: allen Regeln der Auslegung und Logik zufolge bestätigen sie ihn ja gerade! Auch die Begründung zum AGG spricht Bände, wenn es dort z.B. unter „Schutz vor Diskriminierung im Zivilrecht“ heißt: “Zum Grundkonsens der Bundesrepublik Deutschland gehört es, dass bestimmte Unterscheidungen auch im Bereich des Privatrechts ... als unerwünscht gelten können.“ Nach Aufzählung zivilrechtlich längst bestehender deutscher Diskriminierungsverbote: „Das geltende Recht vermag aber nicht auf alle Fälle sozial nicht erwünschter Unterscheidungen angemessen zu reagieren“.
Das sagt eigentlich alles: Wer bestimmt denn, was als „sozial erwünscht“ gilt? Sollte eine freie Gesellschaft darüber nicht in freier Diskussion mit Rede und Gegenrede verhandeln, schreiben - und notfalls entscheiden, soweit das wirklich nötig ist? Denn auch Meinungsunterschiede, ja Meinungskämpfe – gerade sie! – sind das Herzstück einer liberalen Gesellschaft. Indessen ist es damit bei uns (bei uns, wie auch anderswo!) schon längst nicht mehr allzu weit her. Und die Kräfte, die jetzt dabei am Werke sind, werden von Adomeit in seinem Juli-Kommentar[20] („Political correctness – jetzt Rechtspflicht“) wohl richtig beleuchtet. Denn es wird im AGG-Streit in aller Regel um (wirkliche oder behauptete) inkorrekte Motive, Gründe, Gesinnungen, Präferenzen, Zu- oder Abneigungen usw. gehen, die sich der in Anspruch genommenen Seite schon auf Grund äußerer, oft unstreitiger oder offensichtlicher Umstände (dazu gleich!) unterstellen lassen. Ein Ungeist, der schon den einschlägigen EU-RL aus allen Poren quillt [21].
Erst die Moral, aber dann steht natürlich viel Geld zur Debatte - der Ersatz materiellen und immateriellen Schadens (§§ 15 f., 23), wobei das Gesetz in § 15 II S. 2 sogar das unsinnige Querulantenprivileg des deutschen Arbeitsrechts (§ 611 a I S. 3 BGB) für sämtliche Tatbestände übernimmt.
Über „Diskriminierung oder nicht“ ist also endloser Streit zu erwarten. Wer muss dann beweisen? Allgemeinen Rechtsgrundsätzen nach müsste es der Angreifer, der auf das AGG pocht. Indessen wird diese Prämisse umgedreht:
„Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß ... vorgelegen hat“ (§ 22 AGG).
Diese verfehlte Regelung[22] innerhalb eines ohnehin verfehlten Normengefüges wird sicherlich zahllose speziell darauf zugeschnittene „defense trainings“ unter Anleitung spezialisierter Rechtsanwälte nach sich ziehen. Diese werden wohl ganz überwiegend auf Seiten der Verdächtigten stehen – nicht auf der anderen, was deshalb zu vermuten ist, weil Anwälte dort kaum benötigt werden.
Für Benachteiligte sorgt das Gesetz nämlich anders: Es verweist sie an (bemerkenswert unscharf definierte[23] „Antidiskriminierungsverbände“ (§ 23), denen es gestattet, ihre Klientel auch vor Gericht zu vertreten. Diesen Verbänden stellt der Staat noch eine öffentliche Antidiskriminierungsstelle zur Seite (§§ 25-29), keineswegs nur als Klagemauer, sondern zur umfassende Unterstützung bei ihrer Interessenverfolgung und als ein großes Netzwerk, das alle verknüpfen soll, die sich auf Landes-, Bundes- oder EU-Ebene der Antidiskriminierung verschrieben haben. Öffentlichkeitsarbeit, Prävention und wissenschaftliche Recherchen gehören auch ins Programm (§ 27 (3) Zi. 1.-3.); Personal- und Sachmittel im ersten Etat 5,6 Mio. Euro. Ein Beirat (§ 30) krönt das ganze – eine bürokratische Großagentur mit tausend Augen und Tentakeln, die dem Bundespräsidenten offenbar schon aus wirtschaftlichen Gründen unheimlich geworden war. Diese Aversion ist nur allzu berechtigt. Staatliche Tugendaufsicht, wie das AGG sie verordnet, und die angesichts ihrer bürokratischen Organe so augenfällig wird, dürfte darüber hinaus aber und vor allem den unheilbaren Makel – jedenfalls deutscher! - Verfassungswidrigkeit tragen.
III. Die Kehrseite der Medaille: Privilegierung
Unlängst erhob sich die Frage, ob eine Stellenanzeige mit dem Hinweis „Raucher brauchen sich gar nicht erst zu bewerben“ die ausgeschlossene Personengruppe nicht diskriminiere. Dergleichen verstoße nicht gegen das europäische Diskriminierungsverbot, kam schon anderntags der Bescheid aus Brüssel[24]. Ein paar Stunden später aber erklärte der dortige Sozialkommissar Spidla, der Fall sei rechtlich doch fragwürdig, denn die EU sei natürlich gegen jede Form von Diskriminierung; allerdings habe sie ihre einschlägigen Richtlinien auf gewisse Merkmale beschränkt[25]. Der Fall ist deshalb interessant, weil er die grundsätzliche Willkür der Brüsseler Regeln blitzartig beleuchtet. Warum die Merkmal a–c–e und nicht (oder nicht auch noch) b–d–f? Wie steht es mit Trinkern oder Übergewichtigen? mit Kinderreichen? Und auch dies: Wer kein (oder das falsche) Parteibuch besitzt, hat bekanntlich an bestimmten Orten kaum noch eine faire Chance, wird also wirklich diskriminiert (während für die AGG-Merkmale selbst Frau Zypries solches früher bezweifelt hatte, vgl. oben Fn. 7). Schon vor Jahren hatte Ingo von Münch angemerkt[26], die schlimmste Verletzung des Gleichheitsgebots – nämlich die Ämterpatronage – werde von den Protagonisten eines Antidiskriminierungsgesetzes noch nicht einmal thematisiert: „warum nicht?“ Die Antwort führt zum Kern der Sache, den der Streit um Begriffe noch nicht erschließt: Der Zweck dieser Übung[27] - der einschlägigen EU-RL also und des AGG - liegt in der Durchsetzung von Privilegien; Gruppen- und Verbandsprivilegien. Den Merkmalen des § 1 AGG lassen sich teils auf Anhieb Gruppen, Verbände, Netzwerke usw. als Interessenvertreter zuordnen (etwa der Homosexuellen, Alten, Behinderten, Zuwanderer), teils muss man genauer zusehen. Allgemeine Begriffe wie z.B. Rasse, Religion/Weltanschauung treffen auf jeden zu, aber jedermann kann schwerlich gemeint sein. Das führt zurück auf § 23, nämlich zu den etwas undefinierbaren Antidiskriminierungsverbänden, deren Einfluss als Lobbygruppen (den sie längst schon auch in Brüssel ausüben) sich kaum überschätzen lässt und die dafür sorgen werden, dass die Begriffe des AGG in ihrem Sinne zugespitzt und praktiziert werden, wobei sie die staatliche Antidiskriminierungsstelle vermutlich binnen kurzem ins Schlepptau nehmen werden. Da dieser Prozess im engen Einvernehmen mit der Politik verläuft und betrieben wird (die beiderseits Agierenden oft auch identisch sein dürften), wäre es natürlich unklug und schädlich, politische Funktionsprinzipien, zu denen die Ämterpatronage nun einmal auch gehört, infrage zu stellen.
Wem mit solcher Hilfe die Aufnahme in den Kreis derer gelungen ist, die im Streitfalle bis zum Beweis des Gegenteils als diskriminiert gelten, genießt der undefinierten Menge gegenüber ein goldwertes Privileg; er ist „gleicher“ als alle anderen.
Am AGG – so das Fazit dieser Überlegungen - ist nahezu alles fragwürdig; und jene Leute sind zumindest naiv, die eilfertig versichern, das Projekt sei zwar nicht gut gelungen, aber immerhin gut gemeint. Das Gegenteil trifft zu: den Gesetzgebern ist es hervorragend gelungen, ihre parteiliche Meinung zur allgemeinen Norm zu machen. So stellt ja schon der Name „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“ die Wahrheit genau auf den Kopf.
Günter Bertram
[1] 152. BT-Sitzung, 15. Wahlperiode, Drucks. S. 14258; Auszug in MHR 2/2005, 34, Fn. 7.
[2] Er war am 08.07.05 in diesem Sinne dem Gesetz mit einer feierlichen Entschließung entgegengetreten (Drucks. 103/05).
[3] Von der Verbindlichkeit dieser „europäischen Vorgaben“ gehen alle BT-Fraktionen aus - eine fragwürdige Prämisse, wie ich MHR 2/2005, 34 versucht hatte darzutun. Die Replik von Petzold u.a. (MHR 3/2005, 20) trifft den entscheidenden Punkt nicht, wozu ich mich ganz kurz fassen muss: Dass EU-RL auch unter deutscher Mitwirkung zustande kommen, wie dort geschildert (S. 21 ff), stimmt natürlich. Schon die These indessen, dies gewährleiste, dass RL „einer klaren Kosten-Nutzen-Rechnung“ entsprechen, trifft zwar sicherlich im Allgemeinen, nicht aber auf die konkreten RL zu. Diese dürften ganz maßgeblich auf der Interessendurchsetzung von Gruppen, Netzwerken und Lobbys beruhen, die im AGG (§ 23 (Unterstützung durch Antidiskrimierungsverbände) zwar etwas beiläufig, aber immerhin ausdrücklich ins normative Programm aufgenommen werden. Gegenüber dieser sozialen, politischen, realen Dynamik ist die formale Mitwirkungsstruktur nachrangig, auf die Petzold u.a. hinweisen. So interessant das ist, hier kommt es darauf noch nicht einmal an. So wichtig Realfaktoren sein mögen, hier sind sie nicht das Thema. Denn die Frage nach der Substanz nationaler Mitwirkung (zu letzterer hat der Diskurs des BVerfG. mit berufenen Parlamentariern über das Europäische Haftbefehlsgesetz ernüchternde Befunde an den Tag gebracht: vgl. NJW 2005, 2289 ff) und ihren Antriebskräften ist eine durchaus andere als die von mir gestellte nach der speziellen Kompetenz Brüssels zum Erlass dieser RL. Eine Antwort hierauf kann ich nicht entdecken.
[4] aaO. (Fn.1), S. 14272 f.
[5] z.B. FAZ vom 28.06.06, Johannes Leithäuser: Kompromisse häppchenweise – Wie das Gleichbehandlungsgesetz mit der Föderalismusreform zusammenhängt
[6] „Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit“
[7] dort Abschnitt III, Ziff. 2 („Rechtspolitik“), Nr. 3: „Für Selbständigkeit und Toleranz“
[8] Wolfgang Clement hielt das ganze Unternehmen für absurd. Aber auch Ministerin Zypries bezweifelte Sinn, Wert und Legitimität des Projekts: „Wo und in welchem Umfange kommen diese Diskriminierungen tatsächlich vor? Darüber wissen wir fast nichts“; das geltende Recht genüge. Im Übrigen müsse eine liberale Gesellschaft „einige Verhaltsweisen hinnehmen, die ein vernünftiger Mensch für dumm oder gar borniert hält“ (FAZ vom 12.05.2006: Antidiskriminierung mit Augenmaß). Sie erinnerte an Montesquieu: „Wo es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, ist es notwendig, kein Gesetz zu machen“ (vgl. FAZ v. 12.05.06: Vorwärts ins Mittelalter).
[9] vgl. nur FAZ vom 17.06.06: „Mehr Rechtsunsicherheit, mehr Prozesse, - Kritik der Union am AGG im Bundesrat.
[10] FAZ vom 9. und 10.06.06
[11] näher zu diesem speziellen Gesichtspunkt vgl. MHR 2/2005, 35, Fn. 7.
[12] FAZ vom 09.06.06: Präsidentenkritik
[13] FAZ vom 21.06.06: Bundestag in der Ratifizierungsfalle
[14] vgl. FAZ vom 03.08.06: Redaktionelle Ungenauigkeiten - noch vor dem Inkrafttreten des AGG kündigt die Regierung Änderungen an; FAZ vom 17.08.06, Reinhard Müller: Das AGG tritt trotz rechtlicher Unklarheiten in Kraft.
[15] FAZ v. 29.06.06: AGG bringt schon wieder Ärger; vgl. generell auch Hirsch, ZRP 2006, 161: „Zwischenruf - Der Richter wird’s schon richten“. Hirsch ist als BGH-Präsident gewiss leidvoll vertraut mit einem „Gesetzgeber, der es den Richtern überlässt, seine Gesetze ‚handhabbar’ zu machen“.
[16] vgl. nur die schon in MHR 2/2005, 34, Fn. 6, bezeichnete Literatur, deren kritische Argumente – immer wieder aktualisiert – weiter gelten und jetzt natürlich auf gesteigertes Interesse stoßen werden; vgl. nun die einschlägigen Aufsätze in NJW Heft 36/2006 sowie NZA Heft 15/2006.
[17] Hier wird der Begriff der „Würde“, der - wie in der „Daschner/Folter-Diskussion“ von der h.M. hervorgehoben (vgl. z.B. MHR 3/2005, 14, MHR 2/2003, 6) - absolut, also ohne jede „Relativierung“ gelten soll, zur Abgrenzung zwischen unerfreulichen Alltagsbagatellen und diskriminierenden (also schon tatbestandsmäßigen) Rechtsverstößen benutzt. „Das Verhalten muss aber andererseits auch nicht die Qualität einer Verletzung der Menschenwürde i.S. des Art. 1 GG erreichen“, versichert die Gesetzesbegründung zu § 3 Abs. 3. Auch hier ist alles aus dem alten Antidiskriminierungsmaterialien einfach abgeschrieben worden, so dass nach wie vor die hierauf gemünzte ironische Glosse von Georgs im NJW-Editorial 10/2005 zutrifft: „Große und kleine Würde“.
[18] s. dazu oben Fn. 3
[19] vgl. die Debatte vom 15.01.05, zu ihr MHR 2/2005, 34
[20] NJW 2006, 2169; ders. FAZ v. 03.07.06: Auf Biegen oder Brechen
[21] vgl. z.B. nur MHR 2/2005, 34, Fn. 11
[22] gelegentlich wird als Beleg für die Normalität dieser Regel auf § 611a I S. 3 BGB hingewiesen, vgl. Begründung zu § 22. Das besagt natürlich nichts, denn die irreguläre Arbeitsrechtsnorm, die übrigens der EU-RL Nr. 76 vom 09.02.1976 zu verdanken ist, hat im Wesentlichen nur Querulanten zu Klagen beflügelt. Und einer verfehlten Norm ein erweitertes Wirkungsfeld einzuräumen, ist ebenso verfehlt..
[23] Maßgebend ist nach der Begründung zu § 23 das Engagement für solche Gruppen, die in § 1 geschützt werden. „Wegen der großen Heterogenität der in Betracht kommenden Verbände ist es nicht zweckmäßig, ein zentrales Anerkennungsverfahren zu regeln“; sie müssen nur jedenfalls 75 Mitglieder haben.
[24] vgl. FAZ vom 08.08.06 „Raucher dürfen diskriminiert werden“, „Firmen dürfen Raucher bei Bewerbungen ablehnen“ und „Verbotene Raucher“.
[25] FAZ vom 09.08.06: Diskriminierung von Rauchern ist rechtlich bedenklich – EU-Kommission doch gegen Benachteilung.
[26] NJW 1999, 260 (262): Antidiskrimierungsgesetz – notwendig oder überflüssig?
[27] Es dreht sich hier nicht um die von Art. 3 GG ausstrahlenden Diskriminierungsverbote, die im deutschen Recht längst fest verankert sind. EU-Kritiker haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Brüsseler RL-Produzenten und ihre auch deutschen Gefolgsleute von der hier längst bestehenden Rechtslage keine ernsthafte Kenntnis nähmen.