(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/03, 6) < home RiV >

Rettung und Folter

– ein schiefes Paar

 

 „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, sagt der Volksmund, und kein Mensch würde sich heute den Kopf über Polizeifolter in Deutschland zerbrechen, wenn man nicht in Frankfurt und anderswo, aus Anlass des Falles Metzler – diese Maxime so lautstark verletzt hätte. Eine Maxime, aus deren Befolgung in diesem Falle keineswegs Zynismus spräche, und zwar deshalb nicht, weil es in Deutschland keine polizeiliche Folterpraxis gibt, deren Vertuschung durch Schweigen zu beargwöhnen wäre. Die Gründe, die gegen Debatten auf dem Marktplatz sprechen, sind andere – aber dazu später.

I.

Da die Reden nun aber im Gange sind und sowohl der DRiB – wie immer man den Anlass speziell dafür bewerten will[1] – als auch die Landesverbände sich in die Diskussion eingebunden sehen, ist unserem Kollegen Johann Meyer zu danken, dass er sich in den MHR 1/2003 zu Wort gemeldet und sein Statement auf die plakative und rundum konsensfähige Formel: „Keine Folter ... !“ gebracht hat. Allerdings drückt das Statement – für das er das Schlagwort, unter dem alles läuft, unvermeidlicherweise übernehmen musste  – zunächst eine schiere Selbstverständlichkeit aus; denn wer wird dem Satz schon widersprechen wollen? „Folter“ ist an sich schon – sozusagen definitionsgemäß! - ein grausames, abscheuliches, ja: sadistisches Marterinstrument aus den Schreckenskammern der Inquisition, deren technische Einfälle man gelegentlich in Ausstellungen mit Schaudern sieht, die dann aber auch in den Folterkammern der Neuzeit praktiziert und vervollkommnet wurden und werden – zwecks Eliminierung politischer Gegner von Gestapo, NKWD, GPU usw., bis zuletzt noch im Irak Saddam Husseins und anderswo – weltweit und ohne Ende! Wie sollte sich dergleichen mit einer auch nur halbwegs seriösen Rechtsordnung vertragen? Mithin natürlich: „keine Folter!“ – und es will schon rein verbal als widerspruchsvoll scheinen, an eine Rechtfertigung derartiger Praktiken auch nur im Einzelfall zu denken – so abwegig wie etwa die Rede von einem rechtmäßigen Verbrechen!

Wenn man sich also für die Erörterung der jetzt aktuellen Fälle[2] auf den Begriff der Folter einlässt, wird man sorgfältig im Auge behalten müssen, wovon – genau! – die Rede ist: der Anwendung von generell unzulässigen, anrüchigen, ja: brutalen Vernehmungsmethoden - allerdings jetzt mit dem alleinigen, ausschließlichen Ziel, eine Lebensgefahr abzuwenden[3], die der polizeilich irgendwie unter Druck Gesetze zuvor herbeigeführt hatte, und die er nun, wie man hofft, durch abgenötigte Offenbarung (z.B. des Opferverstecks) noch soll abwenden können und müssen[4].

Die Angelegenheit ist also von einer gewissen Komplexität, und Herr Meyer wird ihr auch durchaus gerecht, indem er den Grundsatz „Unsere Rechtsordnung verbietet ohne Einschränkung den Einsatz von Maßnahmen, die einer Folter gleichkommen“[5], später durch die Bemerkung „...die schwierige Frage, ob es von diesem Grundsatz im Einzelfall Ausnahmen geben kann, muss ... die StA Frankfurt beantworten“, wieder einschränkt[6].

II.

Hier ist nicht der Ort, die weitläufig und unübersichtlich gewordene Debatte aufzugreifen[7], nur ein paar Randbemerkungen seien gestattet:

Just die engagiertesten Kritiker des Frankfurter Polizeipräsidenten Daschner zeigen sich darüber alarmiert und erschüttert, dass die Bevölkerung in dieser „aufgeheizten öffentlichen Diskussion“, die auf „populistischen Wellen“[8] heranreitet, weithin Verständnis, ja geradezu Sympathie für die jetzt ins Spiel gebrachte „zivilisatorische Regression“ (Heribert Prantl, SZ) an den Tag lege und eine so „erschreckende Diskussion“ in Gang gekommen sei, dass nunmehr „Schluss der Debatte“ sein müsse[9]. Es fehlt auch nicht an der Diagnose eines rapiden Werteverfalls: denn nach einer Forsa-Umfage zeigten 63% der Befragten Verständnis für das Vorgehen der Frankfurter Polizei, so dass wohl nichts übrig bleibe, als dieser Strömung endlich einen gesetzlichen Riegel vorzuschieben[10].

Ob die demoskopische These („63%“) stimmt, weiß ich nicht. Allerdings habe auch ich öfter Gesprächspartner getroffen, die die Frankfurter Polizeientscheidung für diskutabel oder für im Ergebnis unvermeidlich oder richtig hielten als solche, die sie verdammten. Ob „selbst hohe Richter an den obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe im vertraulichen Gespräch über eine Relativierung des absoluten Folterverbots in Ausnahmefällen nachdenken“ – wie Prantl mit offenbarem Befremden schreibt, kann der Außenstehende nicht beurteilen. Die Zuschrift des früheren BAG-Präsidenten Kissel (s. Anm. 7) könnte immerhin in die Richtung deuten.

Aber zurück zur Volksmeinung: Hat diese eigentlich, zumal in einer Demokratie, die Vermutung der Abwegigkeit für (d.h. gegen!) sich? Ist sie wirklich im Zweifel unaufgeklärt und engstirnig, so dass man in unserem Fall den Rechtsstaat gegen die Demokratie, ihn also gegen die Mehrheit in Schutz nehmen und das Volk erziehen muss? Die Verfassung könnte diese Zwangslage – dieses wirkliche Dilemma - im ganz singulären, extremen Fall in der Tat einmal unausweichlich machen (Beispiel: Todesstrafe). Aber ehe man sich als Volkspädagoge auf’s hohe Ross setzt, sollte man die Sache sieben mal selbstkritisch geprüft und sich gefragt haben, ob die vermutete Mehrheitsmeinung wirklich nichts als nur schlechte Gründe für sich anführen könne.

Für das oben zitierte strikte „Nein! Niemals! und Ausnahmslos!“ gibt es in der Tat ein paar gewichtige Argumente, die noch gewönnen, wenn man den gelegentlichen Zierrat moralisierender Rhetorik von ihnen herunterbürstete[11]. Sie sind hier nicht zu wiederholen und lassen sich z.B. in der zitierten Literatur und anderswo nachlesen.

Zur Volksmeinung zunächst dies: Ich selbst habe noch niemanden gefunden, der – gesetzt die Hypothese, dass unser theoretischer Fall in praxi die eigene Familie oder den Nächsten (d.h. Kind, Enkel, Nachbarn, Mitschüler usw. - im sozialen Sinne also: ihn selbst!) getroffen hätte – nicht wünschen, erwarten, hoffen (vielleicht darum beten) würde, dass die Polizei jede selbst geringste Chance ausschöpfte, um zu helfen, zu retten, zu befreien, zu erlösen. Und die Replik auf die – prinzipienfeste, normgebundene: s.o.! - kritische Rückfrage pflegt vulgo zu lauten, dass man doch die Güter abwägen müsse und für Größe und Veranlassung des jeweiligen Rechts oder Unrechts den Blick nicht verlieren dürfe. ... Diese Replik scheint mir unter dem materiell-rechtlichen Gesichtspunkt von Nothilfe und Notstand (§§ 32, 34 StGB) in der Tat diskutabler zu sein, als die Kritik es zuzugeben pflegt; aber das lässt sich jetzt nicht vertiefen[12].

III.

Indessen mag noch die Anführung einer
Aporie – oder einer Art rechtsstaatlich-demokratischen Dilemmas - erlaubt sein, das unser Problem anders als durchweg üblich beleuchtet:

(1) „keine Folter! “ ist  - als Postulat und Realität - eine gewaltige und sorgsam zu hütende rechtsgeschichtliche Errungenschaft: die endliche Bändigung der übermächtigen Obrigkeit und ihrer Polizei zumal[13].

(2) Die Freiheit der Bürgergesellschaft und ihrer Glieder untereinander ist die Kehrseite dieser Staatszähmung. Zwischen den Bürgern gilt das allgemeine Recht, z.B. auch das Straf- und Notrecht, und zwar ohne die speziellen Beschränkungen, denen der Staat als Obrigkeit unterworfen worden ist, etwa (wie hier der h.M. zufolge) durch ein schlecht­hin absolutes, ausnahmsloses Verbot der Folter[14].

(3) Auch das staatliche Gewaltmonopol ist – parallel zu (1)! – eine heilsame Frucht der kontinental-europäischen Gesellschafts- und Rechtsentwicklung (wie heilsam, zeigt ein gelegentlicher Blick über den Atlantik auf die gewalttätige Waffenlobby der USA; aber mehr noch in andere Himmelsrichtungen dorthin, wo die Warlords herrschen). Es rückt die legitime Selbsthilfe und -Verteidigung der Bürger grundsätzlich in die zweite Reihe: sie sollen und dürfen sich jedenfalls durchweg auf den Staat, an den sie ihre Gewalt abgetreten haben - auf seine „obrigkeitliche Hilfe“ (§ 229 BGB) also - verlassen. Diese Ziffer (3) steht also zur vorstehenden (2) in einem sie einschränkenden Spannungsverhältnis.

(4) Vom Gewaltmonopol zu Kriminalität und Verbrechensprävention:

Wenn, solange und wo der Staat seine Schutzfunktion tatkräftig wahrnimmt, bleiben die Selbsthilferechte der Bürger, also dieser Teil ziviler Freiheit, mehr oder weniger theoretisch und in ungenutzter Reserve. Wo aber der Staat sich als hilflos und schwach erweist und seinen Bürgern den Schutz versagt, bricht sich die Selbsthilfe wieder Bahn[15]: die Elemente fallen und steigen also gegeneinander wie in kommunizierenden Röhren.

Zur Nutzanwendung:

Im Ausgangsfall und ähnlichen besitzen die Angehörigen, Freunde und Nachbarn des Entführungsopfers ebenso wie jeder hilfsbereite Dritte, sofern sie des Täters habhaft werden, sämtliche Notrechte, die Erfolg versprechen[16] – auch auf Einsperrung, Drohung, Täuschung, Hypnose, Freiheits-, Nahrungs- und Schlafentzug, Schläge[17]. Nun ist die Selbsthilfe Privater (als Durchbrechung des staatlichen Gewaltmonopols) allerdings prekär: dem Gesetz grundsätzlich unerwünscht und deshalb ins zweite Glied verwiesen. Vernünftigerweise: geht Selbsthilfe gegen die Person doch gar zu leicht in Lynchjustiz über, und der Staat sollte den Bürger auch viel besser schützen können als dieser sich selbst; primär dafür hat man den Staat schließlich erfunden[18]. Wenn sich aber nun herumspricht - und die unglückselige Diskussion der Gegenwart könn­te dazu beitragen, falls sich die jetzt wohl h. M. der Wissenschaft und Publizistik durchsetzt - , dass der Polizei in Zukunft strikt und ausnahmslos die Hände gebunden werden sollen, dann würde das im Volke wohl die Neigung stärken,  im speziellen Notfall die Jagd nach dem Täter und alles Weitere lieber in eigene Regie zu nehmen und sich nicht mit der Assistentenrolle für eine letztlich handlungsunfähige Polizei zu bescheiden. Dieser - historisch gesehen: erneute - Rollenwechsel zwischen Staat und Bürger wäre ein Rückfall in altes Faustrecht und politisch durchaus unerwünscht.

Vielleicht würde diese Prognose aber nur sehr begrenzt zutreffen, weil die Bevölkerung durchweg gar keine Chance hat oder sieht, der Polizei im Ernstfall durch eigene Aktivitäten Konkurrenz zu machen. Beruhigend wäre aber auch dieser Sachverhalt keineswegs: Diese Resignation würde der ohnehin brodelnden Meinung weitere Nahrung zuführen, der Staat, der das Volk zugunsten seines Gewaltmonopols entwaffnet habe, sei zu abgehoben, unentschlossen, lax oder feige, die ihm treuhänderisch überlassene Macht wirklich zu nutzen, und es sei ihm gleichgültig, seine Bürger unter Bruch des Gesellschaftsvertrags schutzlos zu lassen[19].

Um diese Überlegungen unfertig, wie sie sind, abzubrechen: Zur Diskussion sind wohl noch ein paar Gesichtspunkte nachzutragen und hin- und herzudrehen, ehe mit ihr, wie jetzt zuweilen verlangt, Schluss gemacht werden kann.

IV.

Wie – übrigens von nahezu allen Seiten, wenngleich mit gegensätzlichen Begründungen - bemerkt, kann man über die Debatte nicht glücklich sein. Der Frankfurter Fall und die ganz wenigen vergleichbaren, die es möglicherweise sonst noch gegeben hat
oder die zu erwarten sind, stellen naturgemäß extreme Grenzsituationen dar, die auf den Einsatz sonst verpönter Mittel zur Opferrettung gebieterisch drängen - und die dann sowohl skrupelhaft als auch unverzüglich und beherzt zu entscheiden sind. Es ist fatal, dass dieses schwierige Gebiet, für welches sich die maßgebenden – und Maß-setzenden! - Rechtsprinzipien durchaus erkennen lassen, unter dem grellen und durchweg polemischen Schlagwort „Folter –pro oder contra!“ abgehandelt wird.

Die öffentliche Debatte ist auch deshalb schädlich, weil sie - von ihrer schrillen und schiefen Polemik  abgesehen – die Tendenz zu falscher Generalisierung fördert. Bei komplexen und extrem schwierigen Güterabwägungen wie hier entscheidet die Individualität der konkreten Sachlage nahezu alles. Die öffentliche Debatte aber braucht abstrakte Sätze, findet und proklamiert sie und presst das Individuelle dort hinein wie in ein Prokrustesbett.

Deshalb wäre Schweigen, in dessen Mantel das Vernünftige, Nötige und rechtlich jeweils Vertretbare geschehen könnte, klüger, nützlicher und besser gewesen[20]; wo es nun aber gebrochen ist, müssen wir die Sache und Debatte zum erträglichen Ende bringen.

 

Günter Bertram


 

[1] vgl. jetzt DRiZ Heft 4/2003 S. 123: Erklärung vom 23.02.2003 mit dem  Zusatz seines Vorsitzenden; dort auch S.114, 120 ff.

 

 

[2] Mir ist außer dem o.e. Frankfurter Ereignis für Deutschland nur der immerhin ähnliche „Erdlochfall Hintze“ (Potsdam 1997) bekannt. Sonstige Erörterungen, z.B. in der Dissertation des späteren ns. Ministerpräsidenten Ernst Albrecht: Der Staat. Idee und Wirklichkeit, 1976 S. 174, waren durchaus theoretischer Art. So auch für Deutschland, freilich mit Bezug auf ausländische Beispiele, die grundlegende Abhandlung von Winfried Brugger, Heidelberg: Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf  Folter ? in JZ 2000, 165 –173. Wie praktisch das Problem jederzeit werden kann, zeigen die in den USA hochaktuellen Überlegungen des Harvard-Juristen Alan Dershowitz vom 05.03.03 (The Globe and Mail, Page A 17), ob und unter welchen näheren Kautelen die USA berechtigt seien, dem kürzlich gefassten „al-Qaeda mastermind“ Khalit Shaikh Mohammed dessen vermutbares Wissen von weiteren geplanten Massenmorden zu entreißen. D. meint, die „purist position“ („... never, even if thousands of lives could be sayed ...“) werde im „ticking-bomb-scenario“ kein demokratischer Staat (scil.: von anderen ganz zu schweigen!) sich leisten können.

 

[3] „von einem völlig unschuldigen Kinde“: so war es zwar hier und im Falle Hintze (Anm.2). Aber diese Gegen-Emotionalisierung klärt so wenig wie das Herauskehren des Folterbegriffs mit seinen schauerlichen Anmutungen. Mensch ist Mensch – als Tatverdächtiger, aber auch als Opfer!

 

[4] Für weitere Präzisierungen ist hier kein Platz, vgl.
aber die „acht Merkmale“, die Brugger (Anm. 2 aaO. S. 167) dafür entwickelt
.

 

[5] wobei allerdings unerörtert bleibt, ob und wieso die bloße Androhung (hier: körperlicher Schmerzen: Folter  dem Angedrohten (also der Folter selbst) gleichsteht. Die Inaussichtstellung von Folter ist eine starke Drohung, wenn ernst gemeint, und wenn nicht ernst gemeint, neben einer schwachen Drohung zugleich eine Täuschung. Alles das verstößt gegen den (hier – bei Gefahrenabwehr – nicht einschlägigen, interpretatorisch gleichwohl wichtigen) § 136 a StPO, der allerdings viel mehr umfasst als nur Folter: auch Täuschung, falsche Versprechung und eben auch: Drohung.

 

[6] Die Frage nach der Ausnahme betrifft allein die etwaige Rechtfertigung. Wenn eine Normverletzung im Einzelfall entschuldigt wird (hier etwa: wegen Irrtums des Polizeipräsidenten Daschner), ist das generell uninteressant, weil die persönliche Exkulpation im Einzelfall natürlich keine Ausnahme von der Normgeltung wäre.

 

[7] Das ist schon technisch-literarisch  unmöglich. Brugger in JZ 2000 (s.o. Anm. 2) - als die bei weitem gründlichste Reflexion, müsste dann – so oder so! – als Ausgangspunkt dienen. Miehe (in NJW 2003, 1219: Nochmals: Die Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot) ruft sie mit Recht wieder in Erinnerung.

Immerhin mag es von einigem Reiz sein, aus der Presse-Diskussion jedenfalls einige Überschriften von Artikeln und Leserbriefen wieder Revue passieren zu lassen:

Focus v. 20.02.03: Richter (scil.: Mackenroth) in der Bredouille.

FAZ v. 22.02.03: Der Staat im Notstand: ist Folter erlaubt ?

FAZ v.  22.02.03: Folter – Und wenn es ums Leben geht?

FAZ v. 25.02.03: Folter? Ein Schlagwort fordert Opfer und vergisst den Täter.

SZ v. 25.02.03: Ein bösartiger Wellenkamm – wird Folter wieder bedenkenswert? (Prof. Klaus Lüdersen)

FR v. 26.02.03: Und bist du nicht willig – Doch selbst im Notstand darf der Staat nicht foltern (Prof. Günther).

ZEIT 27.02.03: Daumenschrauben gefällig ? Die Menschenrechte dulden keine Zweideutigkeiten: Folter ist tabu.

FAZ 04.03.03: Schmerz gegen Wahrheit? Oder: Auch Not kennt ein Gebot

FAZ v. 05.03.03: Die Würde des Menschen – auch des Opfers (Prof. Rudolf Kissel)

SZ v. 10.03.03: Gute Folter, böse Folter – Indizien für eine zivilisatorische Regression (Heribert Prantl).

FAZ v. 13.03.03: Deutschland, ein Schurkenstaat ? Es gibt gute Gründe, Folter  anzudrohen, und doch ist

das Verbot absolut – (Prof. Pawlik).

FAZ v. 26.04.03: Würden Sie es tun ? ... Wer als Ermittler vor der Wahl von Leben und Tod gestellt wird, für den ist ein Folterfall unentscheidbar, doch das Recht erfordert Grenzen (Walter Grasnik) vgl. im Übrigen auch die Pressestimmen in DRiZ 2003, 114,  120 ff.

 

[8] Hans Christoph Schäfer in NJW 2003, 947: Freibrief

 

[9] Rainer Hamm in NJW 2003, 946: Schluss der Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot!

 

[10] vgl. Schnorr und Wissing in ZRP 2003, 142: Folter in Deutschland ?

 

[11] so Grasnick in FAZ vom 26.04.2003, S. 43: Würden Sie es tun?, der die Auslassungen von Prantl u.a. zutreffend als intellektuelles Denkverbot und Diffamierung bezeichnet, unbeschadet dessen, dass auch er im Ergebnis gegen Brugger votiert, freilich höchst moderat.

 

[12] Für die juristische Deduktion reichen strafrechtliche Erwägungen allerdings nicht aus, sondern bedarf es der Heranziehung verfassungsrechtlicher – national und international verbriefter - Wertungen, die indessen der Substanz nach die klassischen Abwägungen von Notstand, Notwehr und Nothilfe nur nachvollziehen, dazu i.e. Brugger (Anm.2).

 

[13] Dementsprechend definiert die spätere UN-Konvention v. 10.12.1984 (BGBl. 1990 II S. 246) als Folter “jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, wenn diese durch einen Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder eine andere in amtlicher Eigenschaft handelnde Person verursacht werden.“

 

[14] Formal folgt das bereits aus der Limitierung des Folterbegriffs auf obrigkeitliches Handeln. Dass der Sache nach u.a. kriminelle Gangs häufig Praktiken
übelster Folterungen ausüben, weiß nicht nur jeder Strafrechtspraktiker. So waren der Fall Metzler wie früher der Fall Hintze auch evidente Folter-Fälle, und es unterliegt keinem Zweifel, dass damals Eltern, Freunde, Nachbarn und beliebige Helfer den Tatverdächtigen rite et recte die Daumenschrauben hätten ansetzen dürfen.

[15] und zwar dort, wo sie das tatsächlich kann, d.h. die wirtschaftlichen Mittel dafür vorhanden sind; die Armenviertel aber versinken im Chaos. Diesen Prozess hat Gunther Arzt: Der Ruf nach Recht und Ordnung, Tübingen 1976, auf Grund seiner Amerika-Studien der Jahre 1974/75 für einige US-Großstädte ebenso erschütternd wie eindrucksvoll gezeigt.

 

[16] Erfolg versprechen! Das wird ganz selten der Fall sein, worin aber eine jeweils zu prüfende quaestio facti liegt. In den mir bekannten Abhandlungen wird oft viel zu viel Energie auf diesbezügliche Spekulationen verwendet - mit dem Ziel einer völlig negativen Prognose. Dass solche Fallgestaltungen eigentlich gar nicht vorkommen können, stimmt aber nicht; schon die bisherigen Erfahrungen mit moderner Entführungs- und Erpressungskriminalität sprechen dagegen, und die Zukunft ist leider ganz offen.

[17] Den hier verwirklichten Tatbeständen des StGB stünden die einschlägigen Rechtfertigungsnormen des Straf- und Zivilrechts gegenüber. „Folter“ als besonderen Tatbestand kennt das Strafrecht nicht; er wäre auch überflüssig. Freilich würde das Recht keineswegs die Anwendung beliebiger Torturen decken: der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Gebotenheit: § 32 StGB, Angemessenheit: § 34 S. 2 StGB usw.) sorgt auch bei den privaten Notrechten für äußerste Grenzen!

[18] Die Paradoxie der Sache, sofern man hier der h.M. folgt, formuliert Brugger (Anm.2, dort Fn. 17) so: „...Das Problem hier ist, dass durch das Dazwischentreten der Staatsgewalt in Form der Polizei das Lebensschutzniveau erheblich absinkt. Vorher konnten sich die Bürger auf ihr Notwehrrecht aus § 32 StGB berufen, das jede zur Gefahrenabwehr notwendige Maßnahme rechtfertigt, auch eine durch Zwang herbeigeführte Aussage) über das Versteck der Bombe (scil.: Bruggers hypothetischer Ausgangsfall). Nach der Festnahme durch die Polizei ist plötzlich der Störer privilegiert. Seine körperlichen Integritätsinteressen bekommen Vorrang vor den Lebensinteressen der Bevölkerung. Wollte diese den Erpresser aus der Obhut der Polizei befreien, müssten die Polizeibeamten den Erpresser notfalls mit Schusswaffen verteidigen“.

 

M.E. überzeugend das Fazit (aaO. S. 170): „...Ein Staat muss das Recht haben, alles Notwendige zum Lebens- und Würdeschutz der bedrohten Opfer zu unternehmen, insb. in einem Fall, in dem er durch die polizeiliche Festnahme private Notwehrrechte verdrängt, die ansonsten den konkreten Akt – Zwang zur Preisgabe der lebensrettenden Information - erlauben würden.“

 

[19] Im Ergebnis übereinstimmend auch Miehe in NJW 2003, 1291: Nochmals: Die Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot (Replik auf Hamm und Schäfer in NJW 2003, 946 f).

[20] Heinrich Popitz hat 1968 (Staat und Recht Nr. 350) die „Präventivwirkung des Nichtwissens“ demonstriert: Das Prestige (also die Geltungskraft) einer Norm hänge davon ab, dass man durchweg nicht wisse, wie oft sie tatsächlich missachtet werde. Jetzt dreht es sich wohl um eine gegensinnige Variante dessen: Wenn man die wenigen, extremen und hochindividuellen Ausnahmesituationen, die (allenfalls) das Folterverbot suspendieren könnten, wie ein alltägliches Ausnahme-zur-Regel-Verhältnis ständig  beredet, dürfte diese Verflachung (Veralltäglichung) die Normgeltung schwächen - diesmal, weil die öffentliche Debatte die Vorstellung über Abweichungshäufigkeiten extrem verzerrt, weit übersteigert und überhitzt. Die eifernden Beschwörungen der schiefen Ebene, des Normverfalls, des zivilisatores Abstiegs udgl. (oben Anm.7) produzieren sicherlich mehr Schaden als rechtsstaatlichen Nutzen.