(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/05, 2) < home RiV >

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Ein völlig ungewohntes Moment: ein Editorial, das nicht aus der Feder Karin Wiedemanns stammt. So viele Jahre hat sie nicht ein einziges Mal die MHR ohne einleitende und übergreifende Worte gelassen.

Und sie steht nicht allein in ihrem Engagement. Viele Kollegen schreiben für die MHR. Auch dem Vorgänger Karin Wiedemanns, Günter Bertram, ist die MHR immer wieder neu zu Dank verpflichtet für seine aufopfernde MHR-Fürsorge. Er darf sich in der Sache ”Junge Freiheit” nunmehr vom BVerfG in seiner schon seit Langem zu Recht vertretenen Ansicht bestätigt sehen, dass eine dem Mainstream gewährte blinde Gefolgschaft unserem Gemeinwesen abträglich ist (dieses Heft, S. 17). Und sein in der letzten MHR (und in der NJW) erschienener Aufsatz zur Volksverhetzungsnovelle wurde soeben vom BVerfG (16.08.05 - 1 BvQ 25/05) berücksichtigt. Zu Bertrams Kritik in der letzten MHR u.a. daran, dass Deutschland die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU überschießend umgesetzt hat, passt nun auch ein neues Vorhaben der Bundesregierung:

 

In überschießender Reaktion auf ein EuGH-Urteil hat das BMJ am 27.08.05 einen Gesetzentwurf für ein Untätigkeitsbeschwerdegesetz vorgelegt. Doch gibt es die Untätigkeitsbeschwerde in der Form eines von der Rechtsprechung entwickelten außerordentlichen Rechtsbehelfs auch bislang schon; an diesen Rechts­behelf werden aber wesentlich schärfere Anforderungen bereits bei der Zulässigkeit gestellt, die nicht zum Mißbrauch einladen.

Geradezu blauäugig ist die Ansicht des BMJ, auf ihr Gesetz gestützte unbegründete Beschwerden würden keine Mehrbelastung verursachen, denn das Gericht könne ”den Vorgang mit knapper Stellungnahme zügig an die nächsthöhere Instanz weiterleiten, und der Beschwerdeführer wird von dort ebenso knapp und unaufwändig abschlägig beschieden werden”.

Das wird in der Praxis ganz anders aussehen und die Akte wird durch viele zusätzliche Hände gehen, die die Akte nicht immer zügig behandeln / - können. Möglicherweise wird sich auch der ein oder andere Kollege gar genötigt sehen, künftig ein dienstliches Tagebuch über seine täglichen Verrichtungen zu führen, damit er später begründen kann, welche anderen Sachen aus welchem Grunde vorrangig waren.

Der DRB hat sich schon 2003 gegen die Untätigkeitsbeschwerde ausgesprochen und gefragt, was denn wohl zu geschehen habe, wenn nach Stattgabe durch das Beschwerdegericht der Richter der ersten Instanz sich zu einer Verfahrensförderung außer Stande sieht, etwa wegen Krankheit, Überlastung etc.

Sogar der Deutsche Anwaltverein (Zivilverfahrensrechtsausschuss, dem der Hamburger Rechtsanwalt Curt Engel angehörte) hat 2003 die gesetzliche Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde mit den zutreffenden Worten abgelehnt: ”Übermäßige Verfahrensdauer hat - von Ausnahmen abgesehen - seine Ursachen in einer unzureichenden sachlichen und personellen Ausstattung der Justiz; nicht aber in ‚individueller Lust zur Untätigkeit’ des angerufenen Gerichts. ... Soweit unzureichende Ressourcen Grund für Verzögerungen sind, erscheint erfolgversprechender, ein System repressiver Haftung des Bundes und der Länder aufzubauen” (z.B. Staatshaftung ohne Richterhaftung). Im Registerwesen wurde Ähnliches 2004 eingeführt (vgl. MHR 2/04, 11).

Mal sehen, ob das BMJ nach der anstehenden Bundestagswahl wieder auf seinen Entwurf eines Untätigkeitsbeschwerdengesetzes zurückkommt.

 

Ihr

Wolfgang Hirth