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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

 

"Das ist doch nur Stammtischgerede!" Oft ist das zu hören, wenn ein vermeintlich Gebildeter politische Ansichten eines von ihm als ungebildet eingeschätzten Gegenübers desavouieren will. Ganze Bevölkerungsschichten sollen so von einer sinnvollen außerparlamentarischen politischen Willensbildung ausgrenzt werden frei nach dem Motto: politische Ansichten dürfen nur die Intellektuellen haben und äußern, denn nur sie haben die erforderliche Sachkunde für alles. In anderen Fällen soll das seinerseits vorurteilsbehaftete Gerede vom Stammtischgerede unliebsame politische Ansichten als populistisch brandmarken und dem Gegner Sachkompetenz absprechen.

 

Zudem (neben dem Herabsehen) übersehen solche intellektuellen Schwarz-Weiß-Maler unter anderem, dass Stammtische nicht unteren sozialen Schichten vorbehalten sind und nicht gleichzusetzen sind mit unmäßigem Alkoholkonsum. Viele intellektuelle Bereiche halten ebenfalls Stammtische vor. Mit Werner Höfers Frühschoppen hielt sich ein Journalistenstammtisch sogar jahrzehntelang im Fernsehen. Es gibt Stammtische für soziale Selbsthilfegruppen (z.B. alleinerziehende Väter), Frauen-Stammtische, Stammtische für einzelne Sachthemen und Stammtische für konkrete Berufe. Stammtische haben eine nicht zu unterschätzende Funktion hinsichtlich des sozialen Zusammenhalts, des beruflichen Austauschs und der politischen Willensbildung.

 

Liebe Leserinnen und Leser, vorstehende Absätze lagen seit nunmehr fünf Jahren unverändert in meiner Schublade als Vorrat, um sie irgendwann einmal in den MHR bei passender Gelegenheit zu verwenden. Und nun kommt die ZEIT und macht genau das zu ihrem Hauptaufmacher in der Ausgabe vom 06.08.2009 mit Titelseite und 3seitigem Dossier. Die Autoren Dausend und Sussebach bemerken: "Der Stammtisch. Ein altes Wort ist wieder da". In guter ZEIT-Manier wird das Thema einigermaßen differenziert abgehandelt. "Stammtischniveau - schlimmere Dumpfheitsvorwürfe gibt es nicht"; selbst solchen Stammtischen, auf den diese Einschätzung auf den ersten Blick zuzutreffen scheint, gewinnt die ZEIT durch näheres Hinsehen noch Einiges an mikropolitischer Bedeutung ab. Und wo die örtlichen Honoratioren beisammen sitzen, wird dem Vorwurf „lokalpolitischer Klüngel“ als alternative Bewertung gegenübergestellt: „Keimzelle der Demokratie“ mit engagierten Bürgern. Und auf viele Stammtische treffen die o.g. Vorurteile städtischer Verachtung des Provinziellen auch schon angesichts der Stammtisch-„Branchen" nicht zu.

Kulturhistorisch interessant ist, dass Stammtische nicht bloß regierungskritische, sondern sogar politisch linke Wurzeln haben. Marx und Engels waren Mitglieder eines Stammtisches; bürgerliche Revolutionen wurden an Stammtischen vorbereitet; und die Nazis fürchteten Stammtische als „Brutstätten des Kommunismus".

So weit einzelne Gedanken aus dem Artikel der ZEIT.

 

Doch kommen wir dazu, was das Ganze mit uns Richtern zu tun hat. Das fängt schon bei unseren MHR an, wo einerseits ebenfalls gelegentlich schon mal die Rede davon ist, es dürften z.B. „neue Wege im Strafrecht und in der Strafrechtspolitik nicht über den Stammtisch führen“ (Hoffmann-Riem, MHR 4/1997, 18). Von Anderen wird durchaus gesehen, dass man Unliebsames „nicht immer als ‚Stammtischgeschwätz’ abtun“ dürfe (v. Selle, MHR 1/2001, 13); und: Durch Tabuisierung „verschwinden verpönte Themen nie, sondern sie wandern - zu den ‚Stammtischen’ zum Beispiel, wo sie nicht immer richtig aufgehoben sind. Darüber kann man sich - im fatalen Zirkel! - wiederum trefflich empören“ (G. Bertram, MHR 1/1995, 15).

Jedenfalls scheint der Stammtisch ein geschützter Ort zu sein; ein Ort, an dem man seine Ansichten äußern kann, ohne dafür gesellschaftliche Ächtung befürchten zu müssen.

 

Natürlich haben auch Richter Stammtische. Sogar das Thema „Richterstammtisch im Internet" ist bereits 1996 aufsatzmäßig abgegrast worden (Beier, Betrifft JUSTIZ Nr. 45, S. 213 f.). Und in Hamburg gibt es neben den „Treffen junger Juristen“ (nächstes am 01.10. in der Grundbuchhalle) zusätzlich auch einen Stammtisch der Assessoren (Richter und Staatsanwälte): zum nächsten werden die Assessorenvertreter des Richtervereins Ende September / Anfang Oktober einladen. Kommen Sie!

 

Ihr
Wolfgang Hirth

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nachträgliche Anmerkung: vgl. auch MHR 3/2002, 25