(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/07, 7 ) < home RiV >
Walter Stiebeler war 30 Jahre lang Mitglied des Richtervereins, als er im September verstarb. Joachim Metzinger - langjährige „rechte Hand“ von Stiebeler und von 1986 bis 1999 Präsident des Amtsgerichts Hamburg - erinnert an ihn. (Red.)
Erinnerungen an
Walter Stiebeler
- Einem großen
Präsidenten zum Dank
und zum Gedenken -
Am 30.11.1984 ist Professor Dr. Walter Stiebeler mit Erreichen der Altersgrenze aus seinen Ämtern als Präsident des Hamburgischen Verfassungsgerichts, des Hanseatischen Oberlandesgerichts, des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts und des gemeinsamen Prüfungsamts der Länder Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein für die Große juristische Staatsprüfung und des Ausbildungs- und Prüfungsamts für die einstufige Juristenausbildung verabschiedet worden, völlig verfrüht, wie er befand. Er wandte sich danach dem juristischen Nachwuchs zu und hielt bis ins hohe Alter Vorlesungen im Fachbereich II der hamburgischen Universität. Auch seine späte Emeritierung hat er sich nur ungern gefallen lassen.
Am 15.09.2007 ist Walter Stiebeler kurz vor Vollendung seines 88. Lebensjahres in Hamburg gestorben.
„Endgültiges ist immer so unwirklich“, mit diesem für ihn so typischen Zitat hat er sich 1984 vom Sievekingplatz verabschiedet, und dieser Satz geht einem auch angesichts seines Todes nicht aus dem Sinn. Wer ihn gut kannte, wird ihn auch in der Erinnerung so sehen, wie er allen stets begegnet ist, mit wachem Blick, sehr präsent, sehr dominant und immer auf dem Weg zu einem Ziel, ein Mann von unerschöpflicher Schaffenskraft.
Über ihn so etwas wie einen Nachruf zu schreiben, fällt schwer für einen aus dem Kreis seiner engsten Mitarbeiter. Wie soll man aus der Fülle der Erinnerungen das Eigentliche und Wesentliche seines Wirkens herausfiltern, wie kann man sich angesichts seiner unglaublichen Lebensleistung und Verdienste eine Zusammenfassung anmaßen, die auch immer etwas Endgültiges und Urteilshaftes hat? Ihn auf ein Denkmal heben zu wollen, verbietet sich ganz und gar, er hätte es mit einem spöttischen Blick quittiert. Was bleibt, sind Erinnerungen; Erinnerungen an einen Mann, der fast sein ganzes Leben mit unglaublicher Hingabe der Hamburger Justiz gewidmet hat und in den Annalen der hamburgischen Justiz einen bleibenden Platz unter den ganz herausragenden Präsidenten und Richterpersönlichkeiten verdient hat.
Nach Roland Makowka[1] war ich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre als so genannter erster Präsidialrichter sein engster Mitarbeiter und während der ganzen siebziger Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter im hamburgischen Verfassungsgericht sein Berater in allen Fragen des Verfassungsgerichts. In diesem Jahrzehnt, das an Dynamik und Veränderungen und Krisen alles in den Schatten stellt, was der Sievekingplatz davor und danach erlebt hat, war Walter Stiebeler als so genannter Chefpräsident, von seinen Kritikern und Gegnern, von denen es nicht wenige gab, auch gerne als „der Vierfachpräsident“ bezeichnet, die alles beherrschende Gestalt, in der Rückschau ganz gewiss ein Glücksfall für die Hamburger Justiz.
Am Sievekingplatz wurde er, als er im Juli 1969 vom Richterwahlausschuss zum Präsidenten von Oberlandesgericht und Oberverwaltungsgericht gewählt und vom Senat ernannt worden war, alles andere als willkommen geheißen. Die Aufbauphase der Hamburger Justiz war unter der Leitung des hoch angesehenen Oberlandesgerichtspräsidenten Herbert Ruscheweyh, der das Amt von 1946 bis 1960 innehatte, und der seiner Nachfolger Hans Görtz und Reinhard Vogler, sämtliche hochkompetente Richterpersönlichkeiten, längst abgeschlossen. Oberlandesgericht und Oberverwaltungsgericht verfügten über eine große Zahl hervorragender Richter, von denen etliche auch über Hamburgs Grenzen hinaus in der juristischen Fachwelt großes Ansehen genossen. Es war für den Sievekingplatz fast selbstverständlich, dass der neue Chefpräsident ein herausragender Richter vom Sievekingplatz sein musste. Die Bewerbung Walter Stiebelers um das Amt muss eher Befremden ausgelöst haben, weil ihm jegliche richterliche Erfahrung fehlte. Er war nach seinem Eintritt in den hamburgischen Justizdienst nach wenigen Wochen in die Landesjustizverwaltung gewechselt, um dort seinen Weg bis zum Leitenden Beamten zu machen, und wollte seine Rückkehr zum Sievekingplatz nun mit dem Einstieg in die höchsten Richterämter verbinden. Es gehörte viel Mut des damaligen Justizsenators Peter Schulz dazu, Walter Stiebeler für das Amt des Oberlandesgerichtspräsidenten vorzuschlagen, und es gehörte noch mehr Mut dazu, das Amt und die damit verbundenen weiteren Ämter zu übernehmen. Viele am Sievekingplatz vermuteten ein Stück Parteipolitik, und nach Berichten gab es in den ersten Wochen am Sievekingplatz Szenen, die für Walter Stiebeler fast etwas Demütigendes hatten. Er hat das alles mit stoischem Gleichmut ertragen und sich mit dem Selbstvertrauen und dem Glauben an den eigenen Erfolg, der ihm immer zu eigen war, an die Arbeit gemacht.
Wie hoch Peter Schulz, damals Justizsenator und später hamburgischer Bürgermeister Walter Stiebelers Fähigkeiten geschätzt hat, wird deutlich aus seiner sehr persönlichen Rede zu Stiebelers Verabschiedung:
„…Ich wollte einen starken Präsidenten an der Spitze der dritten Gewalt. Die Unabhängigkeit der Gerichte, der Justiz insgesamt, erfordert es, dass sie durch eine starke Persönlichkeit repräsentiert wird, die auch bereit ist, sich gegebenenfalls als Widerpart der Exekutive zu empfinden, um die Interessen der dritten Gewalt gegenüber den beiden anderen Gewalten wirkungsvoll zu vertreten. Ich hielt es nicht für ein entscheidendes negatives Kriterium, dass Sie nur ganz kurze Zeit am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn richterliche Tätigkeiten ausgeübt haben. Für mich war entscheidend meine feste Überzeugung, dass Sie auf dem Stuhl des Gerichtspräsidenten sehr bald den Beamten abstreifen und mit der gleichen Konsequenz und notfalls auch Härte die Interessen der dritten Gewalt gegenüber ihrer eigenen früheren Behörde wahrnehmen würden, wie Sie bis dahin gelegentlich auch Gegenspieler des Sievekingplatzes waren und sein mussten.“
Diese Erwartungen wurden von Walter Stiebeler in einem Maße erfüllt, das viele im Rathaus denn doch überrascht und wohl auch manchmal beunruhigt hat. Konsequenz, Festigkeit, eine unglaubliche Hartnäckigkeit in der Verfolgung der einmal für richtig erkannten Ziele, ein hohes Maß an Durchsetzungsfähigkeit, das waren Markenzeichen seiner Amtsführung. Es dürfte in der Hamburger Justiz wohl kaum einen Präsidenten gegeben haben, der so aktiv, sicher und selbstbewusst in seiner Person die Justiz im öffentlichen Leben vertreten und als eine eigenständige, unantastbare und unangreifbare Gewalt auf gleicher Höhe mit Bürgerschaft und Senat erlebbar gemacht hat. Wie stark diese Wirkung war, mag man ermessen an den Äußerungen zweier Hamburger Bürgermeister bei seiner Verabschiedung.
Peter Schulz: „Sie haben in Ihrer Amtszeit den Entscheidungsspielraum der Gerichtsbarkeit gegenüber Legislative und Exekutive nicht erweitert, manchmal wohl nur aus dem einfachen Grund, weil Ihnen dazu die Kompetenz fehlte; aber Sie haben, soweit es an Ihnen lag, diesen Entscheidungsspielraum bis an seine äußerste Grenze voll ausgeschöpft und dabei gelegentlich die Festigkeit der Grenzen erprobt. Das hat notwendigerweise dazu geführt, dass Ihr Wirken auch politisch beurteilt und das heißt auch kontrovers beurteilt wurde.“
Klaus von Dohnany: „….In Ihrer Zeit war die Justiz nicht nur die dritte Gewalt, sondern eine der drei Gewalten. Gleichberechtigt, unabhängig und selbstbewusst“. … Von manchen wird dieser „Sieveking-Platz“ ja gelegentlich auch fast wie eine leise Drohung zitiert. Ein bisschen wie das berühmte Kammergericht in Berlin…“
Walter Stiebeler war Hamburger, neunzehn Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Nach Arbeits- und Wehrdienst (bei der Panzertruppe) mit vier Verwundungen kehrte er 1945 nach Hamburg zurück und begann hier mit 26 Jahren sein Studium, das er 1950 mit der Promotion abschloss. Er hatte die Schrecken des Krieges erlebt und erfuhr in dieser Zeit des völligen Zusammenbruchs, als er sich dem Recht zuwandte, das ganze Ausmaß der Verbrechen nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, unfassbar und unverzeihlich. Walter Stiebeler hat über diese Zeit und seine Erfahrungen nie gesprochen. Und doch muss diese Zeit prägend für ihn gewesen sein.
Er gehörte zu der „Nie wieder - Generation“, deren einzige Antwort auf diese Erfahrungen der leidenschaftliche Einsatz für ein vom Recht geprägtes und durchdrungenes Staatswesen war. Er hat das nicht gepredigt, - predigen war nicht seine Sache -, er hat das gelebt in allen seinen Ämtern mit einer Hingabe und einem Einsatz, die allen unvergesslich bleiben wird, die mit ihm zusammengearbeitet haben.
1952 trat er in den hamburgischen Justizdienst ein. Nach wenigen Wochen wechselte er vom Sievekingplatz zur Drehbahn, damals noch keine Justizbehörde, sondern eine „Senatskommission für die Justizverwaltung.“ Hier wurde er im Laufe eines Jahrzehnts dank einer außergewöhnlichen administrativen Begabung zu einer alles beherrschenden und alles bestimmenden Gestalt. Er erinnerte sich gerne an die idyllischen Zustände der frühen Jahre, als der damalige langjährige Kultursenator Senator Biermann-Rathjen einmal in der Woche nach dem Rechten sah und im Übrigen die Geschäfte dem Leitenden Beamten überließ, der seit 1962 Walter Stiebeler hieß. Als er die Drehbahn 1969 verließ, war die Justizbehörde eine straff organisierte voll ausgebaute Verwaltungsbehörde und die hamburgische Justiz in ihrer ganzen Verwaltung sehr stark zentralistisch organisiert.
Mit seiner Person erhielten die Gerichte an ihrer Spitze einen Mann von umfassender Kompetenz und einer nie gekannten Durchsetzungskraft. Er kannte die Hamburger Verwaltung mit ihren Beziehungsgeflechten, er kannte die Mechanismen der Macht auf der politischen Bühne, er verfügte über ein weit reichendes Netz persönlicher Beziehungen, vom Rathaus über die Presse bis in weite Teile der Hamburger Verwaltung.
Anders als von manchen vermutet, war er völlig frei von politischen Bindungen und Affinitäten. Ideologien waren ihm suspekt. Er war ein Mann der praktischen Vernunft. Das machte ihn stark in einer Zeit des Umbruchs, in der alles und jedes und vor allem jede Autorität von einer jungen Generation in Frage gestellt wurde, und dies mit einer Wucht und einem moralischen Impetus, als es ob es darum gehe, einer maroden und rückwärtsgewandten Zivilgesellschaft und ihren Institutionen ein fundamental anderes Gesicht zu geben. Es war eine Zeit tief greifender Veränderungen auch in der Justiz. Die Verfassung der Gerichte, die Verfahrensordnungen, große Teile des materiellen Rechts, nichts blieb wie es war. Es war die Zeit der Protestversammlungen, Referendare zogen mit Transparenten vom Sievekingplatz zur Drehbahn, den Richter hätten viele am liebsten im Sitzungssaal ohne Robe am runden Tisch mit den Verfahrensbeteiligten gesehen, in Berlin wurde der Präsident des Kammergerichts von der “Bewegung 2. Juni“ ermordet, der Extremistenerlass trat in Kraft.
In dem aufgeheizten Klima dieser Jahre bestand die Gefahr von Überreaktionen auf allen Seiten. In Hamburgs Justiz ist es dazu nicht gekommen. Walter Stiebeler an der Spitze erwies sich als Reformer und als Bewahrer zugleich. Er hatte viel Mut zu Reformen, er hatte aber auch das Augenmaß und die nötige Standfestigkeit, um zu bewahren, was bewahrt werden musste. In der Rückschau war dies ein großes, vielleicht sein größtes Verdienst.
Bei der Fülle seiner Ämter wäre dies nicht möglich gewesen, wenn er nicht um sich in der Gerichtsverwaltung als Präsidialrichter eine junge und leistungsfähige Mannschaft versammelt hätte, in der sich die ganze Vielfalt des Sievekingplatzes spiegelte, der junge Roland Makowka, reformfreudig und voller Tatendrang, „Kuno“ Ross, ein leidenschaftlicher Reformer auf dem Felde der Juristenausbildung, auf der anderen Seite diejenigen, die ihren Weg als Richter am Sievekingplatz gemacht hatten. Bei aller Unterschiedlichkeit hatten alle eines gemeinsam: sie waren unangepasst, selbstbewusst und kritisch, Widerspruch war dem Präsidenten sicher.
Walter Stiebeler ließ allen, die sein Vertrauen hatten, einen großen Spielraum und sehr viel Eigeninitiative. Er ließ Reformen zu und förderte Reformen, ja er hatte den Mut, bis an Grenzen zu gehen. Er war sicher, dass er die Kontrolle über alle und alles nicht aus der Hand geben würde. Die Reform der Juristenausbildung in Hamburg, deren Ergebnis die Gründung eines neuen Fachbereichs für die einstufige Juristenausbildung war, das so genannte Hamburger Modell, war sein Verdienst und sein Meisterstück. Aber auch die herkömmliche Referendarsausbildung hat in diesen Jahren einen tief greifenden Wandel erfahren. In seine erste Zeit fällt die Einrichtung einer Justizplanungsgruppe unter Leitung von Roland Makowka, in der wir uns unabhängig von der Justizverwaltung vieler Probleme der Gerichtsverwaltungen annahmen, ein allererster wichtiger Schritt hin zu Gerichten, die sich eigenständig und unabhängig organisieren konnten und wollten.
Es war eine Zeit des Aufbruchs und der Initiativen. Was Walter Stiebeler befähigte, mit der Vielzahl der Ämter und der Fülle der Probleme umzugehen, war eine extrem ökonomische und intensive Arbeitsweise. Er war ein genauer Beobachter und hochkonzentrierter Zuhörer, der jede Sache schnell auf den Punkt und zur Entscheidung brachte.
Als wir, was selten vorkam, im Begriff waren, in eine längere Diskussion mit allem Für und Wider einzutreten, bremste er uns ab mit zwei einfachen Fragen, die typisch für seine Denk- und Handlungsweisen waren. Die erste Frage: Was wollen wir erreichen? Die zweite Frage (sehr selbstbewusst): Was kann uns daran hindern?
In der ersten Frage sollte Klarheit herrschen, die zweite Frage war seine Domäne. Was wir erledigen konnten, überließ er uns. Hindernisse, die für uns schwer zu überwinden waren, sah er als seine Sache an, aber eben auch nur diese. Er pflegte Besprechungen häufig mit der Bemerkung zu beenden, „Ich muss jetzt mal ein paar Gespräche führen.“ Das geschah prompt und hatte nahezu ausnahmslos den gewünschten Erfolg. Das gab unserer Arbeit einen ganz eigenen Schwung und motivierte zu immer neuen Anstrengungen. Natürlich gab es Ausnahmen. Wenn er erkannte, dass ein Ziel auch mit der ihm eigenen Zähigkeit nicht zu erreichen war, gab er es völlig emotionslos auf und orientierte sich neu. Das kam auch bei streitigen Personalentscheidungen vor, was bisweilen zu Verletzungen und Irritationen führte. Er dachte erfolgsorientiert; eine Stellung, die nicht zu halten war, gab er auf.
Es gab eine Situation in
seiner Amtszeit, in der er trotz aller Vorsicht, die ihm zu eigen war, in eine
schwere Krise geriet, die ihn und sein Amt nachhaltig hätte beschädigen können.
Wie er sich und sein Amt daraus befreit hat, zeigt, wie virtuos er, wenn es sein
musste, mit den Instrumenten der Macht umgehen konnte. Hierzu nur zwei Szenen,
den Anfang und das Ende einer Geschichte markierend, die mir unvergesslich
geblieben sind. Die erste war ein Besuch des damaligen Justizsenators Ulrich
Klug im Dienstzimmer Walter Stiebelers am Sievekingplatz, bei dem ich zugegen
war. Stiebeler hatte den Senator um ein Gespräch gebeten, weil er ihm für den
Richterwahlausschuss einen, wie ihm völlig bewusst war, nicht unproblematischen
Beförderungsvorschlag machen wollte. Ein Oberlandesgerichtsrat sollte nach den
Vorstellungen des Oberlandesgerichts zum Senatsvorsitzenden befördert werden.
Das Problem war: der Richter hatte als junger Berufsanfänger noch in der NS-Zeit
an sieben Urteilen in so genannten Rasseschandesachen mitgewirkt. Stiebeler, der
sich selbst in der Justizbehörde eingehend mit der Überprüfung der hamburgischen
Richter auf ihre NS-Vergangenheit befasst hatte, erinnerte sich an diese sieben
Urteile. Wir unterrichteten den Senator, die sieben Urteile haben wir ihm
vorgelegt. Stiebeler wollte wissen, ob der Senator einen Beförderungsvorschlag
mittragen würde. Da der Richter nach Überprüfung und in Kenntnis dieser Urteile
im Justizdienst belassen und später zum Oberlandesgerichtsrat befördert worden
war, erschien es zumindest widersprüchlich, ihm jetzt die verdiente zweite
Beförderung vorzuenthalten. Der Senator nahm dies alles zur Kenntnis und
verabschiedete sich. Statt der erwarteten Antwort des Senators lasen wir wenige
Tage später Auszüge aus der schriftlichen Beurteilung des Richters, die wir ihm
mitgegeben hatten, wörtlich im „Stern“, zitiert in einem Artikel, in dem wegen
des Beförderungsvorschlags ein vernichtendes Urteil
über den Oberlandesgerichtspräsidenten abgegeben und er als untragbar in seinem
Amte dargestellt wurde. Beigefügt war dem Artikel ein Foto des Richters, das nur
aus seiner Personalakte stammten konnte und tatsächlich auch daraus stammte. Was
folgte, war eine beispiellose Kampagne in einem Teil der Presse, die in der
Forderung nach dem „Rücktritt“ des Oberlandesgerichtspräsidenten gipfelte.
Stiebeler sah sich plötzlich dargestellt in der Rolle eines ewig gestrigen
unbelehrbaren Juristen, der den Mächtigen zu allen Zeiten dienstbar ist. Alle
Vorurteile gegen die Justiz wurden mobilisiert und auf seine Person projiziert.
Es ging allen Beteiligten gar nicht mehr um den Beförderungsvorschlag, es ging
um die Ansehen des
Oberlandesgerichtspräsidenten und der Justiz. Stiebeler wehrte sich auf allen
verfügbaren Wegen und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Am Ende
habe ich ihn in die Bürgerschaft zu jener Sitzung begleitet, in der der Senator
vor dem Parlament erklärte, er habe mit der Herausgabe des Fotos und der Daten
aus der Personalakte nichts zu tun. Wir wussten, dass dies die Unwahrheit war
und wir wussten, dass dies das Ende der Amtszeit des Justizsenators bedeuten
würde. Kurz darauf ist er zurückgetreten.
Sein entschlossenes Auftreten in dieser Sache hat sein Ansehen am Sievekingplatz entscheidend gefestigt. Das Klima hat sich spürbar geändert. Walter Stiebeler wurde in seinen Präsidentenämtern zu einer unbestrittenen Autorität.
Als Richter hat Walter Stiebeler in seiner Präsidentenzeit als Vorsitzender des 13. Zivilsenats und als Vorsitzender eines Senats des Oberverwaltungsgerichts gewirkt. Er suchte in allen Streitigkeiten einen vernünftigen und fairen Ausgleich der Interessen, der für jeden einsichtig war. Ihn interessierte weniger das juristische Filigran, er suchte den kürzesten Weg zu einem vernünftigen Ergebnis, und er hatte keine Hemmungen, alle Register zu ziehen, um dahin zu gelangen. Dabei halfen ihm detaillierte Aktenkenntnis – er hatte ein glänzendes Gedächtnis – und ein Verhandlungsgeschick, das seinesgleichen suchte. Sicherlich kam ihm dabei der Bonus des Gerichtspräsidenten zugute, den er ohne Hemmungen zu nutzen wusste. Nahezu alle Verfahren in seinem Zivilsenat, dem seine Präsidialrichter als Beisitzer angehörten, endeten mit einem Vergleich. Er nannte dies das „Stuttgarter Verfahren“, eines der Modellverfahren, das später Eingang in eine Novelle des Zivilprozessrechts fand. Tatsächlich nutzte sein Zivilsenat alle Elemente dieses Verfahrens, aber ohne ihn als Vorsitzenden hätten wir so effektiv nicht arbeiten können.
Walter Stiebeler als Präsident des Hamburgischen Verfassungsgerichts, das hatte einen anderen Rang und war ein ganz anderes Kapitel. In den zehn Jahren, in denen ich sein Berater und Gesprächspartner in allen Angelegenheiten und Verfahren des Verfassungsgerichts war, habe ich ihn als einen Juristen erlebt, der auf der Suche nach einem vernünftigen und für die Staatspraxis fairen und handhabbaren Ergebnis war, auf diesem Wege aber alle und auch wirklich alle rechtlichen Aspekte der Verfassung, der geschriebenen wie der ungeschriebenen, einer akribisch genauen Betrachtung und Prüfung unterzog. Die Beratungen des Verfassungsgerichts, dem so exzellente Juristen wie August Bettermann und Jan Albers, aber auch hoch angesehene und erfahrene Kenner der politischen Praxis wie der frühere langjährige Bürgerschaftspräsident Herbert Dau angehörten, bewegten sich auf hohem Niveau. Politische Zugehörigkeiten oder Affinitäten haben hier nicht die geringste Rolle gespielt. Walter Stiebeler erwies sich hier wie in den öffentlichen Verhandlungen des Verfassungsgerichts als ein souveräner Präsident. Unter seiner Präsidentschaft wurde das Tor für die Behandlung von Organstreitigkeiten vor dem hamburgischen Verfassungsgericht eröffnet, deren Möglichkeit das Gericht in einer früheren Entscheidung aus dem Jahre 1962 verneint hatte, sein bleibendes Verdienst, weil erst mit dieser Entscheidung dem Hamburger Verfassungsgericht die Stellung eingeräumt wurde, die ihm im Verhältnis der drei Gewalten in Hamburg zukommen musste. In der Summe hat Walter Stiebeler als Präsident an insgesamt 33 Verfassungsgerichtsprozessen mitgewirkt. Die wichtigsten Verfahren betrafen das Verhältnis von Senat und Opposition und insbesondere die Rechte der Opposition, die zu jener Zeit dringend einer grundsätzlichen Klärung bedurften. Die Rechtsprechung des Hamburger Verfassungsgerichts war ihm Herzenssache. Sie war der wichtigste und wie er später in der Erinnerung sagte, der schönste Teil seiner richterlichen Arbeit. Im Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart Neue Folge/Band 35 hat er die Rechtsprechung jener Jahre von 1969 bis 1984 einer eingehenden Analyse unterzogen.
Erinnerungen an Walter Stiebeler wären unvollständig, wenn seine Rolle als Prüfer in allen juristischen Staatsexamen unerwähnt bliebe. Er hat in der ersten juristischen Staatsprüfung rund 1.500 Kandidaten und in der Großen juristischen Staatsprüfung rund 2530 Referendare geprüft. Dazu kamen noch weitere Absolventen der einstufigen Juristenausbildung. Er liebte es in späteren Jahren, Hamburger Juristen mit der Bemerkung zu begrüßen: „Sie habe ich auch geprüft“, und er hatte dabei eine außerordentlich hohe Trefferquote. Prüfen war für ihn eine Leidenschaft und er ließ sich nur mit Mühe davon abhalten, diese Tätigkeit noch mehr auszuweiten. Bei seinem Abschied hat er erklärt, was die Prüfertätigkeit für ihn bedeutete:
„… Sie war für mich Jungborn und Repetitorium zugleich. Sie war für mich Stätte der Begegnung mit qualifizierten Richtern, Staatsanwälten, Verwaltungsbeamten, Rechtsanwälten ... sowie mit den Professoren der rechtswissenschaftlichen Fachbereiche.“
Das Bild Walter Stiebelers, das im Sitzungssaal der heute amtierenden Präsidentin neben den Bildern seiner Vorgänger und Nachfolger hängt, zeigt ihn in typischer Haltung, selbstbewusst, mit einem kritischen Blick, der Distanz zum Betrachter schafft. Ein „Richter von römischer Knappheit und Schärfe“, so hat ihn Lutz Jasper, früh verstorbener Pressesprecher der Justizbehörde, einmal beschrieben. Das war die eine Seite seines Wesens. Die ihm nahe standen, kannten aber auch die andere Seite. Der Sievekingplatz war sein großes Betätigungsfeld, was seinem Leben aber Sinn und Halt gab, war seine Familie. Sie war ihm ungleich wichtiger als alles andere. Er war ein liebevoller Familienvater.
Walter Stiebeler war nachtragend, aber nur im guten Sinne. Menschen, denen er vertraute und die er schätzte, suchte er zu fördern, soweit und solange ihm dies möglich war. Noch in seinen letzten Jahren suchte er ihren Umgang und nahm er an ihrem Schicksal lebhaften Anteil.
In seiner Abschiedsrede im Rathaus im November 1984 hat Walter Stiebeler die Dinge in der ihm eigenen Art auf den Punkt gebracht:
„Insgesamt blicke ich auf ein in fünfzehneinhalb Jahren gewachsenes Werk zurück, welches das Bild des Sievekingplatzes in Hamburg geprägt hat. Wenn dieses auch noch nicht in die Denkmalschutzliste eingetragen werden kann, so hat es doch der Ausgewogenheit der drei Gewalten in Hamburg gedient“.
So war es. Wir sollten ihn dankbar in Erinnerung behalten und die Botschaft seines Lebens nicht vergessen: Dass es sich lohnt, aufrechten Ganges und selbstbewusst für die Belange der Justiz einzustehen und wenn es sein muss, auch zu streiten, damit die Justiz – um die Worte des Bürgermeisters von Dohnany zu wiederholen – nicht nur „die dritte Gewalt“, sondern „eine der drei Gewalten“ ist und so auch wahrgenommen wird.
Joachim Metzinger
[1] Zu Makowkas Pensionierung schrieb Walter Stiebeler den Beitrag „Der brennende Makowka“ (MHR 1/96, 28) – Red.