(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/07, 16) < home RiV >

Textfeld:  
(Ruscheweyh 
1892-1965)
Am 22. Mai 2007 stellte der Hamburger Jurist Dr. Daniel Ihonor seine Dissertation „Herbert Ruscheweyh - Verantwortung in schwierigen Zeiten“ (Nomos-Verlag, 2006) in der KZ-Gedenkstätte Fuhlsbüttel vor. Nachdem Karin Wiedemann in MHR 4/1992, 14 zum 100. Geburtstag Ruscheweyhs geschrieben hatte, ist dies eine gute Gelegenheit, die Kenntnisse über diesen für Hamburgs Justiz wichtigen Richter zu vertiefen, weshalb wir den Vortrag (in leicht gekürzter Fassung) abdrucken.

 

Herbert Ruscheweyh

- Verantwortung in schwierigen Zeiten -

Herbert Ruscheweyh (1892-1965)  war einer der bedeutendsten Hamburger Juristen des 20. Jahrhunderts, dessen Name in erster Linie untrennbar mit dem Wiederaufbau der hamburgischen Anwaltschaft und der hamburgischen Justiz nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden ist. Zu seinem umfangreichen Wirken zählte die Tätigkeit als sozialdemokratischer Abgeordneter und Präsident der Hamburgischen Bürgerschaft und Vorstandsmitglied der Hanseatischen Anwaltskammer in der Weimarer Republik, als erster gewählter Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer nach dem Zweiten Weltkrieg und sodann als Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts, des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts und des Hamburgischen Verfassungsgerichts, des Deutschen Obergerichts für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet in Köln sowie als Präsident mehrerer Deutscher Juristentage.

 Bevor Teilaspekte der anwaltlichen Tätigkeit Ruscheweyhs während der NS-Zeit in den Blick genommen werden, an die sich Ausführungen über sein vielseitiges Wirken in den Jahren nach 1945 anschließen, soll zunächst ein kurzer Überblick über seinen Werdegang bis zum Jahre 1933 gegeben werden.

Herbert Ruscheweyh, 1892 in Hamburg geboren, entstammte dem Hamburger Bürgertum. Nach dem humanistischen Abitur studierte er die Rechte in Neuchâtel (Schweiz), München und Kiel. Auffallend vielseitig war sein Studium angelegt, in dem er nicht nur Gelegenheit hatte, eine Vielzahl bedeutender akademischer Lehrer seiner Zeit zu hören, so z.B. in München den großen Nationalökonomen Lujo Brentano (1844-1931), sondern auch an zahlreichen über das engere Fach hinausgehenden Lehrveranstaltungen teilnahm. So finden wir in Ruscheweyhs Studienbüchern auch psychologische, gefängniswissenschaftliche und kriminalpolitische Vorlesungen sowie die Teilnahme an einem Gerichtlich-Psychiatrischen Praktikum. Im Verbund mit seinem Engagement in der studentischen Jugendgerichtshilfe Münchens, einer freiwilligen Rechtsberatung der minderbemittelten Bevölkerung, weisen sie Ruscheweyh als einen frühzeitig an sozialen Problemen interessierten Studenten aus. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 zwang ihn zu einer kurzfristigen Beendigung seines Studiums. Wie zahlreiche seiner Zeitgenossen meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. Viele Jahrzehnte später erinnerte er sich daran, dass ein Kieler Zivilrechtsprofessor die Studenten mit dem Vers aus der Römerode „Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae“/„Und wenn die Welt zusammenbricht, so will ich dennoch standhaft sein“ aus der Vorlesung zum Waffendienst entließ. Innerhalb eines Vormittags absolvierte Ruscheweyh – mit Blick auf die gegenwärtigen Examensbedingungen unvorstellbar – die sog. Notprüfung aus Anlass der Mobilmachung vor dem Oberlandesgericht Kiel. Erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges – an dem er zuletzt als mehrfach ausgezeichneter Kgl. preuß. Leutnant d. Res. teilnahm – konnte Ruscheweyh seine juristische Ausbildung mit der Promotion in Kiel und dem Vorbereitungsdienst in Hamburg beenden.

Den Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches und damit den ersten Systemwechsel seines Lebens vor Augen, zog Ruscheweyh die Konsequenz, sich politisch am Aufbau eines neuen Staatswesens zu beteiligen. 1918 trat er der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei. Er vollzog damit einen für einen Mann bürgerlicher Herkunft ungewöhnlichen Schritt. Als einer der wenigen Juristen innerhalb der Hamburger SPD und Vertreter des rechten Parteiflügels stieg er in der Weimarer Republik bishin in das Amt des Präsidenten der Hamburgischen Bürgerschaft auf.

Beruflich hatte er sich 1921 nach dem Assessorexamen als Rechtsanwalt in Hamburg niedergelassen und sich mit Rechtsanwalt Dr. Max Eichholz (1881-1943) assoziiert. Eichholz war ein Anwalt mit großer Praxis, der zugleich als liberaler Politiker Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft war. Ruscheweyh verlegte sich schwerpunktmäßig auf Strafverteidigung. Kennzeichnend für seine anwaltliche Tätigkeit als Strafverteidiger in der Weimarer Zeit war von Anbeginn seine Mitwirkung an Verfahren, die oftmals aufgrund ihres politischen Hintergrundes großes öffentliches Interesse fanden. Dabei wird deutlich, dass Ruscheweyhs Anwaltstätigkeit nicht losgelöst von seinem politischen Wirken betrachtet werden kann. So vertrat er beispielsweise den Schriftleiter der sozialdemokratisch ausgerichteten Tageszeitung „Hamburger Echo“ in einem Pressebeleidigungsprozess. Im juristischen Kampf um eine weitgehende Pressefreiheit für seine sozialdemokratischen Freunde musste Ruscheweyh die Neigung der in der Kaiserzeit sozialisierten Richterschaft zur Kenntnis nehmen, scharfe und gegen Sozialdemokraten gerichtete Urteile zu fällen. Diese Tendenz zeigte sich ebenso in Zivilprozessen, die Hitler wenige Monate vor der sog. „Machtergreifung“ gegen die sozialdemokratische Hamburger Presse anstrengte, die verschiedentlich kritisch über seine Person berichtet hatte und wiederum von Ruscheweyh anwaltlich vertreten wurde.

Die sog. „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten und der damit verbundene zweite Systemwechsel in seinem Leben beendeten Ruscheweyhs politische Laufbahn ebenso wie sein berufspolitisches Wirken. Im Rahmen der „Gleichschaltung“ verlor er sein Amt als Bürgerschaftspräsident ebenso wie seine Mitgliedschaft im Vorstand der Hanseatischen Anwaltskammer. Zu seinen letzten Amtshandlungen als Bürgerschaftspräsident zählte die ihm obliegende Vereidigung des ersten mehrheitlich aus Nationalsozialisten zusammengesetzten Hamburger Senats am 8. März 1933. Der spätere Hamburger Justizsenator Dr. Hans Harder Biermann-Ratjen (1901-1969) hat die bei dieser Gelegenheit von Ruscheweyh im Großen Festsaal des Hamburger Rathauses gehaltene kurze Ansprache später als „letzte Kundgebung freiheitlicher Staatsgesinnung“ vor dem Einbruch der Diktatur bezeichnet.

Das Jahr 1933 wird zu einem Schlüsseljahr in Ruscheweyhs Leben, da die politische Entwicklung den überzeugten Demokraten und Befürworter des liberalen Rechtsstaats vor die Frage stellte, wie er sich als Rechtsanwalt in einem totalitären Regime verhalten sollte. Er entschied sich dafür, so wenig Konzessionen wie möglich zu machen, aber sich auch in dem Maße anzupassen, wie es ihm für das Bewahren von Leib und Leben nötig schien. Mit dieser Haltung überstand Ruscheweyh die NS-Zeit, bewies aber seine Charakterfestigkeit dadurch, dass er die Verfolgten des NS-Regimes, insbesondere seine sozialdemokratischen Freunde, Kommunisten und zahlreiche jüdische Mandanten anwaltlich nicht nur beriet, sondern auch öffentlich vor Behörden und Gerichten vertrat.

Die Strafverteidigung in politischen Strafsachen stand in den Jahren 1933/1934 im Mittelpunkt der anwaltlichen Tätigkeit Ruscheweyhs. Insbesondere als Verteidiger des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Dr. Julius Leber (1891-1945) in einem Prozess vor dem Lübecker Schwurgericht stand er im Mai 1933 im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Hintergrund für diesen Strafprozess war eine Schlägerei mit Nationalsozialisten, in die Leber Ende Januar 1933 geraten war. Die Lübecker Nationalsozialisten hatten die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler mit einem Fackelzug gefeiert, in dessen Verlauf und Anschluss es zu gewalttätigen Zusammenstößen mit Antifaschisten und insbesondere auch auf einen Überfall auf Leber und seine Begleiter gekommen war. Nachdem im Juni 1933 der gesamte Parteivorstand der Hamburger SPD während einer Vorstandssitzung durch Staatspolizei - so hieß in Hamburg bis 1935 die Geheime Staatspolizei - SA und SS festgenommen und inhaftiert worden war, bemühte sich Ruscheweyh sofort unermüdlich um die Feststellung des zunächst unbekannten Verbleibs der Festgenommenen. In zähen Verhandlungen mit dem Reichsstatthalter Karl Kaufmann (1900-1969) und dem Polizeisenator Alfred Richter (1895-1981) gelang es Ruscheweyh in der Folgezeit, die Freilassung der Inhaftierten zu erwirken, die als sog. „Schutzhäftlinge“ zum Teil in das Konzentrationslager Fuhlsbüttel verbracht und dort teilweise schwer misshandelt worden waren. Unter den Inhaftierten befanden sich u.a. der frühere Senator Adolph Schönfelder (1875-1966) sowie die vormaligen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Dr. Hans Staudinger (1889-1980) und Gustav Dahrendorf (1901-1954).

Aufgrund der fortgesetzten anwaltlichen Beratung der politischen Gegner des Nationalsozialismus, seiner politischen Vergangenheit als führender Hamburger Sozialdemokrat und Sozius eines prominenten jüdischen Anwalts – die Sozietät mit Dr. Eichholz musste Ruscheweyh 1936 auflösen als das NS-Regime massiven Druck auf die Sozien sog. „gemischter Sozietäten“ ausübte – war Ruscheweyh zwangsläufig auch in das Blickfeld der Geheimen Staatspolizei geraten und war in diesem Sinne in den Jahren von 1933 bis 1945 „Anwalt unter Druck“. Insbesondere die anwaltliche Beratung politisch links ausgerichteter Kreise erforderte nach dem Erlass des Gesetzes über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7. April 1933 äußerste Vorsicht. Dieses Gesetz schrieb zwingend den Ausschluss von Personen aus der Anwaltschaft vor, „die sich in kommunistischem Sinne betätigt haben.“ Die sich frühzeitig abzeichnende extensive und willkürliche Auslegung dieses unbestimmten Tatbestandes durch die Landesjustizverwaltungen und die Weigerung speziell der unter der Leitung des überzeugten Nationalsozialisten Dr. Curt Rothenberger (1896-1959) stehenden hamburgischen Landesjustizverwaltung, klare Aussagen zur Tatbestandsauslegung zu treffen, bedeutete für Ruscheweyh ein erhebliches berufliches Risiko. Um seine berufliche Stellung nicht zu gefährden, entschloss er sich - ohne dazu gesetzlich verpflichtet zu sein - vor der Übernahme eines Mandates die Zustimmung der Landesjustizverwaltung einzuholen. Auch wenn die Landesjustizverwaltung Ruscheweyh in mehreren Fällen mitteilte, dass der Übernahme einer Verteidigung Bedenken entgegenstehen und er daraufhin das ihm angetragene Mandat nicht annahm, gelang es ihm nach einer derartigen Anfrage dennoch, in zahlreichen Fällen als Wahlverteidiger in Hochverratsverfahren vor dem Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts aufzutreten. Schon bald aber führten neue strafprozessuale Vorschriften dazu, dass die Wahl des Verteidigers in Hochverratsverfahren der Genehmigung durch den Vorsitzenden des Gerichts bedurfte. Diese Regelung ermöglichte es der Staatspolizei im Zusammenwirken mit der hamburgischen Landesjustizverwaltung Ruscheweyh ab 1934 als Strafverteidiger in politischen Strafprozessen weitgehend auszuschalten. Der Vorsitzende des Strafsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts, Dr. Otto Roth (1878-1937), sah nach einer persönlichen Intervention des Justizsenators Rothenberger bei ihm davon ab, Ruscheweyh Genehmigungen zur Übernahme einer Verteidigung zu erteilen.

Aber auch in seiner zivilrechtlichen Praxis blieb er im Blickfeld der Geheimen Staatspolizei, die sich 1937 gegen Ruscheweyhs Bestellung zum Vormund und Unterhaltspfleger wandte. Die Beobachtung seiner anwaltlichen Tätigkeit durch die Geheime Staatspolizei hinderte Ruscheweyh jedoch nicht daran, noch in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre und damit in einer Zeit der radikalisierten nationalsozialistischen Judenpolitik jüdische Mandanten zu beraten, die der NS-Staat durch Devisenstrafverfahren aus dem Wirtschaftsleben zu drängen suchte. Ruscheweyh verteidigte noch 1938 jüdische Mandanten in Devisenstrafprozessen und beriet sie in den Wochen nach der Reichspogromnacht in Auswanderungsangelegenheiten ebenso wie er sie öffentlich gegenüber Behörden vertrat. Er gehörte zu den wenigen Hamburger Anwälten, die sich noch zu diesem Zeitpunkt bereit fanden, jüdische Mandanten zu vertreten.

Sein anwaltliches Geschick, seine Besonnenheit und der tadellose Ruf, den er innerhalb der hamburgischen Anwaltschaft seit den 1920er Jahren genoss, bewahrten Ruscheweyh vor drastischen Maßnahmen des NS-Regimes gegen seine Person. Erst im Jahre 1944 wurde er im Rahmen der vom Reichssicherheitshauptamt geleiteten und insbesondere gegen ehemalige sozialdemokratische und kommunistische Parlamentarier gerichteten sog. „Gewitteraktion“ festgenommen und vier Wochen im Polizeigefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel inhaftiert. Es gelang den Nationalsozialisten jedoch nicht herauszufinden, dass Ruscheweyh zu den wenigen Hamburger Sozialdemokraten gehörte, die im Vorfeld des 20. Juli 1944 von Gustav Dahrendorf über die Attentatspläne auf Hitler informiert worden waren. Bezeichnenderweise setzten sich zahlreiche nationalsozialistisch gesinnte Hamburger Juristen aus der Justiz und Anwaltschaft für Ruscheweyhs Entlassung ein. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die wohlwollende Stellungnahme von Rechtsanwalt Justizrat Dr. Curt Engels (1884-1964). Engels war einige Jahre vor der sog. „Machtergreifung“ der NSDAP beigetreten. Obwohl sich der Nationalsozialist Engels und Ruscheweyh im Jahre 1932 in einem der vorerwähnten Hitler-Prozesse gegenübergestanden hatten und Zeitgenossen überlieferten, dass die Engels von Hitler erteilte Prozessvollmacht eingerahmt in seinem Büro hing, setzte er sich als Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer mit einer positiven Stellungnahme bei der Geheimen Staatspolizei für Ruscheweyhs Entlassung ein. Aufgrund vielfältiger Initiativen der Hamburger Juristenschaft kam es nach vierwöchiger sog. „Schutzhaft“ zur Entlassung Ruscheweyhs, der bereits wenige Tage später seine Praxis wieder aufnahm.

Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ und dem damit verbundenen weiteren Systemwechsel gehörte Ruscheweyh unter den führenden Hamburger Anwälten zu den wenigen in politischer Hinsicht Unbelasteten. Das Jahr 1945 wurde zu einem weiteren Schlüsseljahr seines Lebens, weil seine Zeitgenossen ihm mit Blick auf seine persönliche Integrität während der NS-Zeit nahelegten, sich maßgeblich an der Wiederaufbauarbeit zu beteiligen. Ruscheweyh zögerte nicht und übernahm zunächst eine zentrale Stellung beim Neuaufbau der Hamburger Anwaltschaft. Als führendes Mitglied des nach der Kapitulation ins Leben gerufenen Arbeitsausschusses der Hamburger Anwaltschaft fiel ihm zum einen die Rolle des „ehrlichen Maklers“ zwischen den Vertretern der hamburgischen Anwaltschaft und den Repräsentanten der britischen Militärregierung zu. Zum anderen engagierte er sich für einen zügigen Wiederaufbau der anwaltlichen Standesorganisationen. Innerhalb kurzer Zeit erwarb sich Ruscheweyh hierbei die Anerkennung der Vertreter der Militärregierung, was zur Folge hatte, dass die Briten ihn während der Besatzungszeit wiederholt bei der Lösung zentraler im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau eines rechtsstaatlichen deutschen Justizwesens auftretenden Fragestellungen hinzuzogen. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang die Konzeption des Zentral-Justizamtes zu nennen, der höchsten deutschen Justizbehörde innerhalb der Britischen Besatzungszone, an der Ruscheweyh im Jahre 1946 maßgeblich beteiligt war. Damit entfaltete Ruscheweyh schon in der Besatzungszeit eine weit über die Grenzen Hamburgs hinausgehende Wirksamkeit, die er nach der Gründung der Bundesrepublik und dem damit einhergehenden letzten Systemwechsel seines Lebens nahtlos fortsetzen konnte. Der Aufbau und die Sicherung eines die Würde des Menschen achtenden demokratischen Rechtsstaates war für Ruscheweyh nach den Erfahrungen des Scheiterns der Weimarer Republik und nach der NS-Zeit nicht nur eine zu lösende „technische Aufgabe“, sondern ein persönliches Anliegen. Gleichwohl erforderte es intensiver Überzeugungsarbeit, den tief im Anwaltsberuf verwurzelten Ruscheweyh zum Übertritt in den hamburgischen Justizdienst zu bewegen. Es bedurfte der großen persönlichen Autorität des national wie international hochangesehenen Oberlandesgerichtspräsidenten Dr. Wilhelm Kiesselbach (1867-1960), um Ruscheweyh Ende 1945 zu überzeugen, zunächst das Amt des Vizepräsidenten und bald darauf in der Nachfolge Kiesselbachs das Amt des Präsidenten des Hanseatischen Oberlandesgerichts zu übernehmen. In diesem Amt wirkte er bis 1960 und trug maßgebend zum Wiederaufbau eines rechtsstaatlichen hamburgischen Justizwesens bei. Zunächst gehörten die Vorarbeiten für das Zentral-Justizamt der Britischen Zone, die Neugründung der Gesellschaft Hamburger Juristen, der – letztlich erfolglose Kampf – um die Erhaltung der traditionellen hanseatischen Gerichtsgemeinschaft mit Bremen und schließlich die Ausarbeitung einer Verwaltungsgerichtsordnung für die Britische Zone zu den Tätigkeitsschwerpunkten des Präsidenten, hinter die seine richterlichen Tätigkeiten als Vorsitzender des Strafsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts und des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts zurücktraten. In den Jahren 1948 bis 1951 übernahm Ruscheweyh das Präsidium im Deutschen Obergericht für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet in Köln und konnte seine exponierte Stellung als höchster deutscher Richter für ein verstärktes rechtspolitisches Engagement nutzen. Insbesondere gelang es Ruscheweyh, über Juristen- und Präsidentenkonferenzen einen gewissen Einfluss auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Justizverfassung zu gewinnen. Sein rechtspolitisches Wirken behielt Ruscheweyh auch nach seiner Rückkehr in seine Hamburger Ämter bei. In den 1950er Jahren übernahm er den Vorsitz der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages und leitete mehrere Juristentage, 1956 übernahm er den Vorsitz in der Kommission zur Vorbereitung einer Reform der Zivilgerichtsbarkeit.

Herbert Ruscheweyh war im 20. Jahrhundert eine Zentralfigur des hamburgischen Rechtslebens. Er vereinigte in Hamburg und von Hamburg ausgehend in seiner Person über viele Jahrzehnte einen so außerordentlich umfangreichen Wirkungsbereich und so ausgeprägten Öffentlichkeitsbezug wie kaum ein anderer Hamburger Jurist. Während seines juristischen Berufslebens diente er nacheinander und nebeneinander allen drei klassischen Staatsgewalten an hervorragender Stelle. Dabei verdeutlicht sein beruflicher Lebensweg in exemplarischer Weise hamburgische Besonderheiten. Typisch für einen Hamburger Juristen war traditionell und bis weit in das 20. Jahrhundert ein mehrfacher Wechsel zwischen den einzelnen juristischen Berufen auf der Grundlage einer zunächst ausgeübten anwaltlichen Tätigkeit. Vorbildlich stehen uns seine tiefe Menschlichkeit, seine auch vor dem Hintergrund der grundlegenden Umbrüche des 20. Jahrhunderts charakterfeste Haltung zu allen Zeiten, sein außerordentlich hohes Pflichtgefühl gegenüber dem Gemeinwohl und die Bereitschaft, Verantwortung in schwierigen Zeiten zu übernehmen, vor Augen.

 

Daniel Ihonor

- zum nächsten Artikel -