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„angedockte“

Strafkammern

 

Überträgt ein Präsidium einem Vorsitzenden eines Spruchkörpers zusätzliche Aufgaben - insbesondere den Vorsitz in einem weiteren Spruchkörper -, die er in Folge ohnehin schon bestehender starker Inanspruchnahme voraussehbar nicht erledigen kann, so liegt in Bezug auf die zusätzlichen Aufgaben ein Fall der Verhinderung gemäß § 21f Abs. 2 GVG nicht vor.

HansOLG Hamburg, Beschluss vom 9.10.02

- 1 Ss 112/02 -

 

Gründe:

Die zulässige Revision hat mit ihrer formellen Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 1 StPO Erfolg.

 

Soweit diese Rüge mit einer fehlerhaften Anwendung des § 21f Abs. 2 GVG begründet wird, genügt sie den Anforderungen des § 344 Abs. 2 StPO. Die diesbezüglich relevanten Tatsachen sind – soweit nicht ohnehin offenkundig – vorgetragen. Anders als die Generalstaatsanwaltschaft ist der Senat der Auffassung, dass die gedankliche Verknüpfung der vorgetragenen - und auch belegten - Tatsachen es ermöglicht, das Vorbringen aus sich heraus zu verstehen und zu bewerten (zum Umfang der Darlegungspflichten bei der Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 1 StPO s. auch BGH StV 02, 475 m.w.N.).

 

Danach ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:

Nach rechtzeitiger Einlegung der Berufung gegen das amtsgerichtliche Urteil vom 19.6.01 durch den Angeklagten ging die Verfahrensakte am 17.8.01 beim Landgericht ein und gelangte entsprechend dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichtes Hamburg an die Kleine Strafkammer X. Vorsitzender dieser Kleinen Strafkammer war VRiLG T., 1. stellv. Vorsitzender RiAG R., 2. stellv. Vorsitzende Ri’inLG We. und 3. stellv. Vorsitzende Ri’inLG Wo.. VRiLG T. war zeitgleich Vorsitzender der Großen Strafkammer Y, RiAG R. und Ri’inLG We. waren die ordentlichen Beisitzer dieser Großen Strafkammer. Nachdem Ri’inLG We. bereits am 10.9.01 in dem Berufungsverfahren tätig geworden war, indem sie die Akte der Staatsanwaltschaft mit der Frage zuschrieb, ob ein Antrag auf Anordnung eines dinglichen Arrestes aufrechterhalten werde, stimmte sie am 8.1.02 mit dem Verteidiger des Angeklagten einen Verhandlungstermin für den 29.1.02 ab. Dementsprechend terminierte Ri’inLG We. am 9.1.02 auf den 29.1.02 und lud die Verfahrensbeteiligten. Noch am 9.1.02 teilte VRiLG T. dem Vizepräsidenten des Landgerichtes mit, durch seine Tätigkeit als Vorsitzender der Großen Strafkammer Y, nämlich wegen der Vorbereitung zweier umfangreicher Hauptverhandlungen, sei er daran gehindert, den Vorsitz in der Berufungsverhandlung am 29.1.02 zu führen. RiAG R. sei durch seine Tätigkeit als 1. stellv. Vorsitzender der Großen Strafkammer Y und auch der Kleinen Strafkammer X ebenfalls verhindert, da er als 1. stellv. Vorsitzender der Großen Strafkammer Y den Vorsitz in der seit dem 19.11.01 laufenden Hauptverhandlung ... führe und als 1. stellv. Vorsitzender der Kleinen Strafkammer 29  am 22.1. und 29.1.02 den Vorsitz in der Berufungssache ... führen werde. Mit Verfügung vom 11.1.02 stellte der Vizepräsident des Landgerichtes fest, der Verhinderungsfall sei gegeben. Daraufhin wurde am 29.1.02 die Berufungsverhandlung gegen den Angeklagten unter Vorsitz von Ri’inLg We. durchgeführt. Die Berufung wurde im Wesentlichen verworfen.

 

Ein Fall der Verhinderung i.S.d. eng auszulegenden (vgl. HansOLG, NStZ 84, 570) Vorschrift des § 21f Abs. 2 GVG lag nicht vor, da VRiLG T. nicht nur vorübergehend außerstande war, die ihm nach dem Geschäftsverteilungsplan obliegenden konkreten Aufgaben des Vorsitzenden der Kleinen Strafkammer X wahrzunehmen (zur Definition der Verhinderung vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, 45. Aufl., Rn 4 zu § 21f GVG m.w.N.).

 

Zwar darf sich eine Verhinderung auch „über einen gewissen Zeitraum erstrecken“, dieser Zeitraum muss jedoch übersehbar sein und diese Verhinderung muss in der Regel ihre Ursachen in der Person des „Verhinderten“ haben (vgl. dazu auch BGHSt 21, 131). Dabei handelt es sich zumeist um unerwartete Ereignisse wie z.B. nicht vorhergesehene Dienstunfähigkeit. Handelt es sich hingegen um eine von der Justizverwaltung bewusst herbeigeführte „Verhinderung“ – so z.B. die Nichtnachbesetzung einer Vorsitzendenstelle wegen einer sogenannten Haushaltssprerre (vgl. BGH JR 86, 66) -, so liegt darin eine Umgehung des verfassungsrechtlich garantierten Anspruches auf den gesetzlichen Richter. Bezogen auf eine etwaige Überlastung des ordentlichen Vorsitzenden gilt Entsprechendes. Ist die Überlastung durch strukturelle Maßnahmen veranlasst, so ist sie vorhersehbar, nicht vorübergehend und nicht auf die besonderen Umstände des Einzelfalles zurückzuführen und damit kein Grund für eine Verhinderung i.S.d. § 21f Abs. 2 GVG. Ansonsten hätte es die Justizverwaltung in der Hand, durch Zuweisung zusätzlicher Aufgaben eine permanente Verhinderung des ordentlichen Vorsitzenden herbeizuführen. Schon die Möglichkeit sachfremder Eingriffe der Verwaltung in die Besetzung muss jedoch ausgeschlossen sein (vgl. HansOLG a.a.O.).

 

Die hier in Rede stehende Regelung des Geschäftsverteilungsplanes des Landgerichtes Hamburg war eine solche strukturelle Maßnahme. Die Vertretungsregelung für den Vorsitzenden der Kleinen Strafkammer 29 war bereits darauf angelegt, den Vorsitzenden von den ihm obliegenden Aufgaben – gewissermaßen arbeitsteilig – zu entlasten und damit den Sinn des § 21f Abs. 1 GVG, die Gewährleistung des richtunggebenden Einflusses eines zum Vorsitzenden Richter am Landgericht beförderten Richters, zu unterlaufen. Diese vorstrukturierte Handlungsanleitung hat sich in vorliegendem Fall auch konkretisiert.

 

Dass hier mit dem Geschäftsverteilungsplan bewusst die Struktur für einen Verstoß gegen Art. 101 GG geschaffen wurde, ergibt sich aus Folgendem: 

 

Aufgrund der durch das RpflEntlG der Großen Strafkammer gemäß § 76 Abs. 2 GVG eingeräumten Möglichkeit der Verhandlung mit einem Vorsitzenden und nur einem Berufsrichter als Beisitzer – einer Möglichkeit, von der bis an die Grenze der Willkür Gebrauch gemacht wird – trägt der Vorsitzende in noch stärkerem Maße die Hauptlast der auf die Große Strafkammer entfallenden Aufgaben. Im Verhältnis dazu wurden durch das RpflEntlG bei den Beisitzern der Großen Strafkammern Kapazitäten freigesetzt. 

 

Dass die Großen Strafkammern des Landgerichtes Hamburg chronisch überlastet sind, ergibt sich – konkretisiert in Bezug auf die Große Strafkammer Y – schon aus der zitierten Verhinderungsanzeige vom 9.1.02.

 

Wenn nun, wie hier geschehen, dem aus o.g. Gründen ohnehin stark überlasteten Vorsitzenden der Großen Strafkammer Y zusätzliche Aufgaben als Vorsitzender einer Kleinen Strafkammer aufgebürdet wurden, so geschah dies zwangsläufig in dem Bewusstsein, dass der Vorsitzende diese Aufgabe kaum noch würde bewältigen können. Wenn außerdem als seine Vertreter in der Kleinen Strafkammer die in Folge der stark praktizierten Möglichkeit der Verhandlung in der sogenannten Zweierbesetzung weniger belasteten Beisitzer der von ihm geführten Großen Strafkammer eingesetzt werden, so wird die Ventilfunktion dieser Konstruktion deutlich, die damit eine bewusste Umgehung des Prinzips des gesetzlichen Richters darstellt.

 

Dass eine dahingehende Arbeitsteilung gewollt ist, wird überdies durch folgende Überlegung indiziert:

 

Der objektive Sinn des Rechtsmittels der Berufung und des Berufungsverfahrens ergibt sich nicht schon daraus, dass in einer zweiten Tatsacheninstanz andere Richter zu anderen Beweisbewertungen kommen können, so z.B. die Richter der Kleinen Strafkammer im Vergleich zum Schöffengericht. Wie auch bei den Rechtsmittelzügen im Übrigen leitet sich die Sinnhaftigkeit einer Behandlung des Verfahrensgegenstandes in einer nächsthöheren Instanz auch daraus ab, dass jedenfalls prinzipiell an der Rechtsmittelentscheidung besonders erfahrene und insgesamt noch besser qualifizierte Richter beteiligt sind. Dementsprechend werden nach dem Prinzip der Bestenauslese auszuwählende Richter zum Vorsitzenden Richter am Landgericht befördert und mit den Aufgaben eines Kammervorsitzenden betraut (vgl. Hans OLG a.a.O.). Diesem Grundgedanken folgend werden Vorsitzende Richter, die ausschließlich als Vorsitzende einer Kleinen Strafkammer tätig sind, nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichtes nur durch Vorsitzende Richter vertreten. Dass solches hier nicht geschehen ist, ist ein weiterer Hinweis auf das Vorliegen o.g. Intention des Geschäftsverteilungsplanes, nämlich einer planmäßigen Arbeitsteilung in Bezug auf die Aufgaben der Kleinen Strafkammer.  

 

Dass sich – wie bereits erwähnt – diese vorstrukturierte Handlungsanleitung, die bereits für sich genommen den Verstoß gegen das mit Verfassungsrang versehene Prinzip des gesetzlichen Richters bedeutet, in vorliegendem Fall auch konkretisiert hat, nämlich in der Form, dass der ordentliche Vorsitzende der Kleinen Strafkammer X sich seinen zeitgleich zu erledigenden Aufgaben als Vorsitzender der Großen Strafkammer Y gewidmet und die Aufgaben des Vorsitzenden der Kleinen Strafkammer an seine beiden Beisitzer aus der Großen Strafkammer delegiert hat, ergibt sich aus der eingangs dargestellten Verfahrensgeschichte:

 

Ri’inLG We. betreute das Berufungsverfahren bereits unmittelbar nach Eingang der Akte beim Landgericht. Die erforderliche Feststellung der Verhinderung(en) erfolgte jedoch erst zu einem Zeitpunkt, als Ri’inLG We. die Sache schon terminiert hatte, und zwar unter alleiniger Berücksichtigung ihrer zeitlichen Möglichkeiten. Denn schon vorher stand fest, dass der 1. Vertreter, RiAG R., eine andere Berufungsverhandlung auf denselben Tag terminiert hatte.

 

Etwaige fiskalische Erwägungen, wie z.B. die Einsparung von R 2 Stellen, oder pragmatische Überlegungen, wie z.B. das Schaffen von Gelegenheit für Beisitzer, Verhandlungserfahrung zu sammeln, hätten hinter Art. 101 GG zurückzutreten.

 

Das Urteil war daher vollen Umfanges aufzuheben.

 

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Stellungnahme des Präsidiums

des Landgerichts Hamburg

zum Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 09.10.02 (1 Ss 112/02)

 

Zu dem vorbezeichneten Beschluss nimmt das Präsidium des Landgerichts Hamburg folgendermaßen Stellung:

 

1.

Das Präsidium des Landgerichts Hamburg verwahrt sich gegen den im Beschluss des 3. Strafsenats des HansOLG erhobenen Vorwurf, mit der Regelung im Geschäfts-verteilungs­plan bewusst die Struktur für einen Verstoß gegen Art. 101 GG geschaffen zu haben. Die personengleiche Besetzung des Vorsitzes Großer und Kleiner Strafkammern und die getroffene Vertretungsregelung ist nicht auf eine Umgehung des gesetzlichen Richters angelegt. Ziel der vom 3. Strafsenat beanstandeten Regelung im Geschäftsverteilungsplan war vielmehr die sach­gemäße und gesetzmäßige Verteilung der Geschäfte, mithin die Erfüllung der gesetzlichen Aufgabe des Präsidiums.

 

In der Tat ist das Rechtspflegeentlastungsgesetz aus dem Jahr 1993 Ausgangspunkt der Überlegungen für die personengleiche Besetzung im Vorsitz Großer und Kleiner Strafkam­mern gewesen; dabei ging es aber zunächst darum, dass durch dieses Gesetz die früher bestehende Zuständigkeit der Großen Strafkammern für Berufungen gegen Urteile der Schöffengerichte auf die Kleinen Strafkammern übertragen worden war und sich deswegen für das Präsidium die Frage stellte, wie viele Große Strafkammern wegen der Zunahme der Berufungen bei den Kleinen Strafkammern in Kleine Strafkammern umgewandelt werden müssten. Daneben hatte das Präsidium in einer Zeit erheblicher Stellenstreichungen auch eine möglichst sachgerechte Verteilung der Arbeit sicherzustellen. Dieser vom Gerichtsverfassungsgesetz dem Präsidium übertragenen Aufgabe ist das Präsidium in rechtlich vertret­barer Weise nachgekommen. Die vor diesem Hintergrund umgesetzte Vertretungsregelung verstößt nicht gegen das Gerichtsverfassungsgesetz. Es war und ist auch heute nicht ersichtlich, dass aus gerichtsverfassungsrechtlichen Gründen der Vorsitzende einer Kleinen Strafkammer generell nicht durch einen Richter am Landgericht vertreten werden kann. Ent­sprechende Regelungen gibt es auch an anderen Landgerichten.

 
Soweit in dem Beschluss des 3. Strafsenats – ohne Bezug zum konkret entschiedenen Fall - die Verhandlungspraxis der Großen Strafkammern mit nur 2 Berufsrichtern kritisiert wird, ist klarzustellen, dass der Bundesgerichtshof diese Verhand­lungspraxis bisher nicht bean­standet hat.     

 

2.

Die die Beschlussgründe tragende Behauptung des 3. Strafsenats, für die Vorsitzenden sei die Wahrnehmung des Vorsitzes der Kleinen Strafkammer voraussehbar kaum zu bewälti­gen, wird durch die Praxis nicht bestätigt. Hauptverhandlungen in den hier betroffenen Kleinen Strafkammern werden vielmehr in maßgeblichem Umfang von den Vorsitzenden durchgeführt. Insgesamt ergibt sich ein sehr differenziertes Bild der Handhabung bei den verschiedenen Kammern, so dass sich eine pauschale, rechtstatsächlich nicht begründete Bewertung nach Auffassung des Präsi­diums verbietet.

 

3.

Trotz der vorstehenden rechtlichen und tatsächlichen Einwände nimmt das Präsidium des Landgerichts zur Kenntnis, dass der Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 9. Oktober 2002 faktisch für das Landgericht eine Bindungswirkung entfaltet, da er rechts­kräftig ist.


Das Präsidium wird daher ohne Aufgabe seines Rechtsstandpunktes die ihm notwendig erscheinenden Schritte zu einer Änderung der Geschäftsverteilung im Bereich der Kleinen Strafkammern unverzüglich ergreifen. Dabei ist folgendes klarzustellen: Infolge der seit 1995 erfolgten massiven Stellenstreichungen von 245 auf jetzt noch 210 Richterstellen ist die Pro-Kopf-Belastung in allen Verfahrensbereichen des Landgerichts derart gestiegen, dass die Grenze der Belastbarkeit deutlich überschritten ist. Darauf haben die Richterinnen und Richter des Landgerichts in einer öffentlichen Erklärung am 5. Juni 2001 hingewiesen. Diese Erklärung ist seinerzeit in der Öffentlichkeit und der Politik mit großer Zustimmung aufgenommen worden. Die damalige Situation besteht fort. Die Umsetzung der Vorgaben des Beschlusses vom 9.10.2002 erfordert die Bildung weiterer Kleiner Strafkam­mern. Ohne Verstärkung des Personalbestandes wäre dies nur durch Auflösung anderer Spruchkörper möglich. Die zwangsläufige Folge wäre, dass in den betroffenen Bereichen die Funktionsfähigkeit der Rechtsprechung weiter massiv beeinträchtigt würde.

 

Hamburg, den 10. Oktober 2002

Das Präsidium des Landgerichts Hamburg