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Zur Selbstverwaltung der Gerichte ein Auszug aus:
Prof. Dr. iur. Michael Köhler, Universität Hamburg,
Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung,
Schleswig-Holsteinische Anzeigen 2001, 201 - 204

(Mit Fußnoten versehener Text, den der Verfasser auf Einladung des Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts Schleswig auf der Fortbildungsveranstaltung "Richterliche Ethik" am 9. Mai 2001 in Sankelmark gehalten hat.)

S. 201:

"... Anlass zu den Überlegungen geben eine Reihe von Symptomen, die auf eine angefochtene Stellung der Justiz im Gesamtgefüge der Verfassung hinweisen könnten. ...
In Betracht kommen vielmehr die langfristige Tendenz zur Vernachlässigung und permanenten Überlastung der Justiz, Reorganisationsbestrebungen unter justizfremden Gesichtspunkten (z.B. der Abbau kollegialer Spruchkörper aus Ersparnis), die Steuerung des Ernennungs- bzw. Beförderungswesens seitens der Exekutive bzw. der parteienverbundenen Exekutive und Legislative. Als bisheriger Gipfel der Missachtung der 3. Gewalt erscheint auch in der öffentlichen Auseinandersetzung die teils spektakuläre, teils schleichende Auflösung des selbständigen Justizressorts in der Regierung ..."

S. 202:

"... Die drei Rechtsfunktionen müssen, da sie den vereinigten Rechtswillen aller in einem je für sich notwendigen Teilmoment oder Teilprinzip zu realisieren haben, als Gewalten, oder besser: als Rechtsmächte (pouvoir d. h. Vermögen, Macht) teilverfasst sein. Sie stehen also je in einem eigenen Repräsentationsverhältnis zur Volkssouveränität ('der allgemein vereinigte Wille in dreifacher Person') - und zwar zunächst im Hinblick auf ihr schlüssiges Zusammenwirken zur allgemeingültig-objektiven Rechtsverwirklichung. Diese Willensintegration ist die primäre und positive Seite des Grundsatzes. Die Unabhängigkeit voneinander, die verfassungsmäßige Teilung der Gewalten ist nur das kritische Korrelat der jeweiligen Besonderheit der Rechtsfunktionen in der schlüssigen Einheit ihres Zusammenwirkens. ..."

S. 203:

"... Nach der Idee des Rechtsstaates folgt nun aus der Rechtsprechungsfunktion ihre gleichrangig-eigenständige Repräsentation unter dem Verfassungswillen aller. Die Gewährsleute für die Folgerung sind Montesquieu und Kant. Die fundamentale Bestimmung ist also, dass die Justiz gerade im Hinblick auf ihre Funktion systematischer Gesetzesobjektivierung unter dem Verfassungswillen selbständig konstituiert sein muss, als eigene Justizverfassung im umfassenden Sinne - terminologisch und sachlich unterschieden von der bisherigen Gerichtsverfassung. In dieser Sicht ist die sachliche und persönliche Unabhängigkeit des Richters (Art. 97) in seiner Entscheidung, übrigens auch seine Freiheit von Präjudizien, nur die selbstverständliche Ausprägung der teilverfassungsförmigen Selbständigkeit der rechtsprechenden Gewalt als Institution im Verhältnis zu den anderen Teilgewalten.
...
Aber aus dem Erfordernis der juristischen Qualifikation folgt keineswegs der Einbezug und die Unterordnung der Justiz in die früher monarchische Exekutive - die Regierung und ihre Regelungsmaximen. Zwar ergibt sich daraus andererseits auch nicht eine Art von Selbstkooptationsbefugnis der Richterschaft; denn auch die 3. Gewalt darf sich nicht auf ständische Weise verselbständigen, sondern muss sich repräsentativ auf den Rechtswillen aller zurückführen (Vgl. dazu die Arbeit von Böckenförde: Verfassungsfragen der Richterwahl, Berlin 1974). Wohl aber folgt daraus, dass in der grundsätzlich selbständigen Repräsentationsform der Justiz sowohl der fachlich-juristische Gesichtspunkt, als auch die republikanische Legitimation der Richter-Amtspersonen bei der Organisation der Spruchkörper und der Berufung der einzelnen Richterperson miteinander zum Ausgleich zu bringen sind. ..."

S. 204:

"... Von einer wirklichen Justiz-Teilverfassung kann gegenwärtig in Deutschland nicht die Rede sein, allenfalls von einer Gerichtsverwaltung (Vgl. NWVerfGH NJW 1999, 1243). In dieser Sicht wirkt also der vor-republikanische Zustand einer zunächst monarchisch regierten Justiz fort. Dieser Zustand hat sich auf eigenartige Weise in das parlamentarische Regierungssystem übersetzt. In der Anfangszeit der bundesrepublikanischen Verfassung herrschte noch die Vorstellung, gerade der Justiz könne gegenüber der verbundenen Legislative-Regierung die Funktion eines nachhaltigen Gegengewichtes zukommen. Aber dies ist illusionär. Vielmehr bedeutet die Dominanz der durch die Parteien-Verbände miteinander verschränkten Exekutive und Legislative, die Übermacht der Regierung für die Justiz eher noch einen Schritt zurück, sozusagen unter Negation selbst des Justizministeriums, wie man sieht. Herrscht doch in dem durch das Regierungshandeln dominierten Intervention- und Maßnahmenstaat die Tendenz zur schneidigen Zweckmäßigkeit unter dem offenen Topos der Systemstabilität vor. 'Pragmatische' Vorstellungen beherrschen die Szene. Unabhängige Reflexion auf ein übergreifend Allgemeines, unabhängige Bedenkenträger oder gar unabhängige Entscheidungskompetenzen werden unter dem Gesichtspunkt des Störpotentials namentlich für ökonomische Zweckimperative eingeordnet. Dem Despoten - so könnte man ein wenig zuspitzen - ist die Orientierung des juristischen Denkens an Allgemeingültigkeit und seine Unabhängigkeit ein Dorn im Auge. In dieser Grundkonstellation und Grundstimmung liegt es nicht völlig fern, die Judikative, die in ihrer eigentlichen Funktion und der unmittelbaren Unabhängigkeit ihrer Amtsträger sich dem pragmatisch-technischen Zweckdenken nicht ohne weiteres fügt, doch wenigstens mittelbar in möglichster Abhängigkeit zu belassen oder sie dahin zu bringen.
...
Dass übrigens die Staatsanwaltschaften vielfach durch schiere Überlastung ihrer Justizaufgabe nicht mehr hinreichend gerecht werden können, ist an sich schon ein verfassungswidriger Zustand.

Das eigentliche Thema einer republikanischen Debatte müsste also sein die demokratisch eigenständig legitimierte Repräsentation der Justiz gegenüber der Regierung, also eine wirkliche Justizverfassung (Skizziert als nicht vorhanden im Urteil des NRWVerfGH NJW 1999, 1243; in den 50-er Jahren einmal im Hinblick auf die Verwaltungsgerichtsbertkeit erwogen, damals aber auf unbestimmte Zeit vertragt; s. Prantl DRiZ 1999, 149), worin die Spruchkörperbildung, die Berufung, Beförderung, Besoldung der Berufsrichter, die Verantwortlichkeiten (Aufsicht), die konstitutive Laienbeteiligung, aber eben auch die Haushaltsorganisation insbesondere die Stellen- und Sachmittelausstattung im Hinblick auf die Belastung mit Beratungs- und Entscheidungserfordernissen nach eigenen justizspezifischen Gesichtspunkten zu regeln sind - also jedenfalls unabhängig von Maximen des Regierungshandelns. Schon bisher vorhandene Teilelemente - etwa die wenngleich halbherzig geregelten Richterwahlausschüsse nach Art. 98 V GG, das Haushaltsrecht der Verfassungsgerichte - wären also systematisch einzubeziehen und zu einer wirklichen Justizverfassung zu verknüpfen. Die Chancen dafür stehen ganz dahin. Aber man muss sich jedenfalls gedanklich für die wohl noch kommende Krisenzeit wappnen. Das Hauptproblem im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes ist nicht die Schwäche der Justiz an sich, sondern die mit Qualitäts- und Ansehensverfall verbundene Deformation der Legislative im parlamentarischen Regierungssystem, die sich mittelbar auch auf die Stellung der Judikative auswirkt. ..."

(Der Auszug wurde gefertigt von RiLG Wolfgang Hirth.)