Podiumsdiskussion Rechtsmittelreform
am 17.04.2000 im Plenarsaal des HansOLG Hamburg.
Auf dem Podium:
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BJM Prof. Däubler-Gmelin
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Justizsenatorin Dr. Peschel-Gutzeit
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PräsRAK Hamburg RA Filges als Moderator
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VizePräsLG Öhlrich
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VorsRiLG Dr. Daniels
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RA Uecker (Hamburgischer Anwaltsverein)
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RA Dr. Meinberg (RAK Hamburg)
(Anmerkung)
Däubler-Gmelin
(BJM):
Gegenstand der Rechtsmittelreform:
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optimierter Rechtsschutz
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Modernisierung von Arbeitsorganisation und -mittel
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Unabhängigkeit der Gerichte
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Einbindung der Justiz in den einheitlichen Rechtsraum
Europa
Hintergrund der Rechtsmittelreform:
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Außerordentlich hohe Altersabgänge in den
nächsten Jahren begünstigen organisatorische Maßnahmen.
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Aufgabenkritik der Justiz (z.B. BetreuungsR, InsolvenzR)
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Aufgabenkritik der Richter
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Aufgabenkritik der Instanzen
Für die Aufgabenkritik sehr wichtig sei das
Richterbild.
Ziele der Rechtsmittelreform:
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Stärkung der I. Instanz
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Einzelrichterprinzip
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Aufgabenkritik der II. Instanz
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Entkoppelung der Revision vom Streitwert
Gang der Rechtsmittelreform:
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Derzeit Referentenentwurf
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Erst nach Ostern werden alle Stellungnahmen der Länder
vorliegen.
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Anschließend "Rollenspiele" mit den Ländern
und später im Bundesrat, um Schwachstellen des RefE auszumerzen.
Peschel-Gutzeit
(JM):
P-G wunderte sich über die jetzige Schönrednerei
der Justiz (das möge bloß nicht der Finanzsenator hören),
nachdem in der Vergangenheit immer die Langsamkeit und Überlastung
der Jusitz beklagt worden sei.
Ziel der Rechtsmittelreform sei es, eine Entlastung
der Gerichte zu bewirken.
Der RefE sei an folgenden Stellen verbesserungsbedürftig:
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Die ausgeweitete Aufklärungs- und Hinweispflicht
des Gerichts solle nicht nur über das Protokoll nachprüfbar sein.
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Das obligatorische Güteverfahren solle nicht so
starr gehandhabt werden.
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Die obligatorische mündliche Verhandlung unmittelbar
nach der Güteverhandlung würde eine unnötige Ressourcenbereitstellung
erfordern (vorbereitende Zeugenladung trotz eventuellen Vergleichs).
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Die Zulassung der Berufung in Bagatellverfahren möge
nicht auf Antrag, sondern von Amts wegen geprüft werden.
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Im Berufungsannahmeverfahren möge der volle Senat
nur bei Ablehnung entscheiden. Bei Annahme möge eine Einzelrichterentscheidung
genügen.
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Die PKH-Beschwerde möge verfahrensmäßig
mit dem Berufungsverfahren harmonisiert werden.
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Bei abermaliger Übertragung auf den Einzelrichter
möge größere Flexibilität möglich sein.
Öhlrich (Ri):
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Es handele sich um das erste Reformgesetz seit langem,
das in sich stimmig sei.
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Die von der Reform beabsichtigte Qualitätsverbesserung
erfordere eine deutliche Absenkung des Richterpensums.
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Das verfahrensmäßige Änderungspotential
der Reform sei nur marginal.
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Risiko der Reform: es würden verfahrensmäßige
Nebenkriegsschauplätze eröffnet.
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Bei dem postulierten Hinweis des Gerichts auf seine
Auffassung frage es sich, auf welchen Zeitpunkt abzustellen sei: auf den
der mündlichen Verhandlung (wo die Meinungsfindung des Gerichts noch
nicht abgeschlossen sei) oder auf den Zeitpunkt des Urteils (so dass zuvor
wiedereröffnet werden müßte).
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Die Pflicht zur Protokollierung der gerichtlichen Hinweise
möge entfallen.
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Die Urkundenvorlegungspflicht Dritter werde durch das
Zeugnisverweigerungsrecht verwässert und sei nicht mit dem Datenschutzrecht
harmonisiert.
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Zum Einzelrichter: Die Effizienz hänge nicht von
der Frage "Einzelrichter oder Kammer" ab, sondern vom Einsatz der konkreten
Personen. Es gebe auch ineffiziente ER und effiziente Kammern.
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Das Güteverfahren sei eine prozessuale Mißgeburt,
sei Ressourcenverschwendung und berge eine Verzögerungsgefahr. Der
Haupttermin möge abgeschafft werden. Stattdessen möge ein obligatorischer
früher erster Termin eingeführt werden.
Daniels (Ri):
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Ist-Zustand: hohe Akzeptanz bei geringer Verfahrensdauer
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Die alten Verspätungsregelungen hätten versagt.
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Die Reformziele seien in ihrer Abstraktheit zu begrüßen.
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Die Einführung von Formalien bewirke eine Verschiebung
des Streits auf das Unwesentliche.
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Die Absenkung des Berufungsstreitwerts bewirke eine
Belastung des OLG.
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Die Einführung des Annahmeverfahrens bewirke eine
Belastung des OLG (sowie einen Akzeptanzverlust; insbesondere sei die Kurzmitteilung
der Nichtannahmegründe intransparent).
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Die Verlagerung der Berufungen vom LG an das OLG bewirke
eine Belastung des OLG.
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Das OLG müsse nun - im Gegensatz zu früher
- immer einen Tatbestand schreiben und werde dadurch zusätzlich belastet.
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Die Verstärung des Einzelrichtereinsatzes bewirke
eine Aktzeptanzverminderung.
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Die Bindung des OLG an die Tatsachenfeststellungen sei
grundsätzlich richtig, solle aber flexibler gestaltet werden.
Die oben beschriebenen zusätzlichen Belastungen
des OLG würden durch die verfahrensmäßigen Berufungshindernisse
nicht aufgefangen. Dennoch denke "man" in Hamburg reformbedingt an die
Streichung von 6 OLG-Stellen.
Uecker (RA):
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Eine personelle Umschichtung vom OLG zum LG/AG werde
nicht möglich sein.
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Vielmehr müßten zusätzliche Richter
in 1. und 2. Instanz eingestellt werden.
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Außerdem müsse die Aus- und Fortbildung der
Richter intensiviert werden.
Meinberg (RA):
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Der Rechtsschutz werde zu stark abgebaut; früher
sei dies erklärtes Ziel gewesen, nun sei es der Deckmantel einer Finanzierung
der Stärkung der I. Instanz.
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Auf verstärkte Rechtsschutznachfrage könne
nicht mit Verringerung des Rechtsschutzangebots reagiert werden.
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Die bisherige Abhängigkeit der Revision vom Streitwert
sei sachgerecht.
Publikum:
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Der RefE bleibe zurück hinter dem reformierten
VwGO-Rechtsschutz.
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Auch die VwGO-Reformen hätten keine Verkürzung,
sondern eher eine Verlängerung der Rechtsstreite bewirkt.
Däubler-Gmelin (BJM):
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Im VwGO-Bereich seien nach der dortigen Rechtsmittelreform
Richterstellen vom OVG an das VG verlagert worden.
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Bürgernähe könne auch durch ausgelagerte
OLG-Senate hergestellt werden.
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Die Richter-Pensen seien zu hoch.
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"Was wir stärken wollen, muß woanders herkommen"
(gemeint: reformbedingter Mehraufwand muss an anderer Stelle in der Justiz
gekürzt werden).
Peschel-Gutzeit (BJM):
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In der bisherigen Diskussion hätten alle Landesjustizminister
immer wieder betont, dass sie wegen/trotz der Reform für die Justiz
keine zusätzlichen Mittel einwerben könnten.
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Das Einzelrichter-Prinzip habe sich auch hinsichtlich
der Akzeptanz bewährt.
RiLG Wolfgang Hirth, 17.04.2000
Anmerkung
(von RiLG Wolfgang Hirth, 18.04.2000):
Die Beiträge der RAe zeigen, dass
sogar dort die Erkenntnis Raum gewinnt, dass zusätzliche Richter
erforderlich sind.
Die Justizminister (JM) erklären,
dass zwar keine zusätzlichen Stellen finanzierbar seien, dass aber
von den Berufungsgerichten Stellen zur 1. Instanz geschoben würden.
Richtig ist, dass längst nicht alle
durch die Reform rechnerisch angeblich überflüssigen Berufungsrichter
(450 von 1.450) der I. Instanz zugute kommen werden, sondern dass davon
ein ganzer Teil völlig gestrichen werden wird zugunsten des allgemeinen
Staatshaushalts. Dies beruht offenbar auf einer Vereinbarung zwischen BJM
einerseits und LJM'n andererseits, wie sich aus dem BJM-Bericht 1999 ergibt:
"Allerdings wird nicht das gesamte durch
die Rechtsmittelreform in Zivilsachen erwirtschaftete Potential für
die Verstärkung der ersten Instanz zur Verfügung stehen. Die
Länder haben auf die weitere Behandlung des bereits erneut eingebrachten
'Entwurfs eines Gesetzes zu Vereinfachung des zivilgerichtlichen Verfahrens
und des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit' - Rechtspflegevereinfachung
(ZPO) - BT-Drs. 13/6398 - nur verzichtet, weil der Bund zugesagt hat, bei
der Rechtsmittelreform in Zivilsachen eine entsprechende Entlastung zu
erzielen."
so Seite 127 (Punkt F 1.3) des "Berichts
zur Rechtsmittelreform in Zivilsachen", 1999, BJM im Auftrag der JuMiKo,
(eine Art Vorentwurf der Reform).
Letztlich will sich also die BJM ihre Reform
von den Ländern abkaufen; die Rechnung werden die Richter zu bezahlen
haben.
Das ist umso bemerkenswerter, als die BMJ
in ihrer Oppositionszeit im Bundestagsplenum erklärte:
"Wenn wir der Meinung sind, daß
die Justiz besser werden muß und daß die Landesfinanzminister
da nicht mehr sparen dürfen, daß bei der Justiz kaum noch etwas
zu holen ist, dann ist es Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, endlich
dafür zu sorgen, daß der Unfug aufhört, daß der Bund
durch immer stärkere Belastungen, die er den Ländern aufbürdet,
mit dazu beiträgt, daß der Druck immer größer wird."
(Plenarprotokoll 13/182 vom 13.06.1997,
S. 16376)
vgl. Hirth, MHR
1/98, 39)
RiLG Wolfgang Hirth, 18.04.2000