(Dieser Artikel ist verφffentlicht in MHR 2/99) < home RiV >

Wechsel am Amtsgericht Hamburg
Einführungsrede des neuen
Amtsgerichtspräsidenten Dr. Heiko Raabe am 11.05.1999
Menschen stehen für Konzepte, Methoden und Eigenarten.

Metzinger – Raabe – zwei unterschiedliche Entwürfe, zwei Gegenentwürfe. Damit meine ich nicht das äußere Erscheinungsbild, obwohl auch dieses nicht gerade die Annahme nahelegt, wir seien eineiige Zwillinge. Metzinger ist stets in seinem Dienstzimmer anzutreffen, Raabe nie. Metzinger der große Analytiker – auf diesem Felde konnte ihm keiner das Wasser reichen –, Raabe, der Kommunikator. Metzinger planend in seinem Dienstzimmer, Raabe in der Fläche – Herr Metzinger: "Man hätte es mit uns beiden ruhig einmal versuchen sollen." Vielleicht ein Dreamteam, jedenfalls eine überzeugende Variante einer Doppelspitze, auf der Basis – sagen wir – einer R 5 Besoldung.

Kommunikation und Gespräch sind Transport und Vermittlung von Ideen, Vorstellungen und Meinungen. Das Gespräch mit der Anwaltschaft war für mich immer unverzichtbarer Teil zur Standortbestimmung der Justiz. Nur Innen- und Außensicht zusammen runden sich zu einem verläßlichen, realistischen Gesamtbild. Ich nenne hier nur die Namen Dr. Landry, vormals Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer, und Jürgen Keyl, noch Vorsitzender des Hamburgischen Anwaltvereins, mit denen ich seit Jahren über die Justiz und deren Probleme sprechen konnte. Ich möchte diesen Gesprächskontakt fortsetzen und ausbauen zu allen, die Interesse an den Amtsgerichten in Hamburg haben. Besuchen Sie uns, formulieren Sie Ihre Anforderungen und Vorstellungen, üben Sie Ihre – möglichst – konstruktive Kritik, machen Sie eigene Vorschläge und – es ist nicht verboten, auch einmal Lob und Anerkennung zu äußern, wenn Sie mit den Leistungen des Gerichts zufrieden sind, denn Lob motiviert. Sie sind herzlich und ganz persönlich von mir eingeladen.

Mit dem Amtsgericht Hamburg assoziiere ich nicht allein das, was üblicherweise in aller Munde ist: Automatisierung des Mahnverfahrens, des Grundbuchs, des Handelsregisters, Serviceeinheit, Einheitssachbearbeiter, neues Steuerungsmodell, Segmentierung etc. Ich denke vielmehr an ein mittelständisches Unternehmen mit einem erstaunlichen Output. So werden zum Beispiel jährlich 29.000 Zivilurteile und 14.000 Strafurteile verkündet, über 5.000 Ehen geschieden, 5.600 Betreuungsverfahren abgewickelt, 570.000 Mahnanträge, 116.000 Grundbuch- und 20.000 Handelsregisteranträge bearbeitet, dabei Tonnen von Akten transportiert, tausende und abertausende Akten angelegt und Daten gespeichert, nicht zählbare Blätter Papier beschrieben, Auskünfte erteilt, eidesstattliche Versicherungen abgenommen und Zwangsvollstreckungen durchgeführt. Ein Massenbetrieb, der bei allen Mängeln im einzelnen effektiv, insbesondere aber professionell arbeitet. Dies würde ich gerne dem vor- und entgegenhalten, der meint, sich über ein einzelnes Strafurteil erregen zu müssen, sich über ein einzelnes Verfahren empören zu sollen. Gerichte arbeiten – gerade im Vergleich zu manchen Bereichen der Legislative und Exekutive – professionell, insbesondere aber zielorientiert. Bei uns steht jedenfalls fest, wohin die Reise zu gehen hat – frei von tagespolitischen Prioritäten, Opportunitäten und flauen Kompromissen.

Es bleiben natürlich die Reformvorhaben – und ein Präsident wird auch dafür bestellt, diese Vorhaben voranzutreiben, zu transportieren. Zunächst ist hier der Ort, noch einmal und mit großer Deutlichkeit die außerordentlichen Verdienste meines Vorgängers, Herrn Metzinger, hervorzuheben. Er hat gerade im planerischen und organisatorischen Bereich Glänzendes geleistet und vieles auf den Weg gebracht (ich nenne hier nur die Automation des Mahnverfahrens und des Grundbuchs). Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch meine Vizepräsidentin, Frau Umlauf, nennen. Ohne sie und ihre Mannschaft würde das Insolvenzgericht nicht so dastehen, wie es heute dasteht.

Die Reformziele werden auf ganzer Linie und mit großem Engagement weiter verfolgt. Letzte Woche haben wir abschließend entschieden, die Vollautomation des Handelsregisters einzuführen. Auf die Umsetzung hoffen wir im Jahr 2001. Die Weiterentwicklung der Geschäftsstellen (Stichwort: Serviceeinheit) ist mir ein besonderes Anliegen, die Geschäftsstellen – Schalt- und Verteilungszentralen eines Gerichts. Höchste Priorität muß eine überzeugende Personalauswahl haben, überdies eine ständige Qualifizierung. Denn – wir wissen es alle – Personalpolitik ist Sachpolitik.

Auf den weiteren Reformweg würde ich gerne alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitnehmen. Gegen die Belegschaft eines Gerichts setzt eine Gerichtsverwaltung nichts durch – und ich habe in meinem Berufsleben hierzu so manches erleben dürfen. Zeichnet sich also bei einem Vorhaben eine solche Konstellation ab, sollte eine Verwaltung die Finger lieber von der Sache lassen oder am besten: Tief Luft holen und völlig neu ansetzen. Es muß in jedem Einzelfall Überzeugungsarbeit geleistet werden. Und Überzeugung in diesem Sinne wird zum Beispiel nicht dadurch gewonnen, daß Mitarbeiter unter dem Eindruck stehen, es solle reformiert werden, um der Verwaltung deren Aufgaben zu erleichtern – ich höre diese Klagen immer wieder. Man muß dies ganz leidenschaftslos sehen: Einen Richter, eine Geschäftsstellenverwalterin, eine Schreibkraft interessiert es nicht die Bohne, ob es der Gerichtsverwaltung, ob es der Justizbehörde besser oder schlechter geht, ob Reformen die Verwaltungsarbeit optimieren. Sie fragen vielmehr, was kommt für mich, für meinen Arbeitsplatz dabei heraus. Das ist so zu akzeptieren und sollte auch akzeptiert werden, wenn hinzugefügt wird, daß natürlich für das Erfordernis von Reformen auch und nicht zuletzt von Bedeutung sein muß, ob Verbesserungen in der Leistung eines Gerichts erzielt werden können. Es geht ja schließlich nicht nur um unser Wohlbefinden.

Ein Paradebeispiel für diese Problematik ist das neue Steuerungsmodell und das, was damit einhergeht: Budgetierung, Controlling, Aufgabendezentralisierung etc. Die endlose Debatte habe ich z.B. im Hamburgischen Richterverein erlebt, in der u.a. deutlich gesagt wurde, das Ganze nütze nur der Verwaltung und schade den Richtern. Ich sehe dies nicht so, sehe aber auch, daß wir noch sehr viel Arbeit, Überzeugungsarbeit und Nachdenklichkeit vor uns haben. Es wird darum gehen, ein Modell zu entwickeln, daß den Besonderheiten der Gerichte, die eben nicht öffentliche Verwaltung sind, der richterlichen Arbeit gerecht wird – mit welchem Etikett auch immer man diese Modell dann später versieht – nicht der Name sondern der Inhalt ist hier entscheidend. Apropos: Die Qualität des richterlichen Produkts, so heißt es ja heute, also des Urteils wird allein in der vom Gesetz vorgegebenen Art und Weise gesteuert und überprüft, z.B. von dem Rechtsmittelgericht, nicht aber durch irgendeine andere Instanz oder in einem anderen Verfahren. Nachdrücklich zu empfehlen ist im übrigen, wenn ich die zum Teil sehr aufgeregten Diskussionen in den letzten Monaten Revue passieren lasse, auf die Verwendung von Reizwörtern zu verzichten und sich einer Sprache zu befleißigen, die von den Endverbrauchern in den Gerichten verstanden werden kann. Denn auf deren Akzeptanz bauen wir. Wir sind auf sie angewiesen. Wenn ich z.B. lese – Zitat - :"Betriebswirtschaftlich gesehen sind Kosten der in Geldeinheiten bewertete Faktorverzehr zur Erstellung einer Leistung", so frage ich mich: Was will uns dieser Satz sagen, z.B. in Bezug auf richterliche Tätigkeit?

Ein weiteres Beispiel: Segmentierung, also Bildung kleinerer Einheiten am Amtsgericht Hamburg-Mitte. Wir sollten uns nichts vormachen: Die Segmentierung ist eine Ersatzlösung für die Gründung weiterer Stadtteilgerichte, von denen wir – zu meinem großen Leidwesen – Abschied genommen haben. Es gibt hier noch viel zu planen und zu organisieren – dies alles wird in Angriff genommen, wir sind dabei (zum Beispiel die Bildung von Budgets, bessere räumliche Zuordnung, organischer Technikeinsatz, Dezentralisierung des Personal-geschäfts.) Am Ende aber muß ein Satz stehen, den mir eine Mitarbeiterin am Amtsgericht Blankenese gesagt hat, ein Satz, der das Funktionieren eines Gerichts deutlich macht, beschreibt und zusammenfaßt: "Herr Raabe, das ist mein Gericht." Von welch hoher Identifikation zeugt diese Äußerung. Das ist mein Segment? Ich glaube, hier wird noch einiges an Wasser die Elbe herunterfließen, bis wir diesen Satz hören dürfen.

Im übrigen: Wir sollten uns keine Denkverbote auferlegen. Warum z.B. nicht über neu geschnittene Bezirke der Stadtteilgerichte nachdenken? Und: Liegt es wirklich außerhalb jeglicher Planung, einer Planung in großen Zusammenhängen, Gerichtsgebäude für weitere Stadtteilgerichte anzumieten oder zu leasen? Hier hat sich gerade in den letzten Jahren auf dem Markt viel bewegt.

Der Gerichtsmanager, die neue Wunderwaffe. Wer wollte bestreiten, daß den Leitungen der Gerichte ein mehr an Professionalität und Qualifikation durchaus gut zu Gesicht stehen würde, und ich nehme dabei die Präsidentinnen und Präsidenten keineswegs aus. Nur wird sich – da bin ich ganz sicher – ein Manager eines Gerichtes mit 1.800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht aus einer A 12- oder A 13-Stelle bezahlen lassen. Jedenfalls DM 200.000,-- auf den Tisch des Hauses, ich sehe der Bereitstellung dieser Dotierung mit großem Interesse entgegen. Zur Doppelspitze (also Gerichtsmanager, der seine Befugnisse nicht von dem Präsidenten ableitet, wie es euphemistisch in dem bürgerschaftlichen Ersuchen heißt): Ich beschränke mich auf eine Einschätzung von Dr. Landry, gespeist aus dessen vielfältigen Erfahrungen im Wirtschaftsleben: "Herr Raabe, das kann nicht klappen." Im übrigen wird ein Systembruch produziert: AKV heißt schließlich Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung in einer Hand. Man sollte die Variante Doppelspitze schnellstens ad acta legen.

Die Rahmenbedingungen für die Gerichte sind schwierig und werden immer schwieriger: Ein Teil unserer Gesellschaft, insbesondere die Deluxe-Abteilung, hat sich von uns verabschiedet oder schickt sich an, sich abzumelden. Sie regelt ihre Probleme außerhalb der Gerichte. Die Gerichte werden zunehmend gefordert, die sozialen Problembereiche dieser Gesellschaft zu lösen – die Gerichte werden gefordert und sind mit dieser Aufgabe in einer Nichtkonsensgesellschaft restlos überfordert. Uns drückt die Zwangsjacke der Spar- und Konsolidierungsmaßnahmen, nimmt uns die Luft. Dennoch: Ich plädiere dafür, die Aufgaben – jeder an seiner Stelle – positiv und konstruktiv anzugehen, das zu tun, was in unseren Kräften steht – bisweilen vielleicht auch etwas mehr –, aber gleichermaßen deutlich zu machen, wenn etwas nicht geht, nicht mehr geht, unaufgeregt, sachlich, jedoch klar und unmißverständlich. Das wird dann wohl in erster Linie meine Aufgabe sein.

Wehleidigkeit, Larmoyanz, Klagelieder und Selbstmitleid sind meine Sache nie gewesen. Dazu besteht auch kein Anlaß, zumal wenn man seinen Blick einmal über den Tellerrand schweifen läßt und sieht, was sonst noch so in unserer Welt anliegt, insbesondere in den letzten Tagen und Wochen. Wir sollten bei der Beschwörung von Schreckenszenarien die Kirche im Dorfe lassen.

Raabe – ein Richterpräsident. So hieß es und so heißt es. Das ist richtig und falsch zugleich. Der Leiter eines Gerichts hat sich um alle und alles zu kümmern, insbesondere auch um den Wachtmeister, die Schreibkraft, die Geschäftstellenverwalterin, den Kostenbeamten, den Rechtspfleger. Sie alle ein unverzichtbares Rad im komplizierten Getriebe Justiz, ohne die das große Ganze nicht funktioniert.

Raabe, der Richter, das mag so sein. Obwohl über lange Zeiträume in den Niederungen der Verwaltung verhaftet, doch immer wieder die Arbeit in der Robe – an fast allen Rechtsprechungsfronten. Das wird so bleiben, Zivil- und Strafverfahren im jährlichen Wechsel. Diese meine Ankündigung hat Erstaunen und Überraschung hervorgerufen. Vielleicht zeichnet sich auch blankes Entsetzen in den Gesichtern einiger: Was hat Raabe schon wieder vor. Es wird aber so kommen.

Ein Mitarbeiter dieses Gerichts, Betriebswirt von seiner Profession, hat mir in einem ersten Gespräch seine Überzeugung vermittelt, er habe erst seit seiner Arbeit im Gericht den hohen Stellenwert richterlicher Unabhängigkeit schätzen gelernt – eine von einem Außenstehenden selten zu hörende Bewertung, da sind wir ganz anderes gewohnt. Dazu nur dieses: Richterliche Unabhängigkeit ist ein Herzstück, das Herzstück einer funktionierenden Demokratie. Was Herzrhythmusstörungen auf diesem Felde zu bedeuten haben, lehrt ein Blick in die Geschichte, auch jüngste Geschichte. Hier gibt es nichts zu verhandeln, und zwar weder unter wirtschaftlichen oder politischen Aspekten noch aus Gründen der Akzeptanz in den Medien oder am Stammtisch. Im übrigen verweist unser Chefpräsident in diesem Kontext immer wieder auf die hamburgische Verfassung, in der sogar von einer Unabhängigkeit der Gerichte gesprochen wird.

Auf einem ganz anderen Blatt steht die Frage, wie das richterliche Selbstverständnis aussieht, wie ein Richter sich selbst fordert. Ich habe mich hierzu mehrfach – auch als Richtervereinsvorsitzender – geäußert: Meine sicherlich auch durch die Mitwirkung bei der Einstufung der Juristenausbildung geprägte Vorstellung von einem Richter, der einen wachen Blick für die Folgen seiner Entscheidungen und für gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen hat, halte ich nach wie vor für plausibel. Ich würde sie gerne im Kollegenkreis zur Diskussion stellen.

Und ein weiteres: Der junge Amtsrichter Raabe ließe sich verkürzt so beschreiben: Er thront auf seiner Abteilung. Die Verwaltung möge ihm – bitteschön – Geschäftsstellenverwalter, Schreibkraft, Wachtmeister, Protokollführer und Sitzungssaal zur Verfügung stellen und im übrigen dafür Sorge tragen, daß die Aktenzufuhr überschaubar bleibt. Ansonsten solle man – insbesondere die Verwaltung ihm "vom Acker gehen". Denkbar wäre aber doch auch die Variante eines Richters – und diese Variante wird sicherlich die absolute Regel sein – eines Richters also, der nicht allein die Ausmaße eines Aktendeckels als Maßstab für seinen beruflichen Pflichten- und Interessenkreis nimmt, der Interesse zeigt für andere Bereiche des Gerichts, sich fragt, wie diese funktionieren, warum sie gegebenenfalls nicht funktionieren, ob die Dysfunktionalität vielleicht mit dem eigenen Arbeitsstil zu tun hat, was er beitragen kann für bessere Verfahrensabläufe, der bereit ist, mit jedem Mitarbeiter zu sprechen, zugewandt zu sprechen, kurzum: der bereit ist, ein Stück Gesamtverantwortung für das Gericht zu übernehmen.

Kommunikation heißt auch Kommunikation zwischen Gericht und Justizbehörde, zwischen Gericht und Politik. Sie tun sich nicht immer leicht miteinander, insbesondere die erste und die dritte Gewalt dieses Staates. Man versteht sich häufig nicht. Das hat viele Gründe – auf beiden Seiten, zum Beispiel auch den, daß ein Politiker gewählt bzw. wiedergewählt werden will, ein Richter hingegen diese Notwendigkeit nicht hat. Ein Politiker muß gut ankommen bei der Bevölkerung, insbesondere aber in den Medien. Ein Richter sieht hier keinen Handlungsbedarf, obwohl – so meine ich jedenfalls – die Gerichte sich deutlich mehr und häufiger Gedanken auch über ihr Bild in der Öffentlichkeit machen sollten. Politik, der Politiker in einer medialen Welt – ein Thema für sich. Ein von mir sehr geschätzter Mitarbeiter in der Justizbehörde sagte mir kürzlich: "Wie ist es mit unserer politischen Kultur bestellt, daß allein ein Zeitungsbericht, ein bestimmter Minister sei blaß, für diesen politisch auch dann ungemütlich werden könne, wenn er im übrigen einen exzellenten Job mache."

Was fängt man mit diesem Widerspruch an, der in der Struktur, im System begründet ist? Ich habe in meinen unterschiedlichen Funktionen – im übrigen auch als Richtervereinsvorsitzender – dies immer eher pragmatisch gesehen. Gerichte und Staatsanwaltschaften fahren am besten mit einem starken Justizsenator. Nur ein einflußreicher Senator vermag sich für die Belange der Justiz mit Erfolg einzusetzen. Konstruktive Zusammenarbeit muß also die Losung lauten. Dies wissend, zudem wissend, daß alle Fehler machen, im übrigen auch die Justizbehörde, wie ich aus eigener Zugehörigkeit zur Justizbehörde weiß, daß – so wird es jedenfalls in der ernst zu nehmenden Literatur beschrieben - es selbst Richter geben soll, die hin und wieder einmal einen Fehler machen, schließlich wissend, daß keiner über Patentrezepte verfügt, gute Ergebnisse vielmehr nur in einem offenen Dialog erzielt werden können, dies alles wissend, stehe ich für ein faires, loyales, von der nötigen Toleranz und dem erforderlichen Respekt geprägtes Miteinander. Dies biete ich hier ausdrücklich an.

Die Polarisierung in unserer Gesellschaft nimmt zu, die Kluft wird größer, die Schere geht auseinander. Es verstärkt sich der Eindruck, daß die da oben doch nur ihre eigenen Interessen verfolgen, nicht aber Interesse an und für die Basis haben, deren eigentlichen Bedürfnisse nicht wahrnehmen bzw. nicht ernst nehmen. Der Blick – Empfänge zeigen es immer wieder – sucht das Bedeutsame, Namhafte, Anerkannte, er ist nach oben, allenfalls horizontal ausgerichtet. Die Honoratioren feiern sich selbst ab, eitel und auf den eigenen Vorteil bedacht, so das Urteil oder auch das Vorurteil vieler. Dies alles kann uns nicht unberührt lassen, zumal allenthalben Klage über eine von Egoismen und Partikularinteressen geprägte Gesellschaft geführt wird. Im Mikrokosmos der Gerichte dieser Entwicklung entgegenzuwirken, Verständnis zu schaffen und Vorurteile abzubauen: Ich wär’s sehr zufrieden.

Und ein weiteres: Die dünne Luft in den Chefetagen, und hier sind alle Bereiche der Gesellschaft betroffen – trübt bisweilen die Wahrnehmung, beeinträchtigt den Realitätssinn – mit zum Teil kuriosen Ergebnissen als Folge. Entscheidungen gehen an der Wirklichkeit vorbei. Sie werden nicht verstanden. Mein Vorgänger – belesen wie er ist – schloß seine Abschiedsrede mit einem Wort von André Gide. Ich – schlichter gestrickt – möchte Ihnen eine kurze Geschichte erzählen. Sie stammt nicht von mir. Ein Unternehmensberater hat sie jüngst Herrn Rapp und mir erzählt. Es ist dies eine Geschichte, die von Fröschen, Störchen und einer Eule handelt und die wie folgt lautet:

Es lebte einst eine Kolonie von Fröschen auf einer Wiese, glücklich und zufrieden. Das Glück wäre ungetrübt gewesen, wenn nicht jedes Frühjahr aus dem Süden Störche angeflogen gekommen wären und einen Teil von ihnen gefressen hätte. Sie berieten, was dagegen zu tun wäre, und ein Frosch sagte: "Dort drüben in dem Wald lebt eine Eule. Sie ist sehr klug und weiß sicher Rat." Die Frösche wanderten in den Wald und berichteten der Eule von ihrem Problem, und die Eule sagte dazu: "Das ist ganz einfach, wenn das nächste mal die Störche kommen, dann fliegt ihr einfach fort." Die Frösche nickten, kehrten zurück und waren’s zufrieden. Da meldete sich ein ganz kleiner Frosch, er galt noch nicht viel in der Kolonie, und sagte: "Aber wir können doch gar nicht fliegen." Darauf erwiderten die wichtigen, einflußreichen Frösche der Kolonie: "Das sind Randprobleme, wir hier treffen Grundsatzentscheidungen."

Ich werde mit Nachdruck dafür sorgen, daß der kleine Frosch deutlich Gehör findet.

Heiko Raabe