(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 1/99) < home RiV >

Wissen und Erinnern

Wir fragen unsere Zeugen nach ihrer Erinnerung: dem also, was sie mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört oder sonst mit ihren Sinnen wahrgenommen, selbst erlebt, getan oder erlitten haben. Erinnerung ist ihrer Natur nach etwas höchst, ja rein Subjektives: sie ist die dem Menschen zum Bewußtsein gebrachte - und vom Gericht dann im Bruchstück abgefragte, sozusagen im kleinen Detail nach außen herausgesogene - Biographie.

Biographien gibt es naturgemäß so viele, wie Menschen existieren. Weil das so ist, pflegen wir übrigens mißtrauisch zu werden, wenn uns mehrere Zeugen über einen identischen Vorfall haargenau und bis ins Kleinste allesamt just das Gleiche berichten. Denn echte Erinnerung ist ein individuelles, also intersubjektiv notwendigerweise ungleiches Wissen, wie Handlinien es sind. Deshalb sind Zeugen vor Gericht unvertretbar und können nicht unter - oder gegeneinander ausgetauscht werden.

Anders das allgemeine Wissen: An dessen riesigem Bestande nehmen wir alle irgendwie teil, mit unterschiedlicher Intensität, Richtung des Interesses, Spezialisierung, Verständnistiefe usw. Zwar kann der einzelne, und sei er noch so genial, nur einen lächerlich winzigen Bruchteil des explodierenden Wissensbestands der Menschheit erfassen. Aber wir können dennoch grundsätzlich daran teilhaben, uns etwas davon verschaffen. Um wieder unser eigenes Metier zu bemühen: indem wir uns fremden Sachverstands bedienen. Sachverständige sind ihrer Natur nach austauschbar und vertretbar, einer ist so gut wie der andere (wobei individuell - wissenschaftliche Qualitäten dann freilich auf einem ganz anderen Blatt stehen), weil sie uns nur das vermitteln, was auch ohne sie besteht. Die Erinnerung des Zeugen hingegen steht und verschwindet mit seiner Person.

Wozu diese prozessualen - zugegeben: reichlich braven! - Schulweisheiten?

Sie kamen mir die letzten Monate wieder in den Kopf, als ich versuchte, in der sich weit verzweigenden Debatte um Martin Walsers Friedenspreis-Rede vom 11. Oktober 1998 eine eigene Orientierung zu finden - vgl. Walser: Die Banalität des Guten - Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, FAZ vom 12.10.98; Ignatz Bubis: Wer von Schande spricht, FAZ vom 10.11.1998; Klaus von Dohnanyi: Martin Walsers notwendige Klage, FAZ vom 14.11.98; Christian Meier: Vielleicht gar ein Beitrag zur Erinnerung, FAZ 23.11.98; Walser: Wovon zeugt Schande, wenn nicht von Verbrechen, FAZ 28.11.98; Viola Roggenkamp: Störenfriede der Nation? Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 26.11.98; Klaus v. Dohnanyi: Schuld oder Schulden? FAZ 30.11.98; Reemtsma: Jeder prüfe sein Gewissen, FAZ 30.11.98; Ignatz Bubis: Moral verjährt nicht (über die Debatte mit Walser/Dohnanyi). SPIEGEL vom 30.11.98, S. 50 f; Salomon Korn: Es ist Zeit, FAZ 01.12.98; Marcel Reich-Ranicki: Das Beste, was wir sein können, FAZ 02.12.98; Avi Primor: Der Fleck auf dem Rock, FAZ vom 09.12.98; Ignatz Bubis: Kein Mißverständnis, Allgemeine Jüdische Wochenzeitung vom 10.12.98; Bubis/Walser: Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung, FAZ 14.12.98, Funke und Rensmann: Aus einem deutschen Seelenleben - warum Martin Walser Ignatz Bubis partout nicht verstehen will, Allgemeine Jüdische Wochenzeitung vom 24.12.98; Roman Herzog: Sich der Geschichte nicht in Schande, sondern in Würde stellen, FAZ vom 28.01.1999. -

Was ich erwähne, ist ein Teil meiner Lektüre. Und was mir zur Kenntnis gelangte, ist nur ein Tropfen im weiten Meer Geschriebenen - vom Gesprochenen zu schweigen. Kann man auch nur eine einzige Überlegung beisteuern wollen, die nicht schon hundertmal hin- und hergewendet und bedacht worden ist? Schwerlich - aber ich nehme keinerlei Originalität für mich in Anspruch und scheue die Mühe, wieder alle Papiere zu sichten, um vielleicht zu finden, daß meine Erwägungen irgendwo schon viel treffender angestellt - oder gar bereits widerlegt worden sind:

Das große Thema ist, wie schon die Überschriften zeigen, die Erinnerung: wie man "mit ihr umgeht", sie aushält, formuliert, vorträgt, verantwortet ... die erinnernde Rede gebraucht oder mißbraucht. Ich möchte (weil dies m.E. durchweg nicht klar genug zur Sprache kommt) zunächst auf dem bestehen, was sie substanziell ist: individuelle geistige Biographie, innere - also subjektive - Wirklichkeit. Wie sie da ist, wenn sie da ist: so und nicht anders ist sie vorhanden. Da läßt sich nichts vorschreiben, nichts verordnen oder verlangen, Erinnerung ist weder gut noch böse, weder legitim noch illegitim, weder korrekt noch unkorrekt. Sie ist, was sie ist - ein Spiegel, eine Prägung, ein schlichtes Faktum: Zeugnis, wenn zur Sprache gebracht. Mehr kann zunächst - sozusagen im ersten Durchgang - nicht gesagt werden.

Erinnerungen an das Kriegsende 1945: auch deren gab es so viele wie Linien des Schicksals:

"Der Mensch steckt zunächst in seiner Haut. Was ihn unverlierbar prägt, ist das eigene Leben, sein Schicksal, das ihm - ihm allein an Körper und Seele - widerfährt. Deshalb können die Bilder, Erinnerungen und Spuren einer so wüsten Zeit einander schwerlich überall gleichen:

Wer im Winter 1944 oder dem folgenden Frühjahr in Treblinka, Maidanek, Belzec oder Birkenau, in Theresienstadt, Dachau oder Hamburg-Neuengamme geschunden worden ist und fast verhungert und verdorben wäre, der trägt eine andere Bürde mit sich, wird von anderen Bildern gequält und verfolgt als ein Flüchtling, der die Schrecken der Trecks im Osten durchlebt hat, der dem Feuersturm von Dresden entkommen ist, oder der Gefangene, der den Marsch nach Sibirien antreten mußte."

Das hatte ich in den Mitteilungen (MHR 1/1995) anläßlich des 50. Jahrestages der deutschen Kapitulation geschrieben. Viktor Klemperers Tagebuch schildert die rohe und gemeine Entwürdigung dieses tapferen, seit Jahren verfemten und geschundenen jüdischen Gelehrten, zuletzt - im Februar 1945 - die Todesangst, die ihn an den Rand des Wahnsinns und Selbstmords treibt, bringt die Dresdner Gestapo ins Bild, die gerade drauf und dran ist, ihn zu fassen und endgültig zur Strecke zu bringen, ... als ein Donnerschlag des Himmels in letzter Sekunde die unverhoffte Rettung bringt: Der verheerende, zehntausendfach todbringende Terrorangriff der Alliierten auf das "Elbflorenz". Aber die nämliche Katastrophe setzt auch die Mordmaschinerie der Nazis außer Funktion ...! Das ist Erinnerung, die so ist und gar nicht anders sein kann, in die der Leser und Hörer hineinversetzt wird, ohne den geringsten Impuls, einen Widerspruch anzumelden: wie käme er dazu?

Nichts anderes würde für Erinnerungen eines Überlebenden der verbrannten Stadt gelten, der nach den Feuerstürmen seine Angehörigen im Leichenberg auf dem Altmarkt suchte. ... Die eine Erinnerung ist so echt, wahr und unausweichlich wie die andere.

Bei dem Streit, der jetzt mit den Namen Walser und Bubis verbunden zu werden pflegt, geht es - im eigentlichen, engen Sinne - also wohl gar nicht um Erinnerung. Allerdings auch nicht nur um die öffentliche Rede, die Art also, in der ein durchweg als "Erinnerung" bezeichnetes Thema zur Sprache gebracht wird. Das Wesentliche scheint sozusagen dazwischen zu liegen, zwischen rein biographischer Subjektivität und der Objektivität öffentlicher Redetexte, und läßt sich auf den Begriff der kollektiven Erinnerung bringen, der auch nicht selten angeführt wird. Was ist das ?

Wie schon das Adjektiv zeigt: kein individuelles Phänomen, sondern ein soziales. Sein Subjekt (Träger) ist die Gesellschaft, die staatliche Gemeinschaft, das Volk, die bewußtseinsprägenden Kräfte ...: jedenfalls nicht mehr der einzelne, das Individuum. Wenngleich das kollektive Bewußtsein als Erinnerung bezeichnet wird, so ist es doch eigentlich nicht dies, sondern ein Wissen: Ein allgemeines, jedes Individuum übergreifende Wissen (als historische Kenntnis oder Überzeugung, als intersubjektive Sicherheit, Glaube, Akzeptanz usw.). Der einzelne besitzt es nicht als persönlich erlebte Lebensspur, sondern nur kraft Mitteilung, Nachricht, Überlieferung, Lehre, Sozialisation: geistig zugeeignet als Wissen aus zunächst fremder Hand. Nur weil es sich so verhält, ist es nicht prinzipiell unmöglich, dieser Art Erinnerung auch Generationen zuzuschreiben, oder sie von ihnen zu erwarten, die erst Jahrzehnte nach den Ereignissen geboren worden sind, denen sie gilt.

Das allgemeine Erinnerungswissen ist natürlich kein Sammelsurium des Interessanten, sondern ein Nachbuchstabieren gemeinsamen Schicksals. Kollektive Erinnerung ist unentbehrlich für die Homogenität einer Gesellschaft, geht es in ihr doch um eine Verständigung über das eigene Woher und Wohin, vermittelt durch geschichtliches Wissen, geschichtliche Bildung, nicht zuletzt: historisch und moralisch deutende Bewertung des gemeinsamen Weges. Ein hochkomplexes Gebilde also, das - völlig anders als die persönliche Erinnerung: das rein biographische Wissen - nicht spontan - naturwüchsig entsteht, sondern der Tradition, der wissenschaftlichen Vermittlung, der pädagogischen Bemühung, den diversen Medien, der politischen Bildung und hundert anderen Kräften geschuldet ist. Dieser Erinnerung geht es ebenso um die Zukunft, die sie prägen will, wie um das, was faktisch war. Deshalb ist es kein Wunder, daß um die kollektive Erinnerung seit eh und je lebhaft, oft erbittert, eifernd gestritten wird, daß man sie immer wieder neu begreift, vertieft oder verflacht, erweitert oder verengt.

"Erinnere dich!" - ein solcher Appell kann dort im nur übertragenen Sinne gelten und würde eigentlich lauten müssen: "Du hast doch gelernt ...! Solltest wissen ...! Könntest wissen ...! Nimm zur Kenntnis! Willst doch nicht leugnen ...! Wieso weißt du nicht ...?! udgl.

Darum, und nicht oder doch nur am Rande um persönliche Erinnerung (natürlich sind "Verdrängungen" dem Psychoanalytiker, forensische Lügen dem praktischen Juristen wohlbekannt!), geht die Kontroverse, die mit Walsers Namen verbunden wird und der mehr begriffliche Klarheit wohl nicht geschadet hätte. Ihre eigentliche Substanz bleibt hier außer Betracht. Mir lag jetzt nur daran, wiederum (vgl. z.B. schon MHR 1995, 15 ff.) eine Lanze für die unbedingte Freiheit der Erinnerung einzulegen, also für das heilige Recht des Zeugen - eines jeden Zeitzeugen -, frei zu reden und nichts anderes sagen zu müssen, als was er erfahren hat und aus dieser Erfahrung weiß.

Die kollektive Erinnerung besitzt ihr Gewicht, ihr Recht und ihre Würde, und sie folgt ihren eigenen Regeln und Gesetzen. Sie bedarf ständiger Prüfung, Neubestimmung, Vermittlung und Pflege - aus intellektuellen Gründen ebenso wie aus moralischen. Aber eines - jedenfalls eines! - darf sie nicht: sich ausspielen lassen gegen personale Erinnerung, ihre natürlichen (d.h. hier zugleich: begrifflichen) Grenzen sprengen und ihre Hand auf das individuelle Gedächtnis legen, also - um unser fachliches Vokabular abschließend noch einmal zu bemühen - dem Sachverständigen zu erlauben, die Zeugen nach seinen Maßstäben zuzulassen oder zurückzuweisen und ihnen das Wort zu erteilen oder zu verbieten.

Günter Bertram