In der Wochenendausgabe des Hamburger Abendblattes vom 9./10. Januar 1999 stand ein Bericht über eine Hauptverhandlung vor einer Abteilung des Amtsgerichts Hamburg. Alltagskleinkriminalität aus der Welt derer, die eher am Rand der sonstigen Gesellschaft leben, war zu verhandeln: Hausfriedensbruch und "Schwarzfahren". Dabei hat der Richter den Angeklagten beschimpft: In einer Welt voller Dreck lebe der Angeklagte. "Der Öffentlichkeit können wir jemand wie Sie nicht länger zumuten. Sie sind der Abschaum aus diesem Dreck." - so der Richter wörtlich. Er hat zwischenzeitlich intern bestritten, sich so geäußert zu haben. Zuhörer haben diese Äußerungen dagegen bestätigt.
Der Angeklagte selbst als Person, nicht etwa "nur" seine Taten, waren Gegenstand dieser genannten verbalen Entgleisung. Es war keine simple Beleidigung, etwa aus dem Tierreich, sondern eine qualifizierte, nicht nur einfacher "Dreck", sondern quasi das Destillat daraus, eben "der Abschaum". Mit dieser herben Beleidigung nicht genug, der Amtsrichter hat ihm damit zugleich auch die Menschenwürde abgesprochen. Und das nicht etwa privat von Mensch zu Mensch, sondern innerhalb eines Verfahrens unter Mißbrauch seines ihm verliehenen Amtes. Das ist dann ein drastischer Verstoß gegen Art. 1 des Grundgesetzes (Gebot des Schutzes der Menschenwürde), auf das er vereidigt worden ist. Es ist auch eine traurige Erinnerung an die Zeit der Justizgeschichte, als Angeklagte weit vor 1933 zum Objekt von Verfahren gemacht wurden.
Wer nun meint, auf Grund des oben genannten Berichtes sei ein Aufschrei der Entrüstung, wenigstens der Distanzierung von derlei Gebaren durch die Öffentlichkeit, wenigstens seitens der Justiz gegangen, sieht sich enttäuscht. Niemand, weder ein Repräsentant der rechtsprechenden Gewalt, noch der Staatsanwaltschaft, der Anwaltschaft, des Senats, der Justizbehörde, aus der Bürgerschaft, den Religionsgemeinschaften, Verbänden, Vereinen u.a. sah sich offenbar veranlaßt, zu diesem ungeheuerlichen Vorgang auch nur Stellung zu nehmen. Der Vorstand des Hamburgischen Richtervereins hat auf seiner Sitzung am 21. Januar 1999 beschlossen, sich dazu lediglich vereinsintern zu äußern. Ist dieses kollektive Schweigen, das Wegsehen, Verdrängen, Verniedlichen und Aussitzen etwa der Hintergrund an peinlichem Schweigen - die Geisteswelt -, wovor solche Äußerungen überhaupt entstehen können? Wieviel ist ein Mahnmal an die schreckliche und traurige Vergangenheit der hiesigen Justiz erinnernd, errichtet vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht, wert, wenn zu solchen gravierenden Verstößen gegen die Menschenwürde, die damals den dann folgenden braunen Justizgreuel erst mitermöglicht haben, heute geschwiegen wird? Dabei ist es relativ unerheblich, ob diese schlimmen Äußerungen so gefallen sind oder nicht. Selbst wenn sie von der Zeitung erfunden wären, hätte unverzüglich Widerspruch erfolgen müssen.
Es kommt jetzt weniger darauf an, was hier wiedergutzumachen ist. Wichtiger ist der Blick nach vorn, um dergleichen zu verhindern. Die Staatsanwaltschaft kann, ähnlich wie vor Jahren bei dem Richter Br. aus anderen Gründen praktiziert, bis auf weiteres zum Schutz der Angeklagten zu diesem Richter besonders ausgewählte Sitzungsvertreter/innen entsenden. Die Öffentlichkeit und die Presse müssen ein wachsameres Auge und Ohr haben und dürfen sich mit Schweigen nicht zufrieden geben. Diejenigen, die kraft Amtes Richter in diesem Fall sogar in ein Beförderungsamt gewählt haben, müssen sich fragen lassen, ob sie sorgfältig genug waren und ob die Auswahlkriterien noch zutreffen. Schließlich mag sich der betroffene Richter selbst fragen, ob er den Anforderungen an sein Amt möglicherweise noch gewachsen ist, wenn er schon bei einem solchen Fall sogar in Anwesenheit der Presse der Kontenance so gänzlich verlustig gegangen ist.
Dieser Artikel lag dem Hamburger Abendblatt am Mittag des 29.01.1999 vor mit der Maßgabe, ihn entweder ganz oder gar nicht zu veröffentlichen. Der Autor des Abendblattberichts vom 09.01.1999 hatte zugesagt, darüber weiter zu berichten. Nachdem dies bis zum 03.02.1999 nicht geschehen und mir mitgeteilt worden war, der Artikel werde auf keinen Fall als Ganzes veröffentlicht, habe ich ihn zurückgefordert und am 04.02.1999 in leicht veränderter Fassung an eine überregionale Zeitung geschickt. Das Abendblatt hat dann am 10.02.1999 doch noch berichtet und aus meinem Artikel zitiert.
Vor der Vorstandssitzung am 21.01.1999 hatte ich dem Vorstand geschrieben und ihn um eine deutliche öffentliche Distanzierung von den im Abendblatt vom 09.01.1999 wiedergegebenen Äußerungen eines Hamburger Amtsrichters gebeten, andernfalls man mich von der Mitgliederliste streichen möge. Am Nachmittag des 28.01.1999 hatte ein Gespräch mit Mitgliedern des Vorstandes des Hamburgischen Richtervereins über die aus meiner Sicht ungenügende Reaktion auf den Bericht im Abendblatt vom 09.01.1999 stattgefunden. Soviel zur Vorgeschichte.
Dazu kann erst Stellung genommen werden, wenn der Sachverhalt aufgeklärt ist; dann interessiert es aber niemand mehr - - - .
Auch eine Moral.
Gewiß ist es ehrenhaft, wenn sich drei Vorstandsmitglieder Zeit nehmen, um mir verständlich zu machen versuchen, weshalb der Vorstand nur eine vereinsinterne Stellungnahme abgeben wolle. Man kann Auslegungskünste bemühen, ob eine solche Stellungnahme öffentlich ist und daher meinem Anliegen genügt sei. Man kann auch erwägen, ob der in der Öffentlichkeit angerichtete Schaden, sofern er überhaupt eingetreten sei, durch eine nachträgliche Berichterstattung nicht vergrößert werde. Schließlich kann man auch fürsorgerische Gesichtspunkte ins Spiel bringen, da diese Äußerung vom betreffenden Richter bestritten worden sei und der Sachverhalt durch zuständige Stellen erst ermittelt werden müsse. Über die Bewertung dieser Äußerung bestehe doch Einigkeit. Ja gewiß, so kann man das durchaus sehen und ist dabei in untadeliger Gesellschaft.
Diese Sichtweise verkennt aber völlig, daß dann schweigend in Kauf genommen wird, solche Äußerungen und diese Verhandlungsweise zu dulden und sie langsam salonfähig zu machen. Da spielt es dann keine Rolle, ob es ein nicht Einzelfall eines Einzelgängers war. Der Schaden an dem zarten Pflänzchen Rechtskultur ist bereits eingetreten. Zu dem oben Gesagten kommt hinzu, daß diejenigen Oberwasser erhalten, die (meist allerdings aus anderen Gründen) eine notwendige Verteidigung in allen Fällen befürworten (quod errat demonstrandum). Wie glaubwürdig ist eine Justiz, die sich über ungebührliches Verhalten von Verteidigern, über deren mißbräuchliches Prozeßverhalten beschwert, gar gesetzgeberische Maßnahmen fordert, und kein Auge und kein Gespür für das Kehren vor der eigenen Tür hat? Für wie gravierend soll ich einen "Stinkefinger" gegenüber einem z.B. Polizeibeamten eigentlich noch halten, wenn hier nicht einmal eine Distanzierung erfolgt? Wer sich dabei zwischen "Stamm und Borke" fühlt, weil diese Äußerung bestritten und der Hamburgische Richterverein kein Ermittlungsorgan sei, hat es nicht begriffen: Derart gravierende, in wörtlicher Rede zitierte Äußerungen bedürfen einer deutlichen Reaktion. Sie kann bei nicht eindeutigem Sachverhalt auch darin bestehen, sich von derartigem Gebaren wenigstens zu distanzieren für den Fall, daß es so gewesen ist. Andernfalls müßte erst eine rechtskräftige Verurteilung vorliegen - ? Das kann wohl niemand ernsthaft auch nur gedacht haben. Im übrigen war es hier relativ leicht, sich etwas Gewißheit zu verschaffen. Es bedurfte nur ein paar Telephonanrufe. Die sind auch einem Richtervereinsvorstand möglich und zumutbar.
Wegen dieses Dissenses für ein gewisses Gespür verlasse ich den Richterverein und bedanke mich für die Gastfreundschaft. Es wird wieder Zeiten geben, wo ich gerne um erneute Aufnahme als Mitglied bitten werde.
Berthold Herrmann