(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/98) < home RiV >

Justizreform

Eher am Ende der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen über die Bildung einer gemeinsamen Bundesregierung heißt es:

"Die neue Bundesregierung wird eine umfassende Justizreform (3-Stufigkeit, Aufwertung der einheitlichen Eingangsgerichte, Reform der Gerichte und der Instanzen, Vereinfachung und Angleichung der Verfahrensordnungen) durchsetzen."

Was bedeuten diese Stichworte aus der politischen Diskussion der letzten Jahrzehnte heute im Klartext?

Das Stichwort von den "einheitlichen Eingangsgerichten" besagt, daß die Amts- und Landgerichte verschmolzen werden sollen, unter welchem Namen auch immer.

Bei der Schaffung "einheitlicher Eingangsgerichte" steht man vor einem Dilemma:

Haben wir einheitliche "Eingangsgerichte", so kann es kein Rechtsmittel vom - in der bisherigen Diktion - Amtsgericht zum Landgericht mehr geben, wenn man nicht wieder auf den unglückseligen Gedanken des "Querrechts-mittels" verfällt. Dann wäre die Rechtsmittelinstanz immer das Oberlandesgericht.

Sollen sich alsdann auch die kleinsten Prozesse in der Rechtsmittelinstanz vor dem häufig weit entfernten Oberlandesgericht wiederfinden? Beileibe nicht! Das steckt hinter der anheimelnden Formel von der "Aufwertung der einheitlichen Eingangsgerichte". Man wird entweder Rechtsmittel für die kleinen Prozesse in größerem Umfang als bisher schon vollkommen ausschließen (Was scheren SPD und GRÜNE die Prozesse des "kleinen Mannes"?) oder, wie es dem Justizminister Schmidt-Jortzig vorgeschwebt hat, auf ein der Revision angenähertes Rechtsmittel beschränken. Wie das in der Praxis aussehen wird, kann man an dem Schicksal der meisten Rechts-beschwerden oder untertänigsten Anträgen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde in Bußgeldsachen vom Amtsgericht zum Oberlandes-gericht ablesen.

Natürlich wird das, wie von den Verfassern dieses Teils des Koalitionspapiers auch vorausgesehenen, Ärger geben. Ihn wollen sie sich mit der Formel von der "Aufwertung der einheitlichen Eingangsgerichte" vom Leibe halten. Sie werden versprechen, daß die Eingangsgerichte insbesondere personell so ausgestattet werden, daß ein jeder Fall gründlich in allen seinen Aspekten schon in der Eingangsinstanz so aufbereitet wird, daß ein Rechtsmittel eigentlich überflüssig ist. Einlösen soll dieses Versprechen aber nicht die Bundesjustizministerin, sondern diese Aufgabe fällt den Landesjustizministern zu. Und wenn sie mangels Kasse versagen (müssen), hat der Bundesgesetzgeber keine Schuld.

Die finanzielle Überlegung hinter diesen Plänen: Wenn man die zweite Instanz, also die Oberlandesgerichte in der bisherigen Diktion, stark ausdünnt, werden Mittel frei, die man zur Aufbesserung der Eingangsgerichte nutzen kann. Diese Rechnung aber wird nicht aufgehen. Bisher gehen nur +/- 10 Prozent aller Verfahren der ersten Instanz in die Rechtsmittelinstanz. Das bedeutet, daß selbst bei vollkommenem Wegfall der Rechtsmittelinstanz nur 10 Prozent der Verfahren in der ersten Instanz so gründlich bearbeitet werden können, wie in der Rechtsmittelinstanz oder die Ressourcen ausgeschüttet auf alle Verfahren eine Besserung um 1 Prozent eintreten würde. Gleichzeitig würden die bisherigen Oberlandesgerichte bis auf einen Restbestand eingestampft werden. Für Niedersachsen würde das bedeuten, daß ein Oberlandesgericht für das ganze Land ausreichen würde und - wie die Dinge politisch liegen - nur das in Braunschweig übrigbleiben würde.

Auch die Anwaltschaft - vornehmlich die an den Oberlandesgerichten - wäre stark in Mitleidenschaft gezogen.

Der Gedanke, daß alle Prozeßparteien, mögen sie nun große oder kleine Prozesse führen, gleichermaßen gut in den Gerichtssälen betreut werden, muß jedes Menschen Herz erwärmen, es sei denn, er hätte keines. Ist dieses nicht der alte Traum von der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit? Doch mein Alptraum unter den gegenwärtigen Auspizien: Jedermann wird gleich schlecht abgefertigt werden. Der kleine Mann kann sich nicht wehren. Und die Großen werden im Zivilrecht in die Schiedsgerichtsbarkeit ausweichen. Es ist ähnlich wie mit der Globalisierung. Die Wirklichkeit gehört verboten! Dieser Satz fehlt in dem Koalitionspapier.

Kurzum: Den Koalitionären hätte Besseres einfallen können. Etwa die Selbstverwaltung der Gerichte durch die Richter. Sie würde nicht nur die Effektivität der Gerichtsorganisation deutlich verbessern, sondern auch die richterliche Unabhängigkeit stärken.

Mit Blick auf die Zusammenlegung von Innen- und Justizministerium durch die rot/grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen darf ich aber fragen: Wollen das die Koalitionäre überhaupt? Jedenfalls ist in dem Koalitionspapier von der richterlichen Unabhängigkeit nicht die Rede. Die richterliche Unabhängigkeit ist im vergangen Jahrhundert von den Liberalen gegen die Obrigkeit erkämpft worden. Wir müssen wieder, jetzt gegen eine neue Obrigkeit, um sie kämpfen!

Ulrich Vultejus