(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/98) < home RiV >
Die Selbstverwaltung der Gerichte

Anläßlich der Ankündigung eines Artikels von Röhl zu diesem Thema für DRiZ 6/98 und der von der Justizsenatorin angekündigten Gesetzesinitiative zum Thema "Budgetantragsrecht der Gerichte" wird ein Artikel wieder interessant, den Prof. Ulrich Vultejus, Richter a.D., vor einiger Zeit in der FAZ schrieb. Mit seiner freundlichen Erlaubnis druckt die MHR den wesentlichen Teil des Artikels ab (selbstverständlich ohne sich damit diesen Artikel vollen Umfangs zu eigen zu machen).
Nach Schilderung von strukturellen Nachteilen der Justizverwaltungen (auch unter Berücksichtigung der Abordnung von Richtern) führt Vultejus das Nachstehende aus (Kapitel 3 bis 5 von 7).

Wolfgang Hirth

I.
II.
III. Die Verwaltung der Gerichte durch die Richterschaft

Die Suche nach Alternativen liegt deshalb auf der Hand. Hier bietet sich die Selbstverwaltung der Gerichte durch die Richterschaft an.

Die Leitung der Justizverwaltung läge alsdann in den Händen eines von den Richtern auf Zeit gewählten obersten Richterrats und von Richterräten in den einzelnen Gerichtszweigen sowie bei den einzelnen Gerichten. Unter ihnen sollte das Subsidaritätsprinzip gelten, ähnlich wie (jedenfalls theoretisch) in der Europäischen Union, das heißt, die Entscheidungen werden so weit, wie sinnvoll möglich, auf der jeweils unteren Ebene getroffen.

Den obersten Richterräten obläge auch die Vertretung der Gerichte nach außen und auch gegenüber dem Parlament, insbesondere in Haushaltsfragen. Das ist keinesfalls so revolutionär, wie es klingen mag, gilt eine solche Regelung doch - teils rechtlich abgesichert, teils faktisch - bereits für das Bundesverfassungsgericht, unser aller Leitbild. Niemand hat je gehört, daß dies zu Schwierigkeiten geführt hätte.

Der Präsident (oder Direktor) eines Gerichts wäre der ebenfalls auf Zeit gewählte Vorsitzende des Richterrats und Dienstvorgesetzter des Folgepersonals. Auch diese Regelung wäre keinesfalls revolutionär. Unsere Hochschulen sind nach diesem Muster organisiert. Es kann kein historischer Zufall gewesen sein, daß diese Form der Selbstverwaltung im vergangenen Jahrhundert auf die Hochschulen beschränkt geblieben und nicht auf die Justiz ausgedehnt worden ist; machtpolitische Überlegungen dürften im Hintergrund gestanden haben. Gerade dieser Hintergrund macht die gerichtliche Selbstverwaltung dringlich.

Welche Vorteile verspricht dieser Systemwechsel?

A.

Die Gerichte hätten gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüber dem Parlament von der Richterschaft demokratisch legitimierte Vertreter anstelle von Repräsentanten, die zum geringeren Teil die Justiz, häufiger jedoch ein Kabinett, eine Partei oder lediglich ihre politischen Eigeninteressen vertreten. Die Vertretung der Richterschaft durch eigene, von ihr gewählte Repräsentanten wird in einer Zeit immer wichtiger, in der die "Öffentliche Meinung" ("Mediengesellschaft!") das allgemeine Denken mehr denn je bestimmt.

B.

Die richterliche Unabhängigkeit würde gestärkt, weil die Richter sich durch die Wahl der Richterräte selbst verwalten und mittelbar dadurch auch die Verantwortung für deren Arbeitsergebnisse mitübernehmen.

C.

Entscheidungen für das Innenleben der Justiz würden von Menschen getroffen werden, die sie von der Pike auf kennen. Vorschläge für lebensfremde Regelungen werden sich in den Richterräten kaum durchsetzen. Alle wichtigen Anordnungen würden in einem verantwortlichen, sachkundigen Kreis zuvor diskutiert und so transparenter, einfach besser werden.

D.

Die unteren Einheiten - Amtsgerichte und Landgerichte - bekämen mehr Bewegungsfreiheit. Hier werden örtliche Besonderheiten genauer gesehen und können in eine Regelung einfließen. Das gilt selbstredend auch für die Eingangsgerichte der Arbeits-, Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeiten. Die Besonderheiten dieser Gerichtsbarkeiten geraten zu oft bei zentralen Regelungen aus dem Blickfeld.
Unvermeidbare Fehler würden sich nur örtlich begrenzt auswirken und könnten ohne umständliche Prozeduren korrigiert werden. Es würde für vergleichbare Probleme unterschiedliche Lösungen geben, die miteinander konkurrieren; die besten werden sich auf Dauer durchsetzen.

E.

Die Verwaltung würde deutlich ‘schlanker’ werden. Viele Ministerialbeamte könnten in die Justiz zurückkehren und dort die knappe Personaldecke verstärken. Ihre besonderen Qualifikationen sind dort hochwillkommen. Polemisch formuliert: Die dann in der Justiz eingesetzten Beamten würden nicht mehr an dem Entwurf von Kürzungsgesetzen arbeiten, sondern diese durch ihre Mitarbeit in den Gerichten überflüssig machen.

Heute haben wir vielfach eine Mehrfachverwaltung. Die Ministerien nehmen sich aller wesentlichen Fragen an. Dieselbe Arbeit wird aber auch in den Verwaltungsabteilungen der Oberlandesgerichte und nicht selten auch denen der Landgerichte geleistet.

F.

Es ist eine alte Erfahrung, daß eigene Fehler am ehesten verziehen werden. Fehler der Richterräte sind eigene Fehler der Richterschaft und können Dritten nicht angelastet werden.

IV. Gefahren der Neuregelung

Bisher speisten sich Vorbehalte in der Richterschaft gegen ihre Selbstverwaltung aus drei Quellen.

Zum einen hatten die Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, gewiß mal mehr, mal weniger, Vertrauen zu den Justizministerinnen und Ministern. Diese Zeit ist dahin, so daß über diesen Punkt nicht mehr zu sprechen ist.

Zum anderen war das Mißtrauen gegen zur Macht gelangte eigene Kolleginnen und Kollegen groß; das Vertrauen in die Neutralität der als außenstehend empfundenen Ministerialbürokratie war stärker.

Schließlich wurde eine Verkrustung der Justiz durch Inzucht verbunden mit der Bildung von Seilschaften befürchtet.

Die beiden zuletzt genannten, miteinander verzahnten Befürchtungen sind nicht von der Hand zu weisen. Es gilt deshalb, Vorsorge zu treffen:

A.

Die Gleichrangigkeit aller Richterämter, auch in der Besoldung, muß zugleich mit der Systemänderung durchgesetzt werden. Sonst werden sich verdeckte Seilschaften nicht verhindern lassen. Selbstverwaltungen sind für diese Form der ‘Korruption’ besonders anfällig.

In der Besoldung könnte ein im Deutschen Bundestag geborener Gedanke umgedreht werden. Bundesrichter werden wie Bundestagsabgeordnete und Landesrichter wie Landtagsabgeordnete bezahlt. Dies würde nicht nur die Besoldungsrangelei beenden, sondern auch die Gleichwertigkeit der geteilten Staatsgewalten symbolisieren. So könnten auch die in bisher besser besoldeten Stufen tätigen Richter für die Reform gewonnen werden, gegen deren Widerstand eine Reform schwerlich erfolgreich durchgesetzt werden kann.

B.

Wie auch die Richterräte werden die Präsidenten und Direktoren (und ihre ständigen Vertreter) von den Richterinnen und Richtern ihrer Gerichte auf Zeit gewählt. Bei den Präsidenten und Direktoren halte ich eine vergleichsweise lange Wahlperiode (acht Jahre?) für sinnvoll.

Mit einem Ausschluß der Wiederwahl könnte der Gefahr vorgebeugt werden, daß Entscheidungen - insbesondere im personellen Bereich - auf eine Wiederwahl schielend getroffen werden. Auch der Bildung von Seilschaften wäre damit vorgebeugt.

C.

Damit käme der ersten Anstellung einer Richterin/ eines Richters eine noch schwer
wiegendere Bedeutung zu als heute. Hier lauern auch die größten Gefahren, weil jede Gruppe dazu neigt, sich mit Menschen zu ergänzen, von denen ‘Korpsgeist’ im jeweils in der Gruppe ausgeprägten Sinne erwartet werden kann. Warum sollte es in der Richterschaft anders sein? Darum darf die Richterschaft nicht allein über die erste Anstellung entscheiden.2) Die Lösung können allein pluralistisch zusammengesetzte Richterwahlausschüsse sein, die ich mir zu je einem Drittel von Parlamentariern, Vertretern des gesellschaftlichen Lebens und der Richterschaft besetzt vorstelle. Man könnte auch nur an Parlamentarier und Vertreter des gesellschaftlichen Lebens mit einem vorausgehenden Votum der Richterschaft denken. Die Anwaltschaft kommt nur scheinbar in meinem Vorschlag nicht vor; ich möchte sie in die Vertreter des gesellschaftlichen Lebens einordnen. Da das Gremium nicht zu groß sein darf, wäre jeder Fraktion des Parlaments ein Sitz und den anderen Gruppen die gleiche Zahl der Sitze zuzubilligen, so daß die Gesamtzahl bis zu etwa zwölf Personen variieren würde.

Natürlich wird es weiterhin unterschiedliche richterliche Aufgabenfelder geben, vom Amtsrichter bis zum Richter am Oberlandesgericht. Die Zuweisung dieser Aufgabenfelder kann ohne Bedenken den Richterräten (Präsidialräten?) zugewiesen werden, da sie die Eignung auch entsprechend der Entwicklung des einzelnen im Berufsleben am besten beurteilen können. Die Richterinnen und Richter würden bei Bewerbungen eher verstärkt auf ihre eigene Eignung und Befähigung achten, weil mit einer "Beförderung" keine materiellen Vorteile verbunden wären.

Zu guter letzt: Die richterliche Unabhängigkeit wäre gestärkt, weil dann keine materielle Versuchung mehr bestünde, sich um einer Beförderung willen zu verbiegen. Mir ist dieser Punkt sehr wichtig, weil wir die Richterschaft so organisieren müssen, daß sie auch in Zukunft allfälligen totalitären Gefahren widerstehen wird.

V. Nicht so neu, wie es scheint

Schon lange sind die Justizminister bei Personalentscheidungen nicht mehr frei. Ihre Macht - im Bund und in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich - ist durch die Wahl der Richterinnen und Richter durch Parlament oder Richterwahlausschüsse, an anderen Stellen durch die Mitbestimmung der Richterschaft (Präsidialräte) gebremst.3)

Die Justizministerien stehen überall im Begriff, hier mehr, dort weniger, einen Teil ihrer Verwaltungsaufgaben nach unten abzugeben, Budgetierung heißt das Stichwort des Einstieges. Ich halte diese Überlegungen für zukunftsträchtig, weil die größte Ressource der Justiz in der Motivation der Mitarbeiter verborgen ist und dieser Schatz durch die Übertragung von Eigenverantwortung gehoben werden kann. In der Wirtschaft können wir vergleichbare, mit Erfolg praktizierte Tendenzen beobachten.

Neu an vorstehenden Vorschlägen ist daher nur der Versuch, den Zug der Zeit in eine systematische Ordnung zu bringen und ein wenig mehr Demokratie in der Justiz zu wagen. Welcher Zeitpunkt ist hierfür günstiger, als der, in dem die Justizminister mit ihrer Weisheit am Ende sind.