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Hysterie versus Pragmatik ?

oder:
Bei Budgetierung nicht die Klappe halten!

Kennen Sie nicht auch das Gefühl, das sich einstellt, wenn man wieder auf Papiere zu "JUSTIZ 2000" stößt ? Ist diese zumeist ganz abstrakt-theoretische Mischung aus Verwaltungskram und BWL-Englisch nicht lähmend langweilig ?

Warum sollte sich dennoch jeder einzelne Kollege, warum sollte sich alsbald und zuvorderst der Hamburgische Richterverein mit "Justiz 2000" eingehend und kritisch befassen ?

Vielleicht weil wir sonst in zwei Jahren die folgenden, dann viel praktischeren Themen zu erörtern hätten:

"Welche Veränderungen Ihrer Arbeitsweise bieten Sie Ihrem Controller an, wenn Sie schon anfangs des vierten Quartals Ihr Jahres-Kammerbudget überzogen haben?"

"Wie erledigen Sie die Verfahren mit den kleinen Streitwerten kostengünstig, die Ihrer Einnahmen - Ausgaben - Rechnung nur schaden ?"

"Wie retten Sie Ihre durch geschicktes Erledigungsmanagement erwirtschafteten Budgetreste in die Folgejahre und vor dem Zugriff unproduktiver Kollegen ?"

"Wie nimmt der Richterverein Stellung zu den heftigen Presseangriffen gegen das Landgericht, nachdem kurz hintereinander fünf "gefährliche" Untersuchungshäftlinge wegen verzögerten Hauptverhandlungsbeginns freigelassen worden sind - und die Justizbehörde auf die Eigenverantwortung des Landgerichts verwiesen hat, das sich ausweislich der Unterschrift der Landgerichtspräsidentin unter der aktuellen Leistungsvereinbarung mit dem zugewiesenen Budget einverstanden erklärt hat ?"

Schon heute liegt jedenfalls die Vermutung nahe: JUSTIZ 2000 ist eine Reform neuer Qualität; sie stellt die Frage nach den Grenzen der richterlichen Unabhängigkeit in neuer Schärfe und hat das Potential, einen "anderen Rechtsstaat" zu schaffen:

1. JUSTIZ 2000 meint nicht die in manchen Gerichten als Wohltat begrüßte dezentrale Mittelverwaltung; diese ist nur ein Durchgangsstadium der Reform.

JUSTIZ 2000 ist im hier interessierenden Kern die Umsetzung des "Neuen Steuerungsmodells" auf die Justiz.

Das "Neue Steuerungsmodell" ist als eine Ausprägung des "Public Management" für die (Kommunal-) Verwaltung entwickelt worden und dient der besseren Steuerung: einerseits soll für die Verwaltungsspitze die Führung und andererseits für die einzelne Dienststelle die konkrete Leistungserbringung erleichtert werden. Mittel dazu ist die Dezentralisierung der (Detail-)Kompetenz und im Gegenzug die Überbürdung der Finanzverantwortung auf die unteren Verwaltungseinheiten (Budgetierung), begleitet von einem straffen Berichts- und Weisungssystem (Controlling).

Die Mittelzuweisung an die Dienststelle ist leistungsabhängig (outputorientierte Budgetierung): Erbringt die Dienststelle im Haushaltsjahr nicht den Leistungsumfang, auf den die Budgetzuweisung berechnet ist, so muß sie dieses Soll im folgenden Jahr abarbeiten. Die Leistung wird dabei anhand von Kennzahlen gemessen. Die Gerichtsbudgets sollen dementsprechend maßgeblich anhand von Fallkostenpauschalen - deren Bestimmung von zahlreichen Wertungen abhängt und ein wesentliches, vorgelagertes und verdecktes Steuerungsmittel ist - ermittelt werden, da der wesentliche "Output" der Gerichte in der Fallerledigung gesehen wird.

Wie paßt das auf die unabhängige Justiz, die an Recht und Gesetz gebunden nicht pauschal, sondern den Besonderheiten des Einzelfalles gemäß den Rechtsstaat zu gewährleisten hat?

2. Die maßgeblichen Akteure bei der Einführung von JUSTIZ 2000, namentlich die Justizbehörde und die Finanzbehörde, haben bis heute diese Frage nicht beantwortet. Zwar wird von den "Besonderheiten der Justiz" geredet, welche eine "direkte Übertragung" des Modells ausschlössen, diese werden aber weder benannt noch ist ermittelt worden, ob das Neue Steuerungsmodell bei Beachtung dieser Besonderheiten überhaupt noch sinnvoll anwendbar sein könnte oder wie dieses Modell konkret auf die Praxis übertragen werden soll - was die Justizbehörde nicht hindert, schon jetzt Reformgehorsam, also blinden Gehorsam einzufordern.

3. Warum soll mich das interessieren? Das ist doch Verwaltungssache, und mein Gehalt wird auch so weiter gezahlt werden!

JUSTIZ 2000 bezieht sich auch auf den richterlichen Bereich. Die Behauptung, JUSTIZ 2000 sei nur eine Reform der Gerichtsverwaltung und berühre die richterliche Tätigkeit nicht, ist weder richtig noch wird sie überhaupt von der Justizbehörde konsequent aufrechterhalten. Tatsächlich ergibt sich aus der Konstruktion der outputorientierten Budgetierung, daß die richterliche Arbeit zum Gegenstand der neuen Steuerung gemacht wird. Nur dies ist bei dem Ziel umfassender Konsolidierung auch folgerichtig, weil der größte Kostenblock derjenige der Richterpersonalkosten ist. Eine "neue Steuerung", die diese teuren Arbeitskräfte nicht erfaßte, müßte ihrerseits mangels Effizienz auf den Prüfstand.

Wer diesen Nachweis für zu theoretisch-technisch hält, möge die Frage beantworten, warum der frühere Senator Widerstände aus der Richterschaft gegen Justiz 2000 als Mißbrauch der richterlichen Unabhängigkeit wertet.

Wie sollte diese Einschätzung des Rechts- und Verwaltungswissenschaftlers Sinn machen, wo läge der Grund zur Aufregung, wenn Justiz 2000 den richterlichen Bereich nicht beträfe?

4. Sind nicht die bestehenden rechtlichen Grenzen alleine schon wirksam genug? Es gibt doch keine Gesetzgebungsinitiative zur Änderung von Art. 97 Abs. 1 GG ! Eine solche Initiative ist tatsächlich nicht in Sicht.

JUSTIZ 2000 ist aber auch ohne Änderungen des DRiG, des GVG oder auch nur des BAT konstruiert bzw. angekündigt.

Gerade dies zwingt zu der Frage, ob nicht JUSTIZ 2000 gerade auf die Umgehung der schwierigen, relativ transparenten und auf eine umfassende Rechtsprüfung angelegten förmlichen (Gesetzgebungs-) Verfahren setzt. Die auf jeden einzelnen Mitarbeiter unmittelbar und nachhaltig wirkende Veränderung der Verwaltungsstruktur könnte in jeder einzelnen Dienststelle einen "Reform"druck erzeugen, der zu "konsensualen" Veränderungen an den Rechtsnormen vorbei ("wo kein Kläger ist ...") führt. Auch derartige Veränderungen verdienen unsere Aufmerksamkeit.

5. Ob unsere Gerichtsleitungen die Frage nach dem Maß der Anwendbarkeit des Neuen Steuerungsmodells für sich beantwortet haben, ist nicht bekannt. Erkennbar ist nur, daß sie sich mit der Übernahme des Kernelementes, nämlich der outputorientierten Budgetierung, bereits einverstanden erklärt haben. Das jedenfalls ist nach der Interpretation auch der Justizbehörde die Substanz des sogenannten "Ratzeburger Protokolls".

6. Warum soll sich auch der Richterverein mit JUSTIZ 2000 befassen? Es gibt dazu doch in den Dienststellen schon Arbeitsgruppen in Legion !

Die Arbeitsgruppen in den Dienststellen sind zumeist zielverpflichtet und mit dem "Klein-Klein" der Umsetzung befaßt; ihre Besetzung ist zudem zum guten Teil verwaltungsgelenkt. Jedenfalls können diese Arbeitsgruppen nicht das Votum der wichtigsten berufsständischen Vereinigung von Justiz-Juristen in Hamburg ersetzen.

Der Richterverein ist hierzu auch eingeladen: JUSTIZ 2000 wird regierungsamtlich dargestellt als "Prozeß", der vielfältige Möglichkeiten der Mitwirkung biete. Vor wenigen Jahren wäre schon die Aussicht auf "Steuerung" durch die Justizbehörde - also auf etwas, was doch schon begrifflich mit richterlicher Unabhängigkeit unvereinbar erscheint - für den Vorstand des Richtervereins genügender Anlaß gewesen, auf dieses Angebot zurückzukommen.

Heute ist man wohl abgeklärter und weiß um die Sparzwänge, um die allgemeine Forderung nach einem "schlanken", ökonomisch orientierten Staat sowie um die ohnehin bestehenden Einschränkungen der richterlichen Unabhängigkeit (Beurteilungswesen, Dienstaufsicht, Pensenschlüssel), zu der dann eben eine weitere hinzutreten könnte. Vielleicht erhofft man sich sogar Vorteile, klingt es doch verlockend, "selbst über das Geld" entscheiden zu können. Weiß man aber, was genau und zu welchem Preis man hier einkauft?

Wie sollen denn die schon jetzt für notwendig erachteten Grenzziehungen exakt bestimmt und verankert werden ?

7. Die Hoffnung auf eine Klärung der offenen Fragen durch die Amtsrechtskommission des Deutschen Richterbundes dürfte trügen, da von dieser Kommission nicht, jedenfalls nicht in angemessener Zeit, die Auseinandersetzung mit der (zudem in den maßgeblichen Details schwer zu ermittelnden) Hamburgensie "JUSTIZ 2000" zu erwarten ist.

Die Einschätzung, mit der Abwehr von Qualitätskennzahlen sei die Problematik erledigt, ist jedenfalls dann nicht zu teilen, wenn man eine Verschärfung des Mengendruckes durch Überbürdung der Finanzverantwortung für problematisch hält.

Unter Betriebswirten jedenfalls, aber auch in der US-amerikanischen Justiz ist es Gemeingut, daß ein System mit Mengenorientierung zum Schutz vor Fehlentwicklungen ein Instrumentarium zur Qualitätssicherung benötigt. Stellt der Richterverein fest, daß ein solches auf Qualitätskennzahlen aufbauendes System unzulässig wäre, so müßte er wegen der sonst drohenden Fehlsteuerung wohl auch der outputorientierten Budgetierung insgesamt seine Zustimmung verweigern.

Nochmals zusammengefaßt: JUSTIZ 2000 wirft viele schwierige Fragen auf, deren ungenügende Prüfung weitreichende Folgen haben kann. Diese Fragen zu beantworten ist auch die Aufgabe der maßgeblichen berufsständischen Vereinigung der Justiz-Juristen in Hamburg. Wir müssen uns umgehend dieser Aufgabe stellen und sollten damit nicht nur die Vorstandsmitglieder beauftragen, die sich mit dem Thema schon von Amts wegen und aus Sicht der Verwaltungsspitze befassen mußten und dabei teilweise schon Bindungen eingegangen sind.

Justiz 2000 kann man seriös nur bei eingehender Prüfung aller Elemente und ihrer Wirkungszusammenhänge bewerten. Wer diese Reform nur mit "Budgetierung", diese nur mit "dezentraler Mittelverwaltung" und diese wiederum lediglich mit der gezielteren Beschaffung von Toilettenpapier gleichsetzt, greift zu kurz.

Genauso zu kurz greift allerdings derjenige, der unsere schon jetzt bestehende Verantwortung für effizienten Mitteleinsatz leugnet. Doch: Die Auseinandersetzung mit dem Reformansatz dürfte auch zahlreiche Erkenntnisse über von dem Neuen Steuerungsmodell unabhängige Verbesserungs- und Einsparmöglichkeiten ergeben; sie gibt die Gelegenheit und den Rahmen auch für die selbstkritische Frage nach besserer und effizienterer Arbeit.

So liegt es auf der Hand, daß für die "Kostentransparenz" die jeweiligen Prozeßkosten nicht auf den Pfennig genau berechnet zu werden brauchen und daß für "Kostenbewußtsein" (d.h. Sparbereitschaft) das Gericht nicht wie ein Privatunternehmen strukturiert werden müßte. Für den gutwilligen Richter reicht eine vereinfachte "Transparenzliste" mit überschlägig ermittelten Ansätzen (z.B. Durchschnittskosten für die Arbeitsstunden von Wachtmeister / Schreibkraft / Geschäftsstellenmitarbeiter / Richter / Dolmetscher) aus. Doch auch so etwas ist nicht in Sicht. Packen wir also auch dies an.

Wir Mitglieder des Hamburgischen Richtervereins sollten den Vorstand bei der Bearbeitung dieser Themen unterstützen; ich schlage allen Interessierten vor, sich dafür (ab Ende Juli) bei mir zwecks Organisation der weiteren Arbeit zu melden.

Michael Bertram