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Brief an den Bürgermeister
Der Vorsitzende des Hamburgischen Richtervereins schrieb wie folgt an den Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg:
Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
zunächst möchte ich Ihnen im Namen des Hamburgischen Richtervereins zu Ihrer Wahl zum Ersten Bürgermeister gratulieren und Ihnen Glück und Erfolg wünschen.
Ich wende mich an Sie wegen eines Gesprächs, das Sie mit dem Hamburger Abendblatt geführt haben und das in der Ausgabe vom 23.10.1997 abgedruckt ist.
Dort werden Sie mit folgenden Äußerungen zitiert:
"Justiz sei auch deshalb in der Krise, weil in allen Bereichen über die Schnelligkeit von Prozessen diskutiert werde, die Justiz von dieser Diskussion ‘wegen des Weihrauchs der richterlichen Unabhängigkeit’ aber bisher ausgenommen gewesen sei. ‘Jetzt erwischt es sie später und stärker’. Politik müsse nun in den Selbstfindungsprozeß der Justiz über die Organisation der eigenen Arbeit eingreifen."
Diese Äußerungen erwecken den Eindruck, die Gerichte und Staatsanwaltschaften seien in der Vergangenheit reformunfähig bzw. reformunwillig gewesen, die richterliche Unabhängigkeit stünde Reformen innerhalb der Justiz entgegen.
Ein solcher Vorwurf ist nicht gerechtfertigt. Die Gerichte und Staatsanwaltschaften haben immer wieder unter Beweis gestellt, daß sie sich erfolgreich um die Optimierung ihrer Organisation und der Arbeitsabläufe bemühen. So erinnere ich an die Einrichtung der Gruppengeschäftsstellen am Amtsgericht Hamburg Ende der 70er Jahre und - in der Folgezeit - der Tandem-Geschäftsstellen am Landgericht. Dort sind Organisationsformen entwickelt worden, die das Beratungsunternehmen Kienbaum und die vom Senat eingesetzte sog. Haas-Kommission als vorbildlich und beispielgebend bezeichnet hat. Ich verweise auf den Technikeinsatz am Verwaltungsgericht, organisch eingebunden in eine passende Organisationsstruktur - vom Rechnungshof hochgelobt.
Ich verweise ferner auf überzeugende, von Ihnen selbst sehr positiv kommentierte Organisationsverbesserungen mit Technikeinsatz am Finanzgericht, auf das automatisierte Grundbuch am Amtsgericht und - aus jüngster Zeit - auf das äußerst anspruchsvolle Reformprojekt "Staatsanwaltschaft". Dies sind lediglich Beispiele für Reformen, die in erster Linie von den Gerichten und Staatsanwaltschaften entwickelt, getragen und umgesetzt worden sind.
Wie ich aus Gesprächen mit anderen Landesvorsitzenden weiß, braucht die hamburgische Justiz keinen Vergleich mit anderen Bundesländern zu scheuen, im übrigen auch nicht im Hinblick auf die durchschnittliche Dauer der Prozesse. Die Gerichte und Staatsanwaltschaften brauchen aber insbesondere keinen Vergleich mit anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes zu scheuen, ganz im Gegenteil.
Ich will damit nicht sagen, daß bei der Justiz in organisatorischer und reformerischer Hinsicht alles zum besten steht. Es bleibt nach wie vor viel zu tun. Sie werden jedoch in dieser Frage ganz überwiegend auf Reformbereitschaft und Aufgeschlossenheit bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Justiz stoßen, ein Faktum, das zu meinem großen Bedauern in den Medien immer wieder in Abrede genommen wird.
Was uns drückt - und darauf habe ich bei Ihrem Besuch unserer letzten Mitgliederversammlung schon hingewiesen -, ist die Untätigkeit bzw. Unvernunft des Gesetzgebers. Es liegt seit langer Zeit eine Vielzahl von aufgabenkritischen Vorschlägen und Vorschlägen zur Vereinfachung und Verkürzung der Verfahren auf dem Tisch. Im Ergebnis hat sich nichts Wesentliches getan. Berechtigte Hoffnungen auf "Besserung" bestehen nicht. Im Gegenteil, es kommt nun wohl doch die Insolvenzrechtsreform mit einem erheblichen Personalmehrbedarf. Diese Reform, an sich gesellschafts- und sozialpolitisch wünschenswert, können wir uns zur Zeit nicht leisten. Alles, was von dem Gesetzgeber bislang an Gegenfinanzierung angedacht worden ist, kann nur als unseriös bezeichnet werden.
Ein zweiter Punkt: Die Probleme der Justiz haben in erster Linie ihre Ursache in offenen gesellschaftlichen Problemen. Ich sehe mit Sorge, daß unsere Gesellschaft - und zwar in allen ihren Bereichen - zunehmend die Fähigkeit verliert, ihre Probleme ohne Mithilfe der Justiz zu lösen. Die Justiz als Generalreparaturbetrieb - diesen Anspruch kann die Justiz nur zum Teil einlösen. Im übrigen ist das Ergebnis eine restlose Überforderung der Gerichte und Staatsanwaltschaften.
Der Hamburgische Richterverein würde es sehr begrüßen, wenn sich demnächst einmal die Gelegenheit böte, die aufgezeigten Fragen und Probleme mit Ihnen persönlich zu erörtern.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Raabe