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Berti Adé,
Scheiden tut weh
Zusammen mit Frau Steinmetz wurde ich im Sommer 1989 der neu gegründeten Großen Strafkammer 27 unter dem Vorsitz von Herrn Bertram zugeteilt.
Wir standen als Assessorinnen noch am Beginn unserer beruflichen Laufbahn und ahnten damals nicht, welcher Glücksfang uns mit diesem Vorsitzenden ins Netz gegangen war.
Eigentlich kamen wir nur deshalb in seine Kammer, weil er nicht "nein" sagen konnte.. Später stellte sich heraus, daß er eigentlich nie "nein" sagen kann, wenn er um etwas gebeten wird. Nun sollte er zwei richterliche Halbtagskräfte in seine Strafkammer übernehmen, was ein Novum am Landgericht war und wozu sich bis dato keiner der Vorsitzenden im Strafbereich unter dem Hinweis auf alle möglichen organisatorischen Schwierigkeiten bereit gefunden hatte. Eben keiner - bis auf Herrn Bertram, der gerade von der Zivil- auf die Strafseite zurückgewechselt war. Er sagte: "Ja" ..., aber nicht aus einer bestimmten, weltanschaulich geprägten Überzeugung heraus, wie z.B., um den Frauen aus der althergebrachten beruflichen Benachteiligung zu mehr Chancengleichheit zu verhelfen .....
Derartigen Überlegungen konnte er deshalb nichts abgewinnen, weil er sie für selbstverständlich hielt. Nein - die Antwort war viel simpler, die er uns einmal auf unsere spätere Frage nach seinen Beweggründen gab: "Er sei vom Präsidium gefragt worden, sonst sei niemand bereit gewesen, mit Halbtagskräften zu arbeiten, aber einer mußte es ja tun ...!"Also tat er es.
Und so war es mit allem, was sich in den langen Jahren der Zusammenarbeit im Umfeld der Kammergeschäfte - abspielte. Im Zweifel - und wenn gerade niemand anders zur Stelle war - übernahm er die Arbeit, und es war eine ganze Menge. Dabei war er beileibe nicht standesbewußt. Neben seiner glänzenden Paraderolle als "Maître de plaisir" in der Hauptverhandlung - so pflegte er sich selbst gern zu bezeichnen - war ihm keine Tätigkeit zu gering, als daß er sie nicht selbstverständlich erledigt hätte, ohne jemals darüber Unmut zu äußern: Er übernahm die Berichterstattung, schrieb Urteile, fotokopierte für seine Beisitzer die Akten ; in den Zuständigkeitsbereich der Geschäftsstelle fallende Aufgaben führte er gleichermaßen ohne Zögern aus, wenn dort Not am Mann war. So lud er z.B. vielfach Zeugen höchstpersönlich oder führte Botengänge aus. Lediglich ein Bereich fällt mir in diesem Zusammenhang ein, an den er sich nicht heranwagte: die Aufgabe des Wachtmeisters. Es steht zu vermuten, daß ihm diese Tätigkeit nur deshalb verschlossen blieb, weil es ihm einfach nicht gelang, eine entsprechende Uniform aufzutreiben.
Bewährt hat er sich weiterhin in der Rolle des Lotsen im Labyrinth des Landgerichts. Traf er zufällig auf den Gängen wegen der chaotisch numerierten Räume einen völlig verzweifelten Zeugen, Besucher oder Angeklagten, führte er diesen getreulich durch das Gebäude zum Ziel, sei es die Toilette, die Kantine, ein Sitzungssaal oder nur der Ausgang. Wenn nötig, packte er auch mit an, wenn ein Kinderwagen über die Treppen zu transportieren war.
Aber ich will auf unsere Kammergeschäfte zurückkommen. Keine andere Strafkammer am Landgericht hatte auch nur annähernd eine so vielseitige (Sonder-) Zuständigkeit wie die von Herrn Bertram: Jugendkammer, Jugendschutzkammer, allgemeine Erwachsenensachen erster und zweiter Instanz, nicht zu vergessen die unter Kollegen ungeliebte Staatsschutzkammer; zeitweilig übernahm er auch die Schwurgerichtszuständigkeit, um nur die Hauptgebiete zu nennen. Damit hatte er die ganze Palette des Strafrechts - bis auf die Wirtschaftssachen - unter einem Hut, das Betäubungsmittelrecht eingeschlossen qua Jugendrecht. Wer als Triebfeder seines Handelns etwa Profilierungsdrang vermutet, geht fehl. Dahinter stand sein nie nachlassendes Interesse und die Neugier an neuen Aufgaben, und er vermittelte auch uns die Haltung, sich mit ihm den Herausforderungen des bisher Unbekannten zu stellen.
Herr Bertram war uns ein Vorbild: ein idealer Vorsitzender, ein wunderbarer Kollege. Trotz seiner langjährigen Erfahrung und profunden fachlichen Kenntnisse gab er uns nie das Gefühl von Überlegenheit und Dominanz. Er war immer aufgeschlossen für andere Meinungen. Vorgebrachten Argumenten, denen er nicht folgen mochte, begegnete er mit Respekt. Allerdings ließ er sich auch nichts vormachen. Was er geprüft, abgewogen und für richtig befunden hatte, war schwerlich noch zu erschüttern. Schwächen oder Fehler seiner Mitarbeiter strich er nicht heraus, sondern korrigierte sie in kaum merkbarer Weise. Bei aller beruflichen Anspannung war ihm Hektik fremd, er agierte stets gelassen und souverän und war jederzeit für jeden ansprechbar, egal ob es sich um fachliche oder persönliche Dinge handelte. Er beherrschte die seltene Kunst, ein menschlich ausgeglichenes Klima - auch in der angespannten Prozeßsituation - zu schaffen und Wogen zu glätten, ohne seinen Standpunkt zu verleugnen.
Unser Vorsitzender nahm neben seiner Kammerarbeit - im Hintergrund und ohne dies je an die große Glocke zu hängen - eine Reihe von sonstigen Aufgaben wahr, ohne auch nur im geringsten den Anstrich eines Funktionärs zu haben. Er war nach der Wende u.a. zusammen mit dem früheren Bürgermeister und Justizsenator Peter Schulz Kommissionsmitglied in dem Ausschuß, der sich mit der Prüfung der Übernahme von ehemaligen DDR-Richtern und Staatsawälten befaßte. Mehr als ein Jahr lang fuhr er regelmäßig, teilweise mehrmals im Monat in den Osten nach Schwerin, um Prüfungsgespräche mit den "Bewerbern" zu führen und in der Kommission Maßstäbe für die Übernahme der Kollegen zu erarbeiten. Wir spürten, daß ihn das politisch Heikle dieser Angelegenheit, aber auch die menschlichen Schicksale stark bewegten, obgleich er fast nie darüber sprach.
Im Vorfeld von Gesetzesvorhaben fertigte er auf vielen Ebenen Stellungnahmen und Gutachten. Er betätigte sich in einer nicht überschaubaren Fülle von Ausschüssen, Gremien, Vereinen sowohl auf juristischem als auch auf gesellschaftspolitischem Gebiet. Überall war sein Sachverstand und seine langjährige praktische Erfahrung gefragt. Sein Steckenpferd aber war wohl die journalistische Arbeit, die sich beileibe nicht nur auf die Beiträge im MHR beschränkte. Eigentlich war er immer mit der Abfassung irgendeines Artikels in irgendeiner juristischen Fachzeitschrift, bisweilen auch eines Leserbriefs oder Kommentars in der Tagespresse beschäftigt. All dies brachte ihm viel Zuspruch und Anerkennung ein, aber bisweilen auch Probleme.
Die vielen genannten Aktivitäten können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Herzstück seiner Arbeit zu jeder Zeit die richterliche Tätigkeit war. Nie vernachläßigte er diese zugunsten anderer Aufgaben, nie schob er sie in irgendeiner Weise auf uns Kollegen ab. Hier wirkte er mit gleichsam unbegrenzter Energie und Kraft und in unnachahmlicher Eigenart. Seiner geschickten und einfühlsamen Verhandlungsführung war es zu verdanken, daß die Verfahren ausnahmslos zügig durchgeführt werden konnten. Am meisten beeindruckte mich sein gekonnter und unkonventioneller Umgang mit den Fallstricken und Formalien des Strafverfahrens sowie seine feinsinnig abwägende, plakative und lebendige Sprache, die vor allem in seinen mündlichen Urteilsbegründungen Ausdruck fand. Nichts beschönigte er, nicht die Schuld des Angeklagten, nicht das Leid des Opfers. Seine Worte gaben seine menschliche Anteilnahme an dem Geschehen wieder und wurden von den Prozeßbeteiligten auch in diesem Sinne verstanden.
Vieles mehr könnte ich über unseren Vorsitzenden sagen. Vielleicht nur ein letztes:
Über die Quellen seiner erstaunlichen Vitalität und Leistungskraft muß spekuliert werden. Immerhin gab Herr Bertram aus seinem Privatleben aber doch - wenn auch ungewollt - einiges preis. So pflegte er, bis weit in den Oktober hinein ein frühmorgendliches Bad in einem Natursee mit Kraul- und Taucheinlagen zu nehmen. Eingeweihte bemerkten dies mitunter daran, daß noch einige Algenreste in seinem Haar hingen, wenn er anschließend zur Arbeit kam. Ihn stählte gewiß auch die tägliche Radfahrt zum Gericht bei Wind und Wetter. Vielleicht war er der einzige Vorsitzende, der statt mit einer Aktentasche grundsätzlich mit einem praktischen Rucksack auf dem Rücken das Dienstgebäude betrat. Neben Akten enthielt dieser zur Stärkung der Abwehrkräfte bevorzugt Äpfel und Birnen aus eigenem Anbau als Zwischenverpflegung und "Vitaminbomben". (In Zeiten reicher Ernte versorgte er auch seine Kammermitglieder mit den gesunden Früchten.)
Überhaupt schien er, als Ausgleich zur geistigen Arbeit körperliche Beschäftigung in der freien Natur zu schätzen. Als Indiz hierfür sind die lobenden Ausführungen der Ehefrau zu seiner Mithilfe beim Ernten, Entkernen, Entstielen und der weiteren Zubereitung des Gartenobstes zu Eingemachtem, Mus oder Marmelade zu werten. Kein Wunder, daß sich seine Kleidung an ihrem Nutzwert und praktischen Zweck messen lassen mußte. Modetrends, weltläufige Eleganz oder gar ausgefallene Accessoires fanden vor seinen Augen ohnehin keine Gnade. Er blieb bei Hose und Pullover.
So, genau so, haben wir ihn alle geliebt.
Gisela Bolle-Steinbeck