"Ein Gespenst geht um in Europa ...", beginnt das Kommunistische Manifest von 1848. Auch wir am Landgericht haben neuerdings eines - verkleidet in die "Strukturanalyse strafrechtlicher Großverfahren in 1. Instanz des Landgerichts Hamburg - Dr. Heino ter Veen, Roland Rathke, Hamburg, im September 1996. Bericht über eine Untersuchung am Landgericht Hamburg."
In voller Länge umfaßt das Werk 303 Seiten (mit 120 Tabellen); eine "Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse und ihrer Bewertung in 25 Thesen" (Trierer Vortragsskript) immerhin noch 28 Textseiten.
Wie kann eine, wie man jedenfalls erwarten wird, knochentrockene Lektüre dieses Genres Staub aufwirbeln?
Das zu erklären, würde verlangen, weit auszuholen und das "Summary" erneut und auf eigenes Risiko zu raffen, zu straffen - und weiterhin zu verkürzen ... unmöglich! Aber versuchen wir es dennoch:
(... Soweit - und weiter - steht bei Redaktionsschluß der Text auf meinem Bildschirm. Da flattert, aus freundlicher Kollegenhand (ich selbst halte mich an die FAZ!) das heutige Abendblatt (Freitag, 22.11.1996) auf meinen Tisch: "Studie klagt an: Hamburgs Strafrichter zu langsam" nebst Kommentar "Zündstoff" und einem Interview der Landgerichtspräsidentin: "Sind Hamburgs Richter zu langsam?" Wie so oft zu bemängeln (ich wüßte eigene Prozeßerfahrungen beizusteuern!): Die Fettdruck-Schlagzeile der ersten Seite führt irre, denn der nachstehende Text deckt sie keineswegs. Vielmehr rückt der Korrespondent Ralf Nehmzow gewisse Thesen kritisch zurecht (mit noch verschärfter Kritik gegenüber der Studie in seinem Kommentar), die man bei flüchtiger Lektüre aus der Analyse herauslesen könnte, und eben dies - nämlich kühle Richtigstellung - wird dann auch Inhalt und Substanz des Interviews (Seite 14 ...)).
In Hamburg (LG) - so der Bericht - währen die Strafverfahren im Schnitt immer länger, die Hauptverhandlungs-(HV)-Dauer stieg z.B. von 5,01 Tagen i.J. 1990 auf 8,08 Tage 1994. Sogenannte "Großverfahren" (über 10 Tage HV) gibt es hier weit häufiger als im Bundesdurchschnitt, und deren Zahl überschritt 1992 -1994 die entsprechende Belastung anderer Großstadtgerichte wie Düsseldorf, Frankfurt, München u.a. teils um über 100 %. Die Hamburger Landrichter arbeiten, legt man die Zahl der HV-Tage zugrunde, länger als ihre Kollegen im Bund, erledigen aber weniger ...: paradoxerweise?
Woran liegt das? An objektiven Faktoren (Deliktstrukturen einer Großstadt mit ganz besonderen Problemen: organisierter Kriminalität, exzeptionell vielen BTM-Verbrechen, übermäßig hoher Ausländerkriminalität usw., vielleicht (horribile dictu!) auch an der tätigen Existenz einer relativ großen Zahl problematischer Verteidiger?
Liegt es vielleicht auch - oder gar primär - an subjektiven Faktoren: Schaffen die Hamburger - vermeidbarerweise! - weniger als die Schwaben, Bayern und Rheinländer? Arbeiten die Richter, dauern ihre Prozesse also etwa zu lange?
Dieser - angesichts des großen oevres jetzt von mir sicherlich grob und etwas flapsig formulierte - Tenor von Fragen und Thesen (einiger von ihnen!) kann vielleicht erklären, weshalb manche der hiesigen Strafrichter (nachdem die Kunde von der Existenz des genannten Papiers sich hier verbreitet hatte) die "Trierer Fassung" (Vortragsskript des Verfassers vom 01.10.1996) dann doch mit spezieller (teils auch mit grimmiger) Aufmerksamkeit zu verdauen gesucht haben.
Im Landgericht ist jetzt im November zweimal über die Sache gesprochen und auch um sie gestritten worden. Wollte man die 300 Seiten sozusagen "quantifizieren", könnte man allerdings sagen, das meiste, was darin niedergeschrieben steht, liege jenseits allen Streits und verdiene Anerkennung - nicht nur als gründliche Datenerhebung und -verarbeitung, sondern auch deshalb, weil dort eine Fülle wertvoller Argumentationshilfen für nötige Justizreformen aufbereitet worden sind; auch davon war die Rede. Aber die Dialektik der Sache brachte es mit sich, daß die Anerkennung in den Hinter- und die Kritik in den Vordergrund rückte, zumal beim "jour fixe" vom 7. November:
Die Analyse fordert ihre Kritik immerhin heraus: kaum, soweit sie wirklich "Analyse" ist, vielmehr einiger ihrer Thesen wegen - Kritik im mehrfachen Sinne: als methodische, die hier und dort Anlaß findet, nach der Vergleichbarkeit des offenbar einschränkungslos Verglichenen oder auch der Plausibilität von Ursache/Wirkungsvermutungen zu fragen, als praktische, die - mit dem Erfahrungshintergrund geschundener und gebeutelter Hauptverhandlungs-"Frontschweine" - in den Thesen über Verhandlungsgestaltung, Antrags- und Beweisantragsrecht, Terminierung, "Durchruf" und dergleichen eine gewisse Naivität zu entdecken meint, und als Zweifel an der politischen Vernunft der Sache:
Gewiß, dies ergab wohl das Hin und Her von Frage, Replik, Duplik usw.: Die Thesen sind, bei Licht besehen, durchweg vorsichtig formuliert, in Frageform, im logischen Konjunktiv; was hier mal reichlich apodiktisch klingt, wird dort wieder zurechtgerückt, relativiert, durch eine Fülle ausführlich belegter tendenziell gegenteiliger Befunde ausgeglichen usw. ... Vielleicht ist es letztlich so, daß man, alles in allem, nur noch um einzelne Formulierungen streiten könnte - und wer wollte das?
Das mag ja sein, wurde gesagt: Aber damit sei dennoch das justizpolitische Unbehagen bei der Geschichte nicht auszuräumen: Im Rathaus lese man flüchtig (natürlich keine 300 Seiten!) und werde mit Freude das heraus- und aufgreifen, was dort "in den Kram" passe und den ohnehin angestrebten Kahlschlag zu legitimieren scheine. Und da gäbe es schon manche Formulierungen, die ein Beamter oder Politiker, der darauf aus sei, leichterhand auf den Satz reduzieren könne, die Krise der Hamburger Großverfahren sei im Landgericht hausgemacht (Nachtrag: siehe die Überschrift des HA vom 22.11.1996, die solchem Argwohn Nahrung zu geben scheint).
Im Wort "fragwürdig", das dieser Skizze voransteht, liegt Skepsis; das war gewollt. Indessen ist dem Begriff ein anderes weiteres - ein positives - Element verbunden: Er besagt zugleich, daß eine Sache lohne und es wert sei, diskutiert und bedacht zu werden. Das ist hier ja ebenso wahr, und zwar auch mit Bezug auf Thesen, deren Formulierungen oder Inhalt durchweg Mißbilligung finden. So kann man zum Beispiel Begriff und Wort "Revisionsangst" getrost streichen. Daß damit der Sache nach letztlich doch ein Sack wirklicher, ernsthafter Fragen ausgeschüttet wird: Ich würde es keineswegs bestreiten. Wie sollte ich auch, wo ich selbst im letzten Mitteilungsblatt ("Allzu penibel?") in Reflexionen über Kasseler Kollegen versunken war, die des Guten wohl zuviel getan hatten? Die allgemeine Problematik, die hinter jener augenscheinlichen Groteske lauerte, dürfte jedem Strafkämmerer geläufig sein: Wir schlagen uns damit doch herum, also kann man auch darüber reden! Damit bin ich beim Nutzen, den wir aus einer problematischen Sache vielleicht doch ziehen können: "Am Ball bleiben!", um es salopp zu sagen. "Runde Tische", "Gesprächskreise", "Arbeitsgruppen" ...: Ich weiß, die sind schnell geschaffen und laufen sich (bei optimistischer Prognose) in der Hälfte aller Fälle alsbald tot. Bei der am 20.11. d.J. frisch aus der Taufe gehobenen Gesprächsrunde, welcher Gerhard Schaberg (VRiLG, GS 22) präsidieren, sie moderieren, leiten (wie man will!) wird, ist solch ein Exitus sicherlich auszuschließen: Beteiligung erwünscht!
Der langen Rede kurzer Sinn: Dies hier war nicht viel mehr als ein Plätschern, das rasche Hinwerfen einiger Informationen. Gerade unter dem frischen Eindruck des heutigen Abendblatts möchte ich meine Leserinnen und Leser bitten, zur Feder zu greifen und selbst dafür zu sorgen, daß auch in diesem Mitteilungsblatt die Diskussion unseres Themas weitergeht.