"In Antragsflut untergegangen - Prozeß muß nach 58 Verhandlungstagen neu beginnen -". So lautet die Überschrift eines Prozeßberichts der Frankfurter Rundschau vom 21. Juni d.J.:
"Kassel. Nach 58 Verhandlungstagen vor dem Kasseler Landgericht ist der Prozeß gegen die 29jährigen Zwillingsbrüder Markus und Christian A. und den mitangeklagten Jörg T. wegen eines Formfehlers geplatzt und muß deshalb völlig neu aufgerollt werden.
Markus A. soll 1993 zusammen mit T. ein Ehepaar in Kassel niedergeschossen haben. Ein gutes Jahr später sollen Christian A. und T. mit Waffengewalt eine Bank in Thüringen überfallen haben. Dem Beschluß des Gerichts, das Verfahren auszusetzen, könnte die Entlassung der Zwillingsbrüder aus der Untersuchungshaft folgen.
Das war aus Sicht von Prozeßbeobachtern auch von Anfang an das Ziel ihrer Verteidigungsstrategie. Fest steht, daß vor allem Markus A. das Gericht seit dem ersten Verhandlungstag mit Anträgen überhäufte. Rund 150 wurden inzwischen registriert - darunter zahlreiche Befangenheitsanträge gegen die Richter der Kammer und andere, nachgeordnete Richter, die inzwischen über Befangenheitsanträge zu entscheiden haben.
Gegen etliche Richter am Landgericht hat A. inzwischen sogar Strafanzeige wegen der "Bildung einer kriminellen Vereinigung" gestellt: Sie alle hätten sich, so lautete sinngemäß die Begründung, gegen ihn verschworen. Beantragt wurde zum Beispiel auch, den Staatsanwalt im Gerichtssaal zu verhaften, seine Akten zu beschlagnahmen und ihn durch einen Psychiater untersuchen zu lassen. Die Staatsanwaltschaft habe, so lautet einer der Vorwürfe, den Mitangeklagten T. (der geständig ist und die Zwillinge belastet) als Kronzeugen "gekauft".
Aufgrund der Antragsflut kamen die Richter - penibel darauf bedacht, prozessuale Fehler zu vermeiden - auch in 58 Verhandlungstagen nicht zur eigentlichen Beweisaufnahme und zur Vernehmung von Zeugen. Es mag auch an dieser Fülle von Anträgen liegen, daß den nachgeordneten Richtern doch ein Fehler unterlief: In dem jüngsten Antrag des Markus A, mit dem erneut 19 Richter als befangen abgelehnt wurden, hatte der Angeklagte auch einen Schöffen abgelehnt. Das wurde übersehen. So kam es, daß dieser Schöffe am 58. Verhandlungstag mit auf der Richterbank saß, obwohl über seine angebliche Befangenheit noch nicht entschieden war. Damit war die Kammer formal nicht ordnungsgemäß besetzt ...."
Ein sattsam bekanntes Thema des deutschen Justizalltags, allerdings ein besonders extremes Beispiel, dessen individuelle Beurteilung natürlich wirkliche, detaillierte Verfahrenskenntnis voraussetzen würde. Immerhin illustriert es einen Verfahrensablauf, dessen allgemeiner Typus wohlbekannt ist.
Ich verzichte auf das Nächstliegende: Mißbrauch zu geißeln und seine gesetzlichen Einfallstore in der StPO aufzuzählen. Das ist - wie literarisch leicht belegbar - schon hundertmal geschehen, auch in Hamburger Reform-Papieren, "auf allen Ebenen" (wie man im gräßlichen Bürokratendeutsch der verwalteten Welt zu sagen pflegt), in Ausschüssen, Kommissionen, Unterkommissionen und Gesprächskreisen. ...
Ich möchte vielmehr - sozusagen entre nous - einen Blick auf die andere Seite der Medaille werfen:
Dem Bericht zufolge haben die Richter auch nach monatelanger Verhandlung über bloße Präliminarien nicht die Courage gefunden, weitere Befangenheits- und sonstige Prozeßanträge a limine als unzulässig abzuweisen (was das sonst weitschweifig - umständliche Ablehnungsverfahren, §§ 26 ff. StPO, wohltuend hätte verkürzen können). Das Prozeßrecht ist zwar betulich, skrupelös und oft zum Haare-raufen. Aber so schlecht, daß ein Gericht sich permanentes Allotria bieten lassen müßte, ist es auch wiederum nicht: Mit offensichtlichem Mißbrauch, wie er in Kassel veranstaltet zu sein scheint, sollte es kein langes Federlesen geben. Beschluß: "unzulässig - aus! Kommen wir zur Sache!" Mag der Petent sein Glück beim Revisionsgericht versuchen (§ 338 Ziff. 3 StPO).
Ich weiß natürlich, daß meine Empfehlung nicht ohne jedes Risiko ist. Denkbar, daß die Revisionsrichter anderer Meinung sind, und dann war alle Mühe für die Katz. Der zitierte Bericht, der die penible Bedachtsamkeit der Kassler Landrichter besonders herausstellt - keineswegs abwertend! -, läßt vermuten, daß sie just von dieser Sorge geplagt wurden.
Aber so ärgerlich, ja im Einzelfall verheerend solches Pech, wenn es denn eintritt, auch ist: Man versuche, sich vom Einzelfall zu lösen.
Die Revisionsgerichte, jedenfalls der BGH, dürften durchaus gewillt sein, einer sachlich gebotenen, lebensnah-rigoroseren Mißbrauchsrechtsprechung der Tatgerichte Flankenschutz und Rückendeckung zu geben. Mir sind offene, geradezu beschwörende Hinweise dieser Art auf Juristen- und Richtertagen wiederholt ins Ohr gedrungen. Entgegen zuweilen geäußerten Vermutungen dürfte auch in der Anwaltschaft eine positive Resonanz darauf zu erwarten sein: Von den "Zivilisten" dort (und anderen strafrechtsfernen "Fakultäten") ohnehin, zumal deren Unverständnis für das Hick-Hack "drüben auf der anderen Seite des Sievekingplatzes" nicht geringer ist als sonst im Volke. Aber auch die meisten Strafverteidiger würden diesen Weg der Problementschärfung nicht weniger begrüßen. Zunächst deshalb, weil sie einen Zirkus à la Kassel mißbilligen. Darüber hinaus aber auch aus Mißtrauen gegen den Gesetzgeber, von dem sie sich nichts Gutes erhoffen, wenn er wieder im Strafprozeßrecht herumfuchtelt und - fuhrwerkt -: einem Recht, das nun einmal für alle da ist - zuvörderst für die vielleicht 95 oder 98 % der deutschen Strafverfahren, die vernünftig ablaufen. Die einzelfallbezogene Revisionsrechtsprechung, so das Kalkül, könne dem Treiben schwarzer Schafe viel wirksamer - und doch allgemein schonender - den verdienten Riegel vorschieben.
Die veröffentlichte Rechtsprechung scheint zwar gelegentlich Zweifel an der Verlässlichkeit von DJT-Bekundungen der o.e. Art nahezulegen. Aber man sollte das Gedruckte weder ganz als bare Münze nehmen noch für der Weisheit letzten Schluß halten: Das juristische Veröffentlichungswesen produziert ein Reich sui generis, eine logisch-ästhetische Scheinsystematik zur Weltbild-Komplettierung von Dogmatikern.
Das empfindet der Praktiker, wenn er gelegentliche Akten-Rückläufe vom BGH studiert und sieht, daß die Substanz kurzer - durchweg höchst vernünftiger Beschlüsse (§ 349 (2) StPO) - mit der reinen Theorie gelegentlich keineswegs unter ein- und denselben Hut passen.
Vielleicht bin ich hier zu optimistisch; sicherlich wird es immer wieder Einzelfälle geben, die mich desavouieren. Trotzdem kann, wie die Dinge liegen, allein so in Tollhäusern wie unlängst in Kassel jedenfalls ein wenig durchgegriffen und Ordnung geschaffen werden.
Den überpeniblen Kollegen möchte man deshalb das kräftige Sprüchlein auf ihre Wege rufen, mit dem Martin Luther seinen gar zu bedächtigen Weggefährten Philipp Melanchton zur Tat antrieb:
was sich - allerdings ziemlich frei - so übersetzen ließe:
"Nur keine Bange: der Mensch muß handeln, und der Himmel wird es dann schon richten!"