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 Käthe Manasse
in memoriam!
MHR 3/ 94

Am 2. Juli d.J. ist Frau Dr. Käthe Manasse - Landgerichtsdirektorin i.R. - im Alter von 89 Jahren gestorben. Ihr Name wird sich vielleicht nur bei den Älteren von uns mit einer wirklichen Vorstellung verknüpfen, obwohl sie bei den Pensionärstreffen des Richtervereins und auch den jährlichen "Bierabenden" des Landgerichts bis zuletzt - noch in diesem Januar in der Grundbuchhalle - dabei war: geistig hellwach und rundum interessiert, trotz der Gebrechen des hohen Alters, die dem Hören, vor allem aber ihrem Sehvermögen (was sie als "Mensch des Buches" als besonders drückende Last empfand) zunehmend unerbittliche Schranken und Grenzen setzten.

Ihr Andenken verdient es, vor dem allzuschnellen Vergessen bewahrt zu werden, ist ihre Biographie doch auch innig und unauflöslich hineinverwoben in das böse Stück deutscher Justiz-und Nationalgeschichte, das "Judenverfolgung" heißt.

I.

Ich halte mich zunächst an eine Würdigung, die ihr sieben Jahre nach der Pensionierung in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung vom 1. Februar 1980, also zum 75. Geburtstage, zuteil geworden ist, indem ich daraus zitiere und in Klammern hier und dort einige Zusätze beifüge:

"Frau Dr. Manasse kommt aus einer bürgerlichen jüdischen Familie (Loewy) in Berlin. Ihre Eltern waren, wie viele Berliner, aus Schlesien gekommen. In ihrer Familie hat sie von früh auf preußische Pflichterfüllung und Zuverlässigkeit vor sich gesehen und gelernt. Ihr Vater (Kaufmann von Beruf), der noch preußischer Soldat gewesen war, fuhr nach dem Ersten Weltkrieg selbstverständlich zur Volksabstimmung über das Schicksal Schlesiens. Ihre drei Brüder sind während des ersten Weltkrieges, zum Teil während seiner ganzen Dauer, im preußischen Heer Soldat gewesen. Der mittlere Bruder ist schwer verwundet worden.

Die älteren Geschwister haben sich sehr früh dem Zionismus zugewandt. Der älteste Bruder hat bis in sein hohes Alter eine führende Rolle im Bar Kochba in Berlin, Breslau und Haifa gespielt. So ist denn auch die Schwester frühzeitig mit zionistischem Gedankengut vertraut gewesen. Bereits als Schülerin hat sie ihrerseits zu diesem Problem Artikel veröffentlicht.

Ihre Schulausbildung erhielt sie in einem der modernsten Berliner Mädchengymnasien, der Städtischen Studienanstalt, die das Interesse ihrer Schülerinnen für geistige Dinge zu wecken wußte. Mit einem der maßgeblichen Lehrer, einem Assistenten von Max Planck, Prof. Dr. Lamla, jetzt in Göttingen, der großen Einfluß auf sie ausgeübt hat, ist sie noch heute befreundet. In freundschaftlicher Verbindung stand sie bis zu seinem Tode auch mit ihrem Religionslehrer, dem bekannten Rabbiner Dr. Warschauer.

Sie studierte zunächst Nationalökonomie. Als sie aber durch Zufall in ein juristisches Kolleg kam, übte die Rechtswissenschaft auf sie einen so großen Eindruck aus, daß sie umsattelte und der Rechtswissenschaft bis heute treu geblieben ist. Sie promovierte nach Studienaufenthalten in Berlin, Bonn und Freiburg in Bonn bei dem Lehrer für Römisches und Bürgerliches Recht, Professor Dr. Fritz Schulz, dem Nachfolger Theodor Kipps, mit der Note "Sehr gut". Ihre Doktorarbeit (über das Thema: "Die Vermutung") war so hervorragend, daß die Universität sie in ihren Schriften veröffentlichte (weshalb sie in wirtschaftlich turbulenten Zeiten nicht genötigt war, "Belegexemplare" einzureichen). 1932 bestand Frau Dr. Manasse das Assessorexamen und wurde Richterin.

Nach kurzer Tätigkeit als Richterin in Berlin wurde sie auf Grund der nationalsozialistischen Rassegesetze bereits im März 1933 aus dem Dienst entlassen (und war dann in Berlin etwa 3 Monate Rechtsanwältin; dann wurde ihr die Zulassung entzogen). Sie emigrierte einige Jahre später (1938) nach Haifa, wohin ihre Geschwister bereits vorausgezogen waren.

Dort war es für sie als Juristin naturgemäß sehr schwer, sich eine Existenz zu gründen, so daß sie eine Reihe von Beschäftigungen ausübte. Unter anderem war sie einige Jahre Leiterin des Solidaritätswerkes der deutschen Einwanderer-Gesellschaft, der Hitachdut Olej Germania.

Im Jahre 1949 kehrte sie mit ihrem Ehemann Dr. Fritz Manasse ... nach Deutschland zurück und nahm in Hamburg ihren Wohnsitz. Bereits wenige Tage nach ihrer Ankunft übernahm sie die Stellung einer Referentin im Amt für Wiedergutmachung. Seit dem Jahre 1952 übt sie wieder richterliche Tätigkeit aus. Sie wurde Landgerichtsrätin am Landgericht in Hamburg. Hier wurde sie 1962 zur Landgerichtsdirektorin befördert. Diesen Posten, den sie als Vorsitzende einer Zivilkammer (der ZK 25) ausübte, behielt sie bis zu ihrer Pensionierung bei.

Frau Dr. Manasse, die über reiche juristische Erfahrungen verfügt, ist es gelungen, sich bei ihren Vorgesetzten, ihren richterlichen Kollegen und der Anwaltschaft in Hamburg hohes Ansehen zu verschaffen. Ihre Sachlichkeit, ihre Unparteilichkeit und ihre Gabe, menschlich zu entscheiden und hinter jedem Rechtsfall auch die betroffenen Personen zu sehen, ist allgemein anerkannt worden.

Nach ihrer Rückkehr nach Hamburg stellte sie sich auch der Jüdischen Gemeinde in Hamburg zur Mitarbeit zur Verfügung. Mit kurzen Unterbrechungen gehört sie dem Beirat dieser Gemeinde seit 1953 bis heute an. Seit 1976 ist sie die Vorsitzende des Beirates. Vor Jahren hat sie innerhalb der jüdischen Gemeinde die Gruppe der Älteren gegründet, die sie regelmäßig betreut. Deren Veranstaltungen werden von zunehmend mehr Mitgliedern der jüdischen Gemeinde besucht. Dort hält sie selbst Vorträge, veranstaltet Vorträge, führt mit den Mitgliedern Ausflüge durch und sorgt für sonstiges geselliges Beisammensein, so daß diese Gruppe ihren Mitgliedern vielfach Anregung und eine kameradschaftliche Atmosphäre vermittelt. Frau Dr. Manasse ist auch die Vorsitzende des Frauenhilfswerkes für den Magen David Adom, einer Organisation, die in Israel etwa die Aufgaben des Roten Kreuzes wahrnimmt. Zusammen mit mehreren anderen Damen im Vorstand beschafft sie Mittel, um wichtige Dinge, wie Ambulanzen, medizinische Apparate und ähnliches an den Magen David Adom zu versenden. Daß diese Tätigkeit neben einer starken zeitlichen Inanspruchnahme den beteiligten Damen, die darauf stolz sind, ohne Kosten zu arbeiten, große persönliche Ausgaben verursacht, mag nebenbei erwähnt werden. In der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ist sie die jüdische Mitvorsitzende.

Daß Frau Dr. Manasse außerdem noch in dem nichtjüdischen Teil Hamburgs und in nationalen und internationalen Juristinnenorganisationen eine lebhafte Tätigkeit ausübt, mag hier nur beiläufig erörtert werden. Auch daß sie neben allem ein sehr gastliches Haus führt, in dem jedermann ohne Rücksicht auf Glauben, Rasse oder Hautfarbe willkommen ist, ist nur nebenbei zu erwähnen, obwohl sie selbst größten Wert auf Gastlichkeit legt."

Wenig später (unter dem 29.02.1980) berichtete die "Allgemeine" vom festlichen Empfang in den Räumen der Hamburger Jüdischen Gemeinde für die "in unverwüstlicher Energie aktiv tätige Jubilarin", wobei viele schöne und wohlverdiente Reden gehalten wurden, was wir jetzt auslassen. Mit Recht aber versäumte Alexander Ginsburg nicht - für den Zentralrat der Juden sprechend - anzumerken, heute fordere die Gerechtigkeit auch eine rühmende Erwähnung des Ehemanns Dr. Fritz Manasse: seiner stillen und selbstlosen Mithilfe bei vielem, was an Leistung der Jubilarin zu preisen sei, und seines bescheidenen Zurücktretens mit eigenen Ansprüchen. Das war der Gefeierten natürlich bewußt, sie sprach es damals in festlicher Runde dankbar aus; und ich erlaube mir die persönliche Bemerkung, daß ich von ihr selbst weiß, daß viel später - bei allem Stoizismus, aller Gelassenheit und Tapferkeit, ja allem Humor ("Ach Sie wissen ja: Unkraut vergeht nicht ...Ich bin eben eine zähe Pflanze!"), mit denen sie jetzt in letzter Zeit Unfälle und schwere Leiden trug, sie ergriffen wurde von schwerer Sorge und tiefer Unruhe bei dem Gedanken: "Was wird nur aus i h m ?". Aber zunächst wieder weit zurück:

II.

Die berufliche Seite der Vita - immerhin 21 Jahre Richterin am Landgericht - hat sich hier mit den Biographien mancher von uns getroffen, überschnitten oder ist eine kurze oder längere Weile zur gemeinsamen Wegstrecke geworden. Frau Manasse pflegte, wenn die Rede auf ihre frühe Hamburger Zeit kam, zu erzählen, der damalige Landgerichtspräsident Henningsen (der die Leute zunächst danach zu beurteilen pflegte, ob sein Jagdhund sie ausstehen konnte - ein Test, den sie als Tierfreundin und Dackelliebhaberin nicht zu scheuen brauchte) habe von Frauen in der Justiz nicht viel gehalten und gemeint, wenn es denn doch sein müsse, dann stehe ein Mietedezernat dem genuin weiblichen Wirkungskreis von Herd, Küche, Haus und Wohnung wohl noch am nächsten: Was ihre anfängliche Verfrachtung in die Mietekammer zur Folge gehabt habe - ein Schmerz, über den ihr dann allerdings der menschlich und fachlich großartige Direktor Dr. Günther Hardraht bald hinweggeholfen habe. Bei ihm und mit seiner fürsorgenden Hilfe habe sie die Anfangsgründe der deutschen Zivilrechtswissenschaft - nach 20 Jahren völlig entfremdender Tätigkeiten! - wieder erlernen und bald schon - in anderen Spruchkörpern und unter zuweilen weniger erfreulichen Bedingungen, weitgehend ganz auf sich selbst gestellt - bewähren müssen.

"Ihre" Kammer wurde dann die ZK 25, ein ganz neuer Spruchkörper, zu dem ich 1962 (als Assessor vom VerwG, der im Zivilrecht nicht sonderlich firm war) neben dem gestandenen LG Rat Otto Vogt (also sozusagen zur "Mayflower-Besatzung") angeheuert wurde. Ich kann und will nicht behaupten, daß "meine Direktorin" rundum einfach oder daß damals alles die reine Wonne gewesen ist. Jedenfalls anfangs und über etliche - ich weiß nicht mehr, wieviele - Monate habe ich mich zuweilen doch schwergetan mit ihr und sie vermutlich sich mit mir. Sie war von ganz ungewöhnlichem Fleiß, beängstigender Gründlichkeit und peinlicher Genauigkeit; ihr Ordnungssinn war aus echt preußischem Holze. Die ZK 25 war ihr Stolz und eine Aufgabe, die sie ganz persönlich und bis ins letzte verantworten wollte, ohne jede Rücksicht auf eigene Gesundheit und Erschöpfung. Unbeschadet aller Achtung vor soviel Tugend empfand ich deren praktische Auswirkungen damals gelegentlich doch als lästig, und in Ansehung ihres Ordnungssinns murmelte ich wohl etwas von "Pinseligkeit" in meinen Bart. Dabei war die menschliche Zuwendung, die Freundlichkeit und ihr persönliches Interesse, das die ganze Familie und deren Wohl und Wehe einschloß, so überwältigend, die Gastlichkeit der Manasses so bestrickend, daß in dem großen Saldo alle Beschwernis ohne wirkliche Spuren unterging. Trotzdem muß ich sagen, daß ich erst später, letztlich wohl sehr viel später, als unsere beruflichen Wege sich längst getrennt hatten, gewisse Züge ihres Wesens, mit denen man "anecken" konnte (was auch später bei anderen "crews" gelegentlich nicht ganz ausgeblieben sein soll) wirklich verstehen gelernt habe; dazu unten noch ein Wort.

Nun aber - zwischendurch - eine Reminiszenz aus damaliger Praxis:

Es gab in den 60er Jahren bei Ehescheidungssachen - für die damals noch das Landgericht zuständig war - sog. "Konventionen", mit denen die lästige Schuldfrage in wahrscheinlich 80 % der Fälle jenes Genres erledigt wurde: "Lieblos, interesselos, eigene Wege ...". Einer gab das zu, oder beide teilten sich in das Verdikt, und schon war die Ehe geschieden - aus Alleinschuld oder beiderseitiger. Frau Dr. Manasses sozialer und lebenspraktischer Sinn trieb sie dazu, vernünftige Kompromisse zu fördern und zu suchen. Aber sie war auch, wie bemerkt, pflicht- und sehr gesetzestreu. Eigentlich war die Konvention - als Ritual - gegen das Gesetz. Dieses kannte nur die wirkliche Überzeugung des Richters. So wohnten zwei Seelen in der Brust unserer Vorsitzenden. Traten die Parteien (d.h. ihre Anwälte) mit fertigen "Konventionen" in den Saal, fühlte sie sich angetrieben nachzufassen, ob das denn wirklich stimme und aufgrund welcher Tatsachen ..., was nach spätestens drei Minuten in einer Katastrophe enden konnte. Streitende Parteien hingegen wußte sie mit trefflichen Argumenten, dem Appell an Einsicht und Anstand sowie unter Berufung auf die Lebenserfahrung ("die wir so haben"), daß keiner von beiden ganz ohne Schuld sei, wenn es in der Ehe so gar nicht mehr stimme ..., zum Kompromiß - ohne das "Waschen dreckiger Wäsche" - zu bewegen, und dann wurde geschieden. Das hatte sich bei den Anwälten natürlich schnell herumgsprochen. Ein Virtuose praktischer Psychologie war Joh. Schneider: Ich sehe ihn noch in den Saal stürzen, den einzigen Arm mit bewegter Geste erhoben. "Frau Direktorin!", rief er dann hilfeheischend und scheinbar atemlos, "wir streiten noch, aber wir sind eigentlich gar nicht weit auseinander. Vielleicht schaffen wir es nun mit Ihrer Hilfe." Das klappte immer.

Über ihr Schicksal als Jüdin - oder ihr Judentum - haben wir damals nicht viel gesprochen; man kannte ein paar ihrer Daten und Lebensstationen, nicht viel mehr. Immerhin: Sie war zutiefst liberal, und jede Engstirnigkeit, schon die Spur von Fanatismus waren ihr zuwider. "Zwei Juden - drei Meinungen", das war ein Bonmot, das sie - wenn denn die Rede auf das Jüdische kam - gern zum besten gab: ohne jeden Unterton eines Bedauerns über jüdischen Zwist; vielmehr sprach daraus Stolz sowohl auf jüdische Geistigkeit und Intellektualität als auch die selbstverständliche Bereitschaft, viele andere Meinungen gelten zu lassen (Die Manasses selbst gaben hier ein treffliches Beispiel: Man war beim Thema "Juden - Araber - Israel" durchaus unterschiedlich gesinnt, was der ehelichen Harmonie nicht den geringsten Abbruch tat).

Anfang der 80er Jahre bewog meine alte Direktorin mich, zwecks "Verjüngung" desselben in den Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit einzutreten, deren jüdische Vorsitzende (daneben gibt es je gleichberechtigt einen evangelischen und einen katholischen) sie war und bis jetzt zu ihrem Tode geblieben ist. Meinen Skrupeln, ob ich dafür wohl christlich genug sei, setzte sie die lakonische Frage entgegen: "Was unterscheidet und verbindet Juden und Christen?" Hm, das schien mir nicht gerade einfach! "Beide gehen nicht: Die Juden sabbats nicht in die Synagoge, die Christen sonntags nicht in die Kirche - na kommen Sie man!" Was sollte ich da schon anderes machen?

Was es mit ihr und dieser "Gesellschaft ..." - soweit ich mir ein Urteil erlauben darf - auf sich hatte, ist ein zu weites Feld, um diesen Acker der Erinnerung umzupflügen. Es gehört im allgemeinen auch nicht hierher. Ein paar Reminiszenzen aber sollten nicht fehlen:

Wie überall, so wird auch in den 1000 "Gremien" dieser Welt nur mit Wasser gekocht. Auch in einem Verein guten Willens von Christen, Juden und Agnostikern ist das natürlich nicht anders. Frau Manasse, pflichttreu und von gottergebener Einsatzbereitschaft, mußte ziemlich oft zu Dachverbandstagungen, Gesprächen und Kongressen "auf Bundesebene" reisen, um dort mitzutagen und vielen Reden zu lauschen. Berichte über so etwas sind durchweg von tödlicher Langeweile. Nicht so bei ihr, verstand sie sich doch herrlich auf die Kunst nicht nur des höflichen understatement, sondern ebenso des lakonisch-sarkastischen, des beißenden und bissigen Wortes. Ihre gelegentlichen "Verrisse" waren dann stets ein Genuß.

Sie hatte - wie gesagt - ihren eigenen Kopf; und mit wem der zusammenstieß, galt ihr gleich. Hiesige (oder sonstige) Politiker oder allgemein respektierte Geistesgrößen waren so wenig tabu für sie wie unfromme oder (zumal: gar zu) fromme Juden. "Zwei Juden, drei Meinungen" - an diese alte Sentenz habe ich oft zurückdenken müssen. Ihre Lebensphilosophie ließ sie sonst vieles, was andere zu erregen pflegt, mit der Gelassenheit des Predigers Salomo betrachten - vieles, aber nicht alles: Die Redeweise von "Juden u n d Deutschen" konnte sie auf den Tod nicht ertragen - hier wurde sie gelegentlich sogar - scheinbar! - kleinlich und schulmeisterlich, und zwar auch dann, wenn diese facon de parler (wie in der Regel) höchst wohlmeinenden Zeitgenossen von den Lippen strömte, oft auch im Sinne von "Juden und (andere) Ausländer", die man zu einer großen multikulturellen "una sancta" in die Arme schließen wolle.

Aber was, in aller Welt, ist daran denn auszusetzen? Um den springenden Punkt zu finden, sollten wir uns die eingangs gemachten biographischen Mitteilungen wieder vor Augen führen: Die Familie Loewy gehörte, wie unendlich viele der deutschen Juden damals, zu den treuesten Bürgern des Kaiserreiches. Hier und nirgends sonst war man verwurzelt, in Staat, Kultur, Sprache, für dieses Land war man bereit, notfalls Gut und Blut zu opfern. Ein Dokument vom 1. August 1914: An den Anschlagsäulen findet sich (neben anderen patriotischen Bekenntnissen) ein Aufruf vom "Verband der Deutschen Juden. Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", wo es heißt:

 

An die deutschen Juden!

In schicksalsernster Stunde ruft das Vaterland seine Söhne unter die Fahnen.

Daß jeder deutsche Jude zu den Opfern an Gut und Blut bereit ist, die die Pflicht erheischt, ist selbstverständlich. Glaubensgenossen! Wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus Eure Kräfte dem Vaterland zu widmen! Eilt freiwillig zu den Fahnen! ...

(vgl. FAZ vom 4.8.1994).

Und so geschah es, wie jeder geschichtlich halbwegs Bewanderte weiß (was übrigens selbst die Nazis eine Weile noch glaubten, rhetorisch in Rechnung stellen zu müssen: Kriegsteilnehmer und verwundete Juden sollten - jedenfalls noch, solange der alte Hindenburg lebte -, von der Verfolgung ausgenommen bleiben); und nach dem Kriege stimmte Vater Loewy in Schlesien für Deutschland. ...

Die - leider gar wenigen! - Juden, die überlebt hatten und nach dem 2. Weltkrieg die alten, zerrissenen Fäden neu zu knüpfen bereit waren, kamen als Deutsche nach Deutschland zurück, um - was denn sonst? - wieder Deutsche in Deutschland zu sein - trotz allem (und das brachte genug Anfechtungen, ja Anfeindungen, insbesondere von seiten ausländischer Juden: "Als Jude im Lande der Mörder...?" usw.).

Frau Manasse war weder bereit, sich anno 1967 (als hierzulande eine allgemeine Israelbegeisterung ausgebrochen war) für die jüdische (israelische!) Glanzleistung im Sechstagekrieg bekränzen zu lassen, noch wollte sie für irgendeine - gute oder schlechte - Politik des Staates Israel gelobt oder haftbar gemacht werden.

Der Patriotismus von August 1914 gehört der Vergangenheit an; um ihn geht es nicht. Hier wollte ich aber begreiflich machen, wie schrecklich und blutig die Nazis ihre Opfer aus tausend heimatlichen Wurzeln gerissen haben und daß daraus für eine deutsche Jüdin ein bleibendes Trauma, eine stete Verwundung rühren mußte; und es ist deshalb nur natürlich, daß ein spontaner und wacher Argwohn jeden falschen Zungenschlag der erwähnten Art wittern und aufspüren mußte.

Schließlich und endlich kann man von diesem "archimedischen Punkt" aus vieles begreifen, als geradezu organisch und notwendig, was (wie weiter oben gesagt) auf Anhieb als rigide, gar zu genau oder förmlich gewirkt haben mag: Käthe Manasse war, als sie hier Landgerichtsdirektorin geworden war, nach einem grausamen, schmerzlichen, unendlichen Umweg in ihrem Staate, ihrer Heimat in die Stellung eingerückt, die ihr nach Neigung, Befähigung und innerer Berufung zustand; und die wollte sie gut, untadelig, perfekt, im besten Sinne preußisch ausfüllen und erfüllen - wie es dann ja auch geschehen ist!

Mit Käthe Manasses Tod ist hier in Hamburg, nicht nur am Landgericht, ein Stück Justizgeschichte zu Ende gegangen. Daß man die Tote nicht vergessen werde, wäre ein guter und doch zu wohlfeiler Satz, als daß ich ihn niederschreiben möchte. Aber als Verkörperung preußisch-jüdischer Tugenden und als Erinnerung an einen schrecklichen und beklagenswerten Aderlaß, den sich Deutschland im Dritten Reich selbst zugefügt hat, sollte ihre Gestalt für uns unverlierbar bleiben.