Zuweilen ist uns an der Versicherung gelegen, das Recht sei der Maßstab unseres Tuns, so wie es eben rechtens ist. Die deutsche Sprache eröffnet mehr als nur eine Möglichkeit, das mit wenigen schlichten Worten zu sagen. Aber was geschieht? Der Deutsche wäre nicht deutsch, ließe er die Gelegenheit aus, alsbald die heiligsten und hehrsten Prinzipien vom Himmel herabzuholen, um diese Rede zu weihen: Sein Handeln sei "rechtsstaatlich", ach nein "streng rechtsstaatlich" ausgerichtet und determiniert. So tönt es bei jeder dritten Gelegenheit hier im Lande; voll Stolz wird es auch dem Ausland in die Ohren posaunt, und jetzt kriegen die fünf neuen Bundesländer diese Melodie vorgepfiffen.
"Streng rechtsstaatlich!" - da muß man sich die Augen reiben: Der so offensichtlich überanstrengte Begriff ist - bei allen Unterschieden sonst - schon rein logisch nicht viel besser als die "Volks-Demokratie" unglückseliges Angedenkens. Und in beiden Fällen fordert die durchaus sinnwidrige Steigerung (adjektivisch hier, durch simple Verdoppelung dort) die mißtrauische Frage heraus, ob es mit der Rechtlichkeit im einen, der Volksherrschaft im anderen Falle wirklich so weit her sei ...
Weniger wäre - wie so oft im Leben - mehr gewesen. Soweit die Glosse. Was über sie hinausgeht, läßt sich jetzt nur andeuten:
Der Rechtsstaat ist kein Allerheiligstes, wie der Weihrauch einer geradezu mönchischen Prinzipienverkündung ("strenge Regel ...") es anzusagen scheint. Auch für ihn gilt Winston Churchills berühmter Satz über die Demokratie: sie sei die schlechteste Herrschaftsform - abgesehen von allen anderen. Auch der Rechtsstaat ist ein Notbehelf, um das Zusammenleben in einer sehr unvollkommenen Welt einigermaßen unblutig und friedlich zuwege zu bringen; nach definierten, meist erprobten und ziemlich verläßlichen Regeln; durchaus nichts weniger, aber auch nur das.
In Zeiten des Umbruchs, wie jetzt im Osten, treten beide Seiten ans Licht: die Leistungsfähigkeit, aber auch die Not des Behelfs. Das aufgestaute Verlangen nach historischer Gerechtigkeit, das dort in den Seelen gerade der Besten gebrannt hat, ist vom Rechtsstaat keineswegs aufgenommen und erfüllt worden; das konnte, das kann er gar nicht. Nein, das Aufbegehren, die ganze Leidenschaft ist in unendliche Verfahrensgänge gepreßt, in Akten und Papier transformiert worden, verfristet, vertagt, entschärft, unter Darlegungs- und Beweislast gesetzt und domestiziert - "streng rechtsstaatlich!". Das ist weder eine Mängelliste noch ein Vorwurf. Der Rechtsstaat kann eben nur rechtsstaatlich verfahren. Für das Brodelnd-Chaotische, das Epochale, für Aufstand und Umbruch fehlt ihm das Organ. Das ist seine Schwäche und seine Stärke zugleich.
"Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen" - diese Sentenz, die zu uns aus dem Osten herübergeweht ist, und in der ein "nur!" unüberhörbar mitschwingt, sollte bei uns nicht in hurtiger Schulmeisterei ertränkt, sondern aufgenommen und als ein Ausdruck tiefer Ratlosigkeit ernsthaft bedacht werden.
Auf unseren Justiztagen wird immer wieder vom Rechtsstaat gesprochen werden; vielleicht auch in preisenden Reden, die gar keine schlechten Gründe vorzuweisen hätten. Ist doch der Rechtsstaat, wie Gustav Radbruch sagt, gleichsam das tägliche Brot der Demokratie. Über seine Grenzen: die Hoffnungen, die er enttäuscht - enttäuschen muß -, braucht man zwar nicht lang und breit zu sprechen. Doch sollte man dann auch ihrer eingedenk bleiben.