1. Der STERN-Reporter Günther Schwarberg reist schon viele Jahre durch die Lande, predigt urbi et orbi, schreibt und läßt schreiben und verkünden: "Seht den Skandal der Hamburger Justiz, wie er zum Himmel schreit!". Den Anlaß bietet ein grauenhaftes Naziverbrechen:
In der Nacht zum 21. April 1945, unmittelbar vor Kriegsende, wurden auf Befehl der Berliner SS-Zentrale in der Hamburger Schule am Bullenhuser Damm zwanzig jüdische Kinder, die zuvor für medizinische Experimente mißbraucht worden waren, vergiftet und im Keller an Heizungsrohren erhängt; außerdem Pfleger und russische Kriegsgefangene.
Sieben der damals - als Befehlsgeber oder unmittelbare Täter - beteiligten SS-Leute sind bald nach dem Kriege vom britischen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Nun geht es darum, ob der damalige SS-Obersturmführer St. an dem Kindermord beteiligt war und strafrechtlich belangt werden kann.
Der Fall ist vor dem Landgericht Hamburg angeklagt; über die Eröffnung ist noch nicht entschieden worden.) In dieser Lage ist es guter Brauch, an den sich zumal Richter und Staatsanwälte zu halten pflegen, jedes Wort zu meiden, das ein solches "schwebende" Verfahren auch nur dem Anscheine nach berühren kann. Aber was ist zu tun, wenn - weit hinausschießend über Meinungskundgaben zur Sache, bei denen man Außenstehenden eine viel größere Freiheit wird zugestehen können als den Justizjuristen selbst, und wobei man nahezu jede Äußerung mit Verständnis aufnehmen muß, wenn Opfer oder ihre Angehörige reden - was ist zu tun, wenn wilde, ungezügelte Kampagnen gegen die Justiz in Szene gesetzt und zu publizistischen Kreuzzügen hochgepeitscht werden? Wie kein Mensch ohne einen Kern persönlicher Selbstachtung leben kann und leben sollte, so tut auch eine staatliche Institution wie die Justiz nicht gut daran, sich widerstands- und widerspruchslos in aller Öffentlichkeit prügeln, schelten und beleidigen zu lassen. Deshalb verdienen die Angriffe nichts anderes als eine klare, harte und deutliche Zurückweisung.
2. Im April 1986 arrangierte Schwarberg im alten Schulgebäude Bullenhuser Damm ein TRIBUNAL über den Fall - mit Fernsehen, Presse und Medien; am 19. November 1986 (Bußtag) wurden ausgesuchte Teile vom 3. ARD-Programm 2 ½ Stunden lang ausgestrahlt.
Niederschmetternde Erkenntnis des Publikums: Ein unvorstellbar grauenhaftes Geschehen ...., und trotzdem stellt der Hamburger Staatsanwalt Dr. Münzberg im Jahre 1967 das (später erneut aufgenommene) Ermittlungsverfahren ein mit der unerhörten Begründung, den Kindern sei "über die Vernichtung ihres Lebens hinaus" kein weiteres Übel zugefügt worden, sie hätten nicht besonders lange seelisch oder körperlich leiden müssen. Deshalb kein Mord, deshalb Einstellung - blankes Entsetzen allenthalben! Da Schwarberg stets mit einigen Zitaten aus der 62 Seiten langen Einstellungsverfügung hantiert, und er auch sein TRIBUNAL offenbar entsprechend instruiert hatte, muß der Leser erfahren, was dort geschrieben steht:
3. Der Staatsanwalt rekonstruiert
zunächst die Vorgänge vom 20./21.04.1945 anhand der für
ihn verfügbaren Beweismittel - ohne gleich zu entscheiden, ob die
strittige Beteiligung des Beschuldigten St. festgestellt werden kann oder
nicht. Dann prüft er, ob die Tötung u.a. der Kinder Mord gemäß
§ 211 StGB (nicht etwa nur Totschlag, § 212 StGB) war. Das wird
bejaht aus verschiedenen
Gründen: Verdeckungsabsicht, Heimtücke, niedrige Beweggründe.
Damit ist die Feststellung des Mordes dreifach begründet. Nur eine
denkbare vierte Begründung - Grausamkeit - wird verneint: Der wegen
seiner Beteiligung später hingerichtete Neuengammer KZ-Standortarzt
SS-Hauptsturmführer Dr. Trzebinski habe die Kinder mit Giftspritzen
betäubt, ehe sie in grauenerregender, viehischer Weise aufgehängt
worden seien; das könne, im maßgebenden Rechtssinne, nicht als
"grausam" qualifiziert werden. Nachdem der Staatsanwalt Mord festgestellt
hat, prüft er weiter, ob St. daran beteiligt gewesen sei. Er hält
einen solchen Verdacht für begründet, angesichts der schwierigen
Beweislage aber für nicht ausreichend und für nicht erhärtbar:
alle Tatzeugen seien tot. Viele Fragen könnten deshalb nicht mehr
gestellt und Probleme nicht mehr geklärt werden.
Hier, allein hier, liegt der Schwerpunkt: das Entscheidungsmoment der Einstellungsverfügung. Die überschießende Zahl - ob nun vier statt drei - der Mordqualifikationen spielt ersichtlich keine Rolle; jedes Schulkind würde das sofort begreifen, teilte man ihm nur den Sachverhalt und die Frage richtig mit, statt geflissentlich beide zu verfälschen.
4. In Schwarbergs Fernseh-TRIBUNAL steht alles auf dem Kopf: die Beweisfragen treten ganz an den Rand; ein paar dürftige Protokollabschnitte gelangen zu Gehör. Anschließend verkündet der ehemalige Bundesverfassungsrichter Martin Hirsch, den Schwarberg als Präsidenten der Veranstaltung auftreten läßt, jetzt wisse das Auditorium über alles Wesentliche so gut Bescheid wie das Gericht und könne sein Urteil bilden. Dann richtet der Regisseur seinen Scheinwerfer auf den Staatsanwalt Dr. Münzberg und dessen angebliche Einstellungsbegründung - "den Kindern sei kein übermäßiges Leid zugefügt worden ...". In diese Kerbe schlägt zu guter Letzt als "Berichterstatter" auch Prof. Dr. Ulrich Klug, der ehemalige hamburgische Justizsenator (1974-1977), indem er sich über Mordqualifikationen ausläßt, die Staatsanwaltschaft schilt und offensichtlich glaubt, daß von seinen abstrakten Erkenntnissen eine konkrete Entscheidung hätte abhängig gemacht werden können und müssen. Weiß der Professor überhaupt etwas vom Sachverhalt, anläßlich dessen man ihn hier auf das Podium gesetzt hat?
Schließlich scheint es nur noch darum zu gehen, ob man es für billigenswert hält, daß die Hamburger Justiz ihre schützende Hand über einen dingfesten Kindermörder hält - eine Frage, auf die kein normaler Mensch ernstlich Antwort erwartet. Und das Publikum empfindet normal: Man sieht Tränen in den Augen, hört empörte Ausrufe, sieht die Leute fassungslos den Kopf schütteln, die Fäuste ballen. Pauseninterviews: Schüler geben zu Protokoll, nun endlich die Zusammenhänge begriffen zu haben; und es sind nicht nur Schulkinder, die sich jetzt endlich für aufgeklärt halten.
5. Das TRIBUNAL hat nicht nur im April 1986 stattgefunden und dann am Bußtag im Fernsehen - es wird allenthalben abgehalten, wo immer ein Interesse an der Nazizeit dafür ausgenutzt werden kann, nicht zuletzt in den Hamburger Schulen. Ein STERN-Buch hält für sie sog. "Unterrichtshilfen" zu Schwarbergs Buch "Der SS-Arzt und die Kinder" bereit, worin es heißt:
6000 für jedes tote Kind, ... aber sie haben ihm bescheinigt, daß er "den Kindern über die Vernichtung ihres Lebens hinaus kein weiteres Übel zugefügt und ihnen seelische und körperliche Qualen erspart hat". Darüber, über solche Richter, dieselben Richter, die Euren Lehrer entlassen haben und einen Schokoladendieb ins Gefängnis werfen, wollen wir weinen, wollen wir vor Wut heulen und wollen nicht bloß heulen, wir wollen, Du und ich, dabeisein und mitkämpfen, wo immer die Bürger Widerstand leisten gegen die alten und gegen die neuen Nazis.
Günter Bertram
P.S. Der Hamburgische Richterverein besitzt eine Aufzeichnung der Fernsehsendung vom 19.11.1986. Auf Wunsch leihen wir die zwei Kassetten an interessierte Kolleginnen/Kollegen gern aus.