1. "Alle Schäden, welche durch die Empörung des Volkes über die Hetze des internationalen Judentums gegen das nationalsozialistische Deutschland am 8., 9. und 10. November 1938 an jüdischen Gewerbebetrieben und Wohnungen entstanden sind, sind von dem jüdischen Inhaber oder jüdischen Gewerbetreibenden sofort zu beseitigen. ...
Versicherungsansprüche von Juden deutscher Staatsangehörigkeit werden zugunsten des Reiches beschlagnahmt. ..."
Was war vorangegangen? Welche "Empörung" war aufgebrandet, welche Schäden eingetreten? Was den Volkszorn anlangt, kommt selbst das Oberste Parteigericht alsbald nicht daran vorbei festzustellen:
Der Volksmund sprach dann beschönigend, freilich mit verlegener Distanzierung von der "Reichskristallnacht".
2. Das alles liegt heute auf den Tag fast 50 Jahre zurück. Soll, muß man es der Vergangenheit entreißen? "Es gibt schwierige Vaterländer - unseres ist eines". Das Wort Gustav Heinemanns könnte als Motto über unseren Versuchen stehen, mit der jüngeren Vergangenheit zurecht zu kommen. Das Problem begleitet die Bundesrepublik seit ihrer Gründung, eher mit wachsender als nachlassender Eindringlichkeit. Seit 1983 reiht sich ein 50-Jahrestag an den nächsten: 30.1.1933 ("Machtergreifung"), 1.4.1933 (Juden-"Boykott"), 30.6.1934 ("Röhmputsch"-Morde), 15.9.1935 ("Nürnberger Gesetze") und nun der 8./9.11.1938 ... und so fort, noch bis zum 8.5.1945 (= 1995!).
Über die "Bewältigung" des "tausend-jährigen Reiches" läßt sich manches sagen - Würdigendes und Kritisches. Auch Kritisches: Oft, leider viel zu oft wird Volkspädagogik betrieben und die NS-Zeit bloß als Materialsammlung benutzt, um durch abschreckende Exempel - "schon damals ..., das wollen wir doch nicht noch einmal erleben! ..." - ein heute erwünschtes politisches Bewußtsein zu bilden. Dabei rückt dann die Frage in die zweite oder dritte Reihe, was denn damals im einzelnen und genau der Fall gewesen ist. Pädagogische Impulse zielen, vermutich naturgemäß, auf die Einübung von Haltungen und Bekräftigung von Bekenntnissen, nicht die Vermittlung historischer Tatsachen. Das führt aber nicht selten zu schiefen Urteilen, falschen Gleichsetzungen und ganz unpassenden Aktualisierungen.
3. Zurück zum Pogrom vom November 1938:
Gerade beim Gedenken an ihn, aber auch sonst, hört man von durchaus wohlmeinenden Festrednern, auch hochrangigen Politikern immer wieder, die Juden seien damals in gleicher Weise Opfer von Vorurteil, Rassismus, aggressivem Trieb und völkischer Intoleranz geworden wie (jedenfalls der Tendenz nach) heute die Ausländer; ... "früher die Juden, jetzt die Türken ..."; das "Judenproblem" von damals sei heute die Ausländerfrage. Vermutlich beschleicht manchen Zuhörer das Gefühl, daran sei irgend etwas schief und könne unmöglich stimmen. Aber da er die strenge Gegenfrage schon innerlich vorwegnimmt, ob er denn wohl Schweinereien herunterspielen oder Gastarbeiter für minderwertig wolle gelten lassen, "wo doch die Deutschen schon zur Nazizeit ...", denkt er die Sache nicht ganz zuende, klopft höflichen Beifall und geht. Ich selbst gestehe, erst von deutschen Juden auf den Punkt hingewiesen worden zu sein, um deswillen die rhetorische Verknüpfung von Juden mit Ausländern ebenso schief wie gedankenlos ist:
Die deutschen Juden, deren schon 1933 einsetzende Verfolgung und Herabwürdigung einen vorläufigen Kulminationspunkt im Pogrom von 1938 erreichte, waren Deutsche - zugleich deren Schulfreunde, Nachbarn, Kollegen, waren wirklich, wahrhaftig und ohne jeden Abstrich "Mitbürger". Sie hatten für Kaiser und Reich ihre Haut zu Markte getragen, um kein Jota weniger als andere, lebten ganz in Geist und Kultur ihres deutschen Volkes, hatten natürlich auch teil an allen seinen Torheiten (die man ja stets später erst als solche zu diagnostizieren lernt). Und nun wuchsen Mauern um sie, wurden sie ausgestoßen aus ihrem Volke, als Staatsbürger entrechtet, wurden sie verfemt in der überkommenen Gemeinschaft, geächtet und isoliert in ihrer Heimat, in die sie, seit vielen Generationen zumeist, ihre Wurzeln gesenkt hatten.
Man muß es einfach wieder nachlesen, wie fassungslos zunächst, wie bitter und verzweifelt deutsche Juden ihn erlebt und durchlitten haben, den Prozeß ihrer Ausstoßung. Judith Kerr berichtet das aus der kindlichen Erlebniswelt ("Als Hitler das rosa Kaninchen stahl"), Lotte Paepcke hat es als junge Frau durchlitten ("Unter einem fremden Stern", "Ein kleiner Händler, der mein Vater war"):
Es sind zahlreiche Schandtaten, die auf das Konto der NS-Machthaber gehen und die das Gewissen der Nation belasten (oder jedenfalls bedrücken sollten). Die Ausstoßung der deutschen Juden aus ihrem Vok war deren eine, und gewiß nicht die geringste. Will man des 8./9. November 1938 gedenken, dann muß die Erinnerung gerade an das historisch Besondere, daran nämlich, wie schändlich damals Deutsche mit Deutschen umgegangen sind, darin eingeschlossen sein. Die Ausländerrhetorik (s.o.!) indessen ist eine sichere Methode, dieses Besondere gänzlich fortzurücken und zu verfehlen.
4. Der Vorstand des Hamburgischen Richtervereins hat überlegt, ob wir anläßlich der 50. Wiederkehr der Pogromnacht etwas veranstalten wollen und können. Das Schicksal deutscher jüdischer Juristen ist literarisch wohl belegt (vgl. u.a. Horst Göppinger - "Der NS und die jüdischen Juristen"); aber Hören ist mehr als Lesen!. Deshalb haben wir uns gefragt, ob wir ältere Kollegen (im weitesten Sinne) fänden, die uns als "Zeitzeugen" von Weg und Schicksal deutscher Juden erzählen könnten (und dazu bereit wären: denn im Ansinnen liegt zugleich eine Zumutung).
Wir sind glücklich, daß Kurt Rosenow sich bereit gefunden hat, zu uns zu kommen und zu berichten. 1905 in Berlin geboren, hat er Ende 1932 das 2. juristische Examen abgelegt, ehe die Nazizeit über ihn - den Juden - hereinbrach. ... Seine Biographie soll hier nicht vorwegberichtet werden; aber daß er sie wird mitteilen können, verdankt er dem Umstand, daß seiner Frau und ihm noch kurz vor Kriegsausbruch die Emigration nach England gelungen war.
"Verdrängung hält
die Erlösung auf -
Sich-Erinnern bringt sie näher".