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 Vom praktischen
Nutzen des
Unpraktischen
MHR 3/82

Zum wiederholten Male hat im Mai d.J. unser traditionelles "Assessorenseminar" stattgefunden; vorstehend ein Bericht darüber.

Leider können viele Kolleginnen und Kollegen es sich nicht erlauben, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen; der Aktenberg ist zu hoch. Aber in Grenzzonen kann Teilnahme doch eine Ermessensfrage sein - vielleicht auch für die Gerichtsverwaltungen, wenn es darum geht, dem Zögernden zu- oder abzuraten, Hilfen zu geben oder sie zu versagen.

Was sind solche Veranstaltungen, bei Lichte betrachtet, eigentlich wert? Wir wollen getrost in Betracht ziehen, daß einzelne Tagungsberichte vom Engagement und den frischen Eindrücken des Erlebten überfrachtet sein könnten und deshalb als "Beweismittel" nicht überfolgert werden dürfen.

Die kritischen Anfragen beginnen nicht selten mit der Bemerkung, daß der junge Kollege ja wohl wenig oder nichts in sein Amtszimmer zurückträgt, das ihn (oder sie) in die Lage versetzt, den Aktenbestand zügiger und reibungsloser abzuarbeiten. Dieser Einwand dürfte nicht ganz richtig sein, aber es trifft wohl zum guten Teil und vor allem: dem Grundsatz nach zu, so daß wir die Prämisse übernehmen wollen, um uns auf die Frage zu beschränken, ob die Schlußfolgerung stimmt ("weil kein ‘praktischer’ Nutzen, deshalb keine Empfehlung!").

Sehen wir zunächst ab von uns, blicken wir stattdessen über das weite Feld der Fort- und Weiterbildung, wie sie von Staat, Wirtschaft, Parteien, Gruppen, Kirchen u.a. in hundert Seminaren, Tagungsstätten, Akademien und Gruppenarrangements betrieben wird. Wir finden häufig, und vielleicht mit Staunen, daß die speziellen Probleme des fraglichen Lebensbereichs (z.B. Rechnungswesen, Betriebsverfassung, Warenkunde, wissenschaftliche Fachfragen) zurücktreten hinter - dem Anschein nach - recht allgemeinen Themen und Thesen sowie Veranstaltungs- und Vermittlungsformen, die sich als solche (als "Interaktion") nach vorn drängen.

Dies alles mag seine kritisierbaren und kritikwürdigen Seiten haben: Denn die menschlichen - und Gruppenprobleme, die Gefühls-Rundreisen und Beziehungsanalysen, die dann und wann mit Inbrunst "ausagiert" werden, die im Kreise laufende Selbstreflexion, scheinen eine Ausrichtung nach innen zu bewirken, die eher handlungsunfähig als alltagstüchtig macht. Und auch dort, wo diese Seite zurücktritt hinter intellektuellen Reflexionen über die Gesellschaft, ihre Strukturen, Normen und Werte, kann und muß die Kritik am üblichen Tagungsbetrieb nicht schweigen. Die allgemeinen Theorien, Darstellungen und Diskussionen über Mensch und Gesellschaft, Normen und Selbstbestimmung usw. erwecken nicht selten den Eindruck, nichts Konkretes, Handfestes hervorzubringen, sondern einen Schwebezustand zu reproduzieren und in den Köpfen zu belassen, in dem man am Ende so klug wie am Anfang ist.

Skepsis und Kritik sind also am Platze - aber Vorsicht, damit das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird! In der Abwendung vom Handgreiflichen und der Hinwendung - ja: wozu genau? - zum jedenfalls irgendwie "Unpraktischen" tritt uns, trotz aller gelegentlichen Maskeraden und Verblasenheiten, eine im Grunde vernünftige und begreifbare Reaktion auf tiefe Verunsicherungen im Lebensgefüge entgegen: Es gibt ja kaum noch sichere, unbezweifelbare und unerschütterte "Selbstverständlichkeiten" - vom Nahbereich und den persönlichen Biographien, die er umschließt, bis zur Weltgeschichte und den gesellschaftlichen Superstrukturen, die keiner durchschaut; überall lauern Fragen, Ungewißheiten und Ängste. Ist es aber so, dann greift die Empfehlung, alles dies auf sich beruhen zu lassen und sämtliche Energie und Lernbereitschaft auf des Tages Arbeit zu lenken, zu kurz und hängt über dem Bodenlosen. Zu gut ist es demgegenüber begreiflich, daß der Mensch (zunächst einmal oder jedenfalls auch) nach einem Stück Land strebt, das seinen Fuß wirklich trägt: nach dem anderen Menschen, der Gruppe, dem "team" der Kolleginnen und Kollegen und/oder der Erkenntnis eines Funktionszusammenhanges, innerhalb dessen es als sinnvoll einleuchtet, der konkreten, spezialisierten Berufshantierung nachzugehen.

Soviel im Allgemeinen. Zugeschnitten auf uns, auf unsere Aus- und Fortbildungsprobleme: Der Vollstreckungsrichter wird sich kaum auf das 8. Buch der ZPO, der Strafrichter nicht auf das StGB plus Nebengesetze beschränken können und seine "Fortbildung" dort allein suchen. Nachdem unser Rechtswesen und seine Legitimation nun einmal in tiefe Problemzonen geraten oder gezogen worden ist (wie ein wiederholter Blick allein in unsere Medien zeigt!), muß der Jurist - und sollte zumal der junge! - nicht davor zurückscheuen, über die Prämissen seines Alltags, seiner "Aktenbearbeitung" nachzudenken, danach zu fragen, darüber zu diskutieren. Das sind große Worte, die man zuschneiden und handlich machen muß. Hier geht das nicht, aber bei geeigneter Gelegenheit kann man’s versuchen, und seine Arbeitstagung mit jungen Kollegen - wie gehabt und wie zu erneuern - sollte dies (ebenso wie die Seite persönlicher Gespräche und gemeinsamer Unternehmungen, jenes "warming up", das Vertrauen und Mut vermitteln kann) nicht auslassen.

Hat so etwas nun praktischen Nutzen oder nicht?

Hier gilt zweierlei:

Erstens darf nicht Motiv, Ziel und Maßstab für solche Tagungen die Frage sein, ob und wieviel solchen berufspraktischen Nutzens sich einstellt. Der Gewinn an Lebenssicherheit und intellektuellem Verständnis, der (hoffentlich) "herausspringt", ist zunächst ein Selbstzweck.

Zweitens spricht allerdings viel praktische Vernunft für die Erwartung, daß etwas mehr Glück und ein geweckter Sinn für übergreifende Zusammenhänge, in denen der eigene Arbeitstag steht, dem geplagten Kollegen dazu verhelfen, etwas besser als ohne dies mit dem Täglichen zurande zu kommen.

Aber keiner sollte nur deshalb als Teilnehmer auf das Seminar gehen, weil er den Nutzeffekt herbeizwingen will; keine Verwaltung sollte im gleichen Sinne das Pferd vom Schwanz aufzäumen!

Das "Unnütze" ist oft nützlicher, als der bloße Pragmatiker denkt; aber darauf muß man es getrost ankommen lassen.