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Justiz und Demokratie oder:
Transparenz im Beförderungssystem

Der Aufmerksamkeit einer Kollegin verdanke ich die Lektüre eines Ausschnitts aus der Nr. 5 vom 5. Februar 1996 der "Norddeutschen Rundschau", einer vor allem in Itzehoe und im Kreis Steinburg verbreiteten Tageszeitung. Ein Bericht behandelt die Ergebnisse einer Podiumsdiskussion in der Reihe "Kultur und Justiz im Westerhof" unter Beteiligung von Frau
Görres-Ohde, damals scheidende Präsidentin des Landgerichts Itzehoe, und unter anderen auch des Ehrenvorsitzenden des Hamburgischen Richtervereins, PräsLG i.R. Dr. Roland Makowka.

Einige der im Bericht wiedergegebenen Zitate verdienen Aufmerksamkeit über den Tag hinaus. Rechtsanwalt Ewer: "Bei uns im Land1) wird zu sehr nach Parteibuch und nicht nach Leistung entschieden." Es werde der angepaßte Richtertypus gefördert. Aus dem Publikum PräsVG Krause, Schleswig: "Wir müssen das System von Belohnungen und Sanktionen abbauen, das den Aufbau einer demokratischen Justiz verhindert."

Der Bericht schließt: "Ich bin erlöst in den Ruhestand gegangen, weil ich endlich nicht mehr an diesem unglaubwürdigen Beförderungs-
system teilnehmen muß", bekannte Roland Makowka."

Es gibt keinen Grund, die richtige Wiedergabe der Beiträge in Zweifel zu ziehen; mir ist auch keine Gegendarstellung bekannt. Nicht zuletzt im Angesicht eines u.a. durch Sparzwänge bedingten "Beförderungsstaus" einer zunehmend größeren Zahl von Kolleginnen und Kollegen weit jenseits der Lebensmitte besteht deshalb Anlaß, den in der Itzehoer Diskussionsrunde aufgeworfenen Fragen nachzugehen.

Ist unser Beförderungssystem
unglaubwürdig ?

Vor dem Hintergrund einer zuende gehenden fast 34 Jahre währenden Tätigkeit als Amtsrichter, Anstaltsleiter im Strafvollzug, Kammervorsitzender, Mitglied des JPA bzw. LJPA, insbesondere unter dem Eindruch von 12 Jahren2) Erfahrungen als Mitglied der landgerichtlichen Sektion des Präsidialrats unternehme ich den Versuch, einen Diskussionsbeitrag zur Demokratisierung des Beförderungssystems abzuliefern. Zunächst:

Wie funktioniert Beförderung ?3)

Die wichtigsten gesetzlichen Grundlagen finden sich in §§ 14 bis 27, 61 bis 69 des Hamburgischen Richtergesetzes (HmbRiG) vom 02.05.1991.4) Es gibt darüber hinaus Geschäftsordnungen für die Sitzungen der zu beteiligenden Gremien. Ich beschränke mich auf das Wesentliche am Beispiel einer Stellenbesetzung im Bereich des Landgerichts:

Eine Stelle ab R 2 ist zu besetzen. Der Präses5) der Justizbehörde schlägt dem Richterwahlausschuß (RWA) aus den Reihen der Bewerber einen Richter zur Wahl6) vor. Weil der Präses in seiner üblicherweise kurzen Amtszeit wenige Richter persönlich kennenlernt, berät er sich mit dem Präsidenten7) des Hanseatischen Oberlandesgerichts, von dem der Vorschlag denn auch regelmäßig stammt. Während der Vorschlag - mit den Personalakten des Vorgeschlagenen, nicht aber mit denjenigen Personalakten der Mitbewerber8) - auf dem Wege zum Berichterstatter des RWA ist, ersucht der Präses den Präsidialrat um dessen Stellungnahme, ob der vorgeschlagene Richter als für das Amt persönlich und fachlich geeignet angesehen wird. In dieser Stellungnahme erschöpfen sich die gesetzlichen Aufgaben des Präsidialrats. Über nicht vorgeschlagene Mitbewerber ist ohne ausdrückliches Ersuchen extern kein Votum abzugeben.

Die Stellungnahme des Präsidialrats ist für den RWA nicht verbindlich. Mitglieder des RWA haben allerdings die - kaum jemals wahrgenommene - Möglichkeit, Personalakten von Mitbewerbern anzufordern und aus der Mitte dieses Gremiums einen Alternativvorschlag zu machen. Erfahren sie frühzeitig (informell) von einem beabsichtigten Vorschlag, können sie diesem auch entgegentreten, bevor er "offiziell" abgegeben wird.

Gewählt ist der Vorgeschlagene, wenn er die Mehrheit der Stimmen im RWA hat. Er ist vom Senat zu ernennen.

In diesem System offenbart sich

ein vorkonstitutionelles Grundverständnis

richterlicher Beteiligungsrechte, das allen Reformbemühungen unverrückbar standgehalten hat.

Kein Verständiger erhebt die Forderung, Richter müßten sich gegenseitig selbst befördern dürfen. Und wenn sie es dürften: Es führt nun einmal kein Weg an der Erkenntnis vorbei - um den ehemaligen PräsOLG Prof. Dr. Stiebeler zu zitieren -, daß "nicht jeder alles werden kann"; das Problem der gerechten Auswahl wäre lediglich verlagert.

Kann andererseits von einer echten, einflußnehmenden Beteiligung des Mitwirkungsorgans Präsidialrat bei personalpolitischen Entscheidungen die Rede sein, wenn

  1. der Präsidialrat von der Diskussion darüber, welcher Bewerber dem RWA vorgeschlagen werden soll, ausgeschlossen ist?
  2. der Vorschlag des Präses dem RWA vorliegt, bevor der Präsidialrat votiert hat?
  3. das Votum des Präsidialrats auf einen, nämlich den vorgeschlagenen Bewerber, beschränkt ist?
  4. auch ein einstimmig oder z.B. gegen nur eine positive Stimme beschlossenes negatives Votum des Präsidialrats den RWA nicht veranlassen muß, das Votum zu anderen Bewerbern einzuholen und danach eine echte Wahl im Wortsinne dieses Begriffs durchzuführen?

Ich muß es mir versagen,9) in diesem Zusammenhang Beispiele anzuführen, um die Berechtigung dieser Fragestellungen zu illustrieren.

Was kann der Präsidialrat (überhaupt)
bewirken?

Will der Präsidialrat zum Nutzen übergangener Bewerber wenigstens mittelfristig etwas erreichen, ist er ganz auf das Wohlwollen der geborenen Mitglieder10) dieses Gremiums angewiesen. Er wird sich bemühen, diese Bewerber in nicht nachlassender Kleinarbeit im "Tableau" der Hoffnungsträger zu halten. Seine Mitglieder können Mitglieder des RWA auch unmittelbar ansprechen und sie motivieren, einen Alternativvorschlag einzubringen.

Personalpolitik ist immer ein schwieriges Geschäft, auch dort, wo politische Rücksichtnahmen keine Rolle spielen (sollten). Es gibt immer Unwägbarkeiten. Trotzdem müßte sich ein grober Überblick im Vergleich künftig freiwerdender Stellen einerseits und der unterschiedlich geeigneten Bewerber andererseits erarbeiten lassen mit der Konsequenz einer einigermaßen sicheren "Beförderungs-planung". Ansätze dazu habe ich zeitweise erlebt.

Weitgehend ausgeschlossen zu sein scheint allerdings Kooperation, sobald Stellen oberhalb R 3 zu besetzen sind. In diesem Bereich habe ich als Mitglied des Präsidialrats in keinem Fall irgendeine Vorinformation erlebt. Während die Erwartungen der Arglosen noch auf den Bewerber gerichtet sind, "von dem der Sievekingplatz spricht", taucht unvermittelt ein Stern auf, dessen kometenhaftes Gleißen den gewählten Mitgliedern des Präsidialrats bis dahin entgangen war, um es vorsichtig auszudrücken.

Es ist Politikern zuzugestehen, daß sie für einflußreiche Spitzenpositionen der Justiz Persönlichkeiten bevorzugen, deren rechtspolitischer Loyalität sie meinen sicher sein zu können. Andererseits erweist sich die Vorstellung, unter allen in Betracht kommenden Bewerbern sei dieser Vorzug nur dem gerade Vorgeschlagenen eigen, bei näherem Hinsehen regelmäßig als abwegig. Es kann nur vermutet werden, daß derartigen Vorgängen langfristig angelegte, mehrere Qualifikaten für mehrere Stellen einbindende "Beförderungszüge" zugrunde liegen. Die Beteiligung des Präsidialrats am "Wahlverfahren" ist in diesen Fällen eine Farce; es ist längst unauflöslich alles "festgezurrt". Der Präsidialrat kann nicht einmal etwas zur Rehabilitierung der gescheiterten Mitbewerber tun, weil die betreffende Stelle entweder auf lange Zeit nicht wieder zur Besetzung ansteht oder sich der "Beförderungszug" als noch länger erweist als zunächst ausgemacht und die Stelle längst insgeheim für den ebenfalls schon feststehenden Nachrücker des dem nächsthöheren Amt zueilenden Zukunftsträgers freigehalten wird. Der Präsidialrat darf seine "Mitwirkung" gleichwohl nicht verweigern; er würde pflichtwidrig handeln, wenn er sein Votum aufschiebt oder seinem Groll etwa wider besseres Wissen mit einem negativen Votum Ausdruck verleiht.

Wir haben damit das Problem der

Transparenz

personalpolitischer Entscheidungen erreicht. Wie schon gesagt, trägt nicht jeder den "Marschallstab im Tornister". Mancher findet ohnehin das Buhlen um berufliche Förderung für sich als unwürdig. Andere meinen auch ohne gutes Zureden, mit der Lebenszeiternennung das Erreichbare erreicht zu haben. Die Mehrheit der Kollegen wünscht jedoch in einem System, das nicht der Gleichwertigkeit aller Richterämter Rechnung trägt, verständlicherweise "weiterzukommen", äußerlich erkennbar Anerkennung zu finden. Je geringer aber - im Hinblick auf Stellenabbau und die Kegelgestalt des Stellenaufbaus - die Chancen generell sind, desto argwöhnischer wird Personalpolitik betrachtet.

Ist nicht Verständnis angesagt für das Mißtrauen eines Förderungsbereiten, an dem ein Kollege, der ihm jahrelang als freundlicher Zimmernachbar, keineswegs aber als fachlicher Überflieger oder gar als "Breitbandbegabung" aufgefallen war, unverhofft vorbeizieht, womöglich gar, um nach kurzer Zeit ein noch höher angesiedeltes Amt zu besetzen? Und wenn für ein solches Phänomen kompetente Quellen keine schlüssige Erklärung geben können?

Vielleicht war dieser Kollege ganz unauffällig mit seinem Amt gewachsen, hatte sich Verdienste in Neben- und Ehrenämtern erworben, nicht nur in spätabendlichen Diskusisonsrunden auf sich aufmerksam gemacht. Der Mitbewerber wüßte darüber allerdings gern etwas mehr als nur die Bescheidung durch den PräsOLG, angesichts der größeren Erfahrung und ganz spezieller Fähigkeiten sei der Vorgeschlagene nun einmal für die zu besetzende Stelle besser geeignet.11) Er möchte auch wissen: Ist dies das "Aus", vor allem: Was kann er tun, um seine Chancen zu mehren? Einige haben den Mut, diese Fragen zu stellen, aber sie bringen Steine statt Brot nach Hause; es ist eben alles "schwierig".

In diesem Mangel an Transparenz sehe ich eine wesentliche Schwäche unseres Beförderungssystems. Sicherlich: Stellenabbau, die Konkurrenzen der Gerichte untereinander, unvorhergesehen früh beendete oder verlängerte Abordnungen und Strukturveränderungen sind Faktoren, welche die Personalplanung erschweren. Gleichwohl sind diese Umstände keine Hindernisse für offene Gespräche zur rechten Zeit, die dem auf Förderung bedachten Richter ermöglichen, sich selbst einzuschätzen, Defizite auszugleichen und auch außerhalb des Berufs mittelfristig zu disponieren. Ein ehrliches, überzeugendes Wort, auch wenn es Wunschvorstellungen zerstört, ist allemal besser für den Betroffenen, der aus einem fortdauernden Spannungszustand erlöst wird, aber auch für das Gericht im ganzen, das die Heimat solidarisch um das Recht bemühter Richterpersönlichkeiten, nicht aber ein Kampfplatz sich argwöhnisch beobachtender Beförderungsneurotiker sein sollte.

Jeder einer selbstkritischen Betrachtung fähige Richter müßte in die Lage versetzt sein, selbst auszumachen, ob er die Kriterien der persönlichen und fachlichen Eignung12) erfüllt. Es ist ein Kreuz mit ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen, und ich will mich nicht allzu weit auf dieses schwierige Feld wagen:

Über den Inhalt des Begriffs "fachliche Eignung" gibt es vermutlich keinen Streit, solange man nicht überspitzt statuiert, ohne persönliche könne es auch keine fachliche Eignung geben.

Was "persönliche Eignung" ist, läßt sich offenbar so schwer beantworten, daß dieses Kriterium in den Beratungen des Präsidialrats13) regelmäßig hinter der Erörterung der fachlichen Eignung zurücktritt. Die Versuchung, in einer Zeit knapper Ressourcen den "strom-linienförmigen" Richter, der durch hohe Erledigungszahlen und schnelle Anpassung an organisatorische und technische Zwänge glänzt, mit diesem Prädikat zu versehen, ist groß. Gleichwohl:

Dieser Souverän der Sachverhaltserfassung, der Subsumtion und des prozessualen Handwerkzeugs sollte skeptisch betrachtet werden. Ob er den Rechtsuchenden auch zu überzeugen vermag, und ob er auch anderem als dem Erledigungsdruck standhalten könnte, wäre zu hinterfragen.

Entscheidungen sollten den Beteiligten verständlich machen, daß man sie ernst nimmt; es ist nicht ihre Aufgabe, mit einer holzschnittartigen Vergröberung und Verkürzung nach dem Beifall der Revisionsinstanz zu heischen. Einem Vorsitzenden sollte nicht nachgesagt werden, in seinen Sitzungen herrsche keine gute und auch keine schlechte, sondern schlicht überhaupt keine Atmosphäre.

Man sollte meinen, im kollegialen Miteinander müßte es ohne besondere Schwierigkeiten auszumachen sein, wer in einem solchen Übermaß mit persönlicher und fachlicher Eignung gesegnet ist, daß er den Vorzug vor anderen verdient. Jeder von uns meint, Kollegen mit derartigen Vorzügen zu kennen. Und wundert sich, daß diese gleichwohl übergangen werden.

Genügt es möglicherweise nicht, überdurchschnittliches Geschick bei der Befriedung von Streithähnen zu entwickeln, Entscheidungen zu finden, an die kein Rechtsmittelwütiger herankommt, sich fortzubilden, juristischen Nachwuchs zu fördern, Interessen auch außerhalb des Berufs zu pflegen, sich als Prüfer zu bewähren, sich Allgemeinbildung und Lebensnähe zu bewahren? Offenbar nicht. Bei näherem Hinsehen erscheint die Vermutung gerechtfertigt, daß weitere Fertigkeiten und Verdienste zählen,von deren Wertigkeit der "gewöhnliche" Bewerber indessen nichts ahnt.

So scheint es der Karriere zumindest nicht abträglich zu sein, in einer von höherer Hand eingesetzten Arbeitsgruppe14) mitzuarbeiten, neben der rechtsprechenden Tätigkeit Aufgaben in der Gerichtsverwaltung wahrzunehmen, ein Großverfahren im Strafbereich zu analysieren15) oder auf Bundesebene in einer Kommission einer berufsständischen Vertretung mitzuarbeiten. Daß dergleichen "Punkte" bringen kann, halte ich für legitim. Die eigentliche Problematik scheint mir darin zu bestehen, daß nicht jeder noch so befähigte Kollege die Chance hat, sich in solchen Aufgabenbereichen zusätzlich zu beweisen.

Was hilft es dem Interessierten, wenn er von der Einsetzung einer Arbeitsgruppe erst erfährt, nachdem diese ihre Arbeit fast abgeschlossen hat? Welche Möglichkeiten hat ein junger Richter, zusätzlich Verwaltungsaufgaben zu übernehmen, wenn er erst aus der Geschäftsverteilung entnimmt, daß in diesem Bereich eine Vakanz bestand? Wer ist schon zur rechten Zeit mit einem Großverfahren befaßt, dessen Aufarbeitung der Rechtsanwendung nutzbar gemacht werden kann? Und wo liest der rechtspolitisch Interessierte, daß eine Standesvertretung eine Kommission eingerichtet hat zu einem Thema, das nachgerade sein "Steckenpferd" ist?

Mit anderen Worten:

Chancen hat nur der, der um sie weiß.

Es wird demnach mehr noch als bisher Obliegenheit der Präsidenten, vornehmlich auch der Richterräte sein, dafür zu sorgen, daß jeder die Möglichkeit erhält, sich um eine Verbesserung seiner Startposition für die berufliche Förderung zu bemühen16) und daß derartige Möglichkeiten nicht von vornherein auf einen handverlesenen Kreis beschränkt bleiben.17)

Nicht jeder, der um eine Chance weiß,
kann sie auch nutzen:

So wie Teilzeitbeschäftigung und Erziehungsurlaub18) ungeachtet gesetzlicher Negation19) Hindernisse für die volle Entfaltung aller Talente sein können, insbesondere die für den Richterberuf nützliche Kontinuität der Wissensaufnahme und Übung beeinträchtigen, sind auch vollzeitbeschäftigte Mütter und Väter mehrer Kinder dem nur seinem Beruf Verpflichteten gegenüber im Nachteil.

Die Auffassung, jeder trage in diesem Bereich das Risiko selbstgewählter Lebensgestaltung, beeinflußt nach meinem Eindruck auch heute noch die Personalplanung, die sich bei der Frage nach der fachlichen Eignung überwiegend auf die Fähigkeit zu formaler Rechtsanwendung konzentriert. Man muß gar nicht erst die "schwerwiegenden Gründe sozialer Art" bemühen, die ausnahmsweise einem männlichen Bewerber den Vorzug vor einer gleichbefähigten Bewerberin verschaffen.20) Die sozialen Erfahrungen, die ein Richter in der Familie sammelt, stellen einen Schatz auch für die Rechtspflege dar, wobei ich nicht nur an den Familien- und Jugendrichter denke.21) Es sind Erfahrungen, die auch durch wiederholte Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen und Lektüre erziehungswissenschaftlicher Literatur nicht zu ersetzen sind. Nicht nur Frauen sind gemeint, wenn es in § 9 Abs. 2 GleichstG heißt:

"Bei der Bewertung einer Qualifikation sind auch durch Familienarbeit erworbene Fähigkeiten und Erfahrungen einzubeziehen."

Mir ist aus eigener Erfahrung kein Fall bekannt, in welchem derartige Qualitäten in Beurteilungen überhaupt nur angedeutet gewesen wären.

Alle die Verantwortung im Bereich beruflicher Förderung tragen, müssen ihr Augenmerk darauf richten, daß schon die funktionell günstigen Ausgangspositionen für berufliche Förderung nicht etwa das Reservat von Singles und Kinderlosen sind,22) die im übrigen keine Probleme damit haben, durch häufigen Besuch von Veranstaltungen rund um den Sievekingplatz Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ein Vorteil, der gerade bei Gerichten mit einer sehr großen Zahl von Richtern, deren Präsident auf "Dienstliche Äußerungen"23) zur Vorbereitung einer Richterbeurteilung angewiesen ist, nicht unterschätzt werden darf.

Nach allem geht es um Gerechtigkeit, eine Tugend, die eigentlich in der Rechtspflege ihren Stammsitz haben sollte.

So wenig ich es billigen könnte, wenn eine alles überragende Spitzenbegabung in ihrer Entwicklung mit dem Argument behindert werden würde, sie sei zu jung, so zutiefst unwürdig und ungerecht empfinde ich die Maxime,24) die zu erwartenden immer höheren Belastungen der Justiz erforderten die vorrangige Förderung jüngerer Jahrgänge, wobei unausgesprochen bleibt: Zulasten mehrfach knapp unterlegener Bewerber, die erprobt sind, über gleiche Eignung verfügen und über Jahrzehnte allen Belastungen des Amtes mit Bravour standgehalten haben. Fiskalisch mag das in Ordnung gehen, aber die Menschenwürde25) bleibt auf der Strecke, abgesehen davon, daß man sich nach dem Sinn einer Erprobung noch jenseits des 40. Lebensjahres fragen müßte.

Es ist einem Bewerber nicht zuzumuten, darauf hinzuweisen, daß er vier oder sechs Kinder hat, davon die Hälfte im Studium, und darüber hinaus die Weisheit des "Alters" zu preisen. Die zur Entscheidung und Mitwirkung berufenen Gremien müssen derartige Gesichtspunkte von Amts wegen in ihre Abwägung einbeziehen, ohne darauf gestoßen zu werden.

Auch Kontinuität und Berechenbarkeit sind Elemente einer sorgfältigen Personalpolitik. Zwar kann es nach dem Wesensgehalt eines Beförderungssystems keine bindenden Zusicherungen geben. Wenn jedoch ein Entscheidungsträger den Mitgliedern des Präsidialrats und Betroffenen im Gespräch zeitliche und personenbezogene Voraussetzungen für die weitere Förderung eines Richters aufgezeigt hat, geht es nicht an, daß der Nachfolger im Amt sich davon in Bausch und Bogen lossagt.

Zur Redlichkeit in der Personalpolitikgehört auch die Verläßlichkeit der Personalakten.

Nehmen wir den weiter oben skizzierten Fall, daß der RWA sich für einen nicht vom Präses vorgeschlagenen Mitbewerber interessiert und dessen Personalakten anfordert. Nehmen wir weiter an, der Mitbewerber erfährt davon und ist guter Hoffnung, müßten sich doch aus seinen Personalakten Qualitäten ergeben, die denen des Vorgeschlagenen zumindest ebenbürtig sind.

Er sollte nicht zuviel erhoffen. Wenn er nämlich einmal die Justizbehörde aufsuchen und dort seine Personalakten26) einsehen würde, dürfte er sich wundern:

Vermutlich würde er feststellen müssen, daß seine Personalakten in wesentlichen Teilen nicht paginiert sind. Vertrauen ist gut - Paginierung ist besser! Bleibt die Erkenntnis, daß für Vollständigkeit und Integrität der Personalakten keine sichere Gewähr besteht. Vergeblich wird er - in der Regel - all die wunderschönen Beurteilungen seiner Öberen aus Anlaß vorangegangener Bewerbungen suchen. Denn auch dann, wenn er der Ankündigung des Chefpräsidenten, eine Beurteilung werde zu seinen Personalakten genommen, gar nicht widerspricht, landen diese Beurteilungen in aller Regel nicht bei seinen Personalakten, sondern in - auf die ausgeschriebenen Stellen bezogenen - Bewerbungsakten, die nicht Teil der Personalakten sind und deshalb auch nicht dem RWA vorgelegt werden. Dasselbe gilt für anerkennende Äußerungen von Rechtsanwälten über die Art der Prozeßleitung und den Umgang mit den Parteien. Vielleicht hat der Mitbewerber darauf gehofft, gerade bei den anwaltlichen Mitgliedern des RWA würden derartige Schreiben ihre Wirkung nicht verfehlen - vergebens.

Wie peinlich, wenn eine Kollegin bei Ihrer Verabschiedung in den Ruhestand der Aufzählung ihrer verdienstvollen Tätigkeiten alles das hinzufügen muß, was den Zeitzeugen bekannt ist, in den Personalakten aber offenbar fehlt!27)

Kein Grund zur Resignation.

Als Richter erfahren wir täglich unsere Grenzen, beklagen, daß der Gesetzgeber vernünftigen Vorschlägen nicht folgt, die uns das Ringen um das gerechte Ergebnis erleichtern würden. Was die Demokratisierung des Beförderungssystems betrifft, sollte jedoch kein Anlaß zu vorzeitiger Resignation gesehen werden. Die Bürgerschaft würde sich nicht in Widerspruch zum Bundesgesetzgeber setzen, wenn sie die Funktionen des Präsidialrats im HmbRiG so stärken würde, daß diese Gremien auch institutionell mittel- und langfristig in die Personalplanung einzubinden sind. Es liegt auch im Interesse der Politik, daß der Präsidialrat sein Image als bloßes Akklamationsorgan verliert, insbesondere, indem sein Votum einzuholen ist, bevor der Präses der Justizbehörde dem RWA seinen Vorschlag unterbreitet.

Bis dahin sind Entscheidungsträger und Mitwirkungsberufene nicht gehindert, sich des Mißtrauens und der Unsicherheit anzunehmen, die sich seit langem unter Kolleginnen und Kollegen ausgebreitet haben angesichts eines Beförderungssystems, das gerechte, ausschließlich von sachlichen Erwägungen geleitete Entscheidungen nicht sicher genug gewährleistet und - das ist das eigentlich Schlimme - mit dem Mantel der Geheimniskrämerei umhüllt ist.

Jürgen Franke