(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/97) < home RiV >
Streitkultur?
Als zu Zeiten des NATO-Doppelbeschlusses Richter auf die Straße gingen, wäre das eigentlich nichts Grundstürzendes gewesen, wenn - ja wenn diese Kollegen nicht über ihre Richterrobe und die Ausrufung ihrer Dienstbezeichnungen für ihre persönliche Meinung zugleich das ihnen verliehene Amt und letztlich die Richterschaft überhaupt in Anspruch genommen hätten. Jahrelang hatte es den Anschein, als sollte das eine Ausnahmeerscheinung bleiben. Der Schein trügt wohl:
Da haben wir einen jungen Kollegen, der den gesammelten Ingrimm vermutlich auch anderer Richter über eine von ihm nicht nachvollziehbare Rechtsprechung in Schwurgerichtssachen freiläßt in einer Inszenierung, für die eine Hauptverhandlung die Bühne abgibt; und er legt, offenbar von der Medienresonanz ermutigt, gleich noch nach, indem er "Roß und Reiter" nennt. Weil sich dergleichen in einer Phase öffentlicher Aufgeregtheit trefflich vermarkten läßt, darf er in Interviews und Talkshows sein Unbehagen weiter pflegen und, versehen mit dem ihm aufgestempelten Anschein der Kompetenz, läßt er sich zu Äußerungen auch über Themen verleiten, die es nicht vertragen, plakativ behandelt zu werden. Ich meine insbesondere das Statement, er sei zwar grundsätzlich gegen die Todesstrafe, könne sich aber unter bestimmten Umständen und für außergewöhnlich brutale Tötungsdelikte deren Wiedereinführung vorstellen, würde auch dann Strafrichter bleiben können.
Die Diskussion entwickelt sich über zwei Grundthemen:
Ist unser Kollege eigentlich ganz bei Trost mit der Art und Weise, in der er - gestützt vornehmlich auf Informationen vom Hörensagen - namentlich erwähnte oder leicht auszumachende Richter mit Vorwürfen überzieht, die diese in den Verdacht der Rechtsbeugung bringen, wobei er offensichtlich keine Ahnung hat von den Fußangeln, die durch höchstrichterliche Rechtsprechung in Schwurgerichtssachen gelegt worden sind? Dazu gibt es eine Vorstandssitzung des Hamburgischen Richtervereins, aus der zumindest Mißverständliches nach außen gedrungen sein muß. Und es gibt eine Strafanzeige eines von dem Kollegen apostrophierten Vorsitzenden im Ruhestand.1)
Parallel dazu: Muß dieser Kollege nicht mit aller Macht gebremst werden? Hat er doch nicht allein eine Affinität zur Todesstrafe, sondern versteigt er sich noch zu der Behauptung, nicht nur Umweltbedingungen, sondern auch genetische Anlagen könnten kriminelles Verhalten bedingen! Ein Strafrichter, der lebens- und lebensunwertes Leben unterscheidet?! Da müssen Zeichen gesetzt werden!
Also tritt ein Gerichtspräsident vor die Kameras und artikuliert das Entsetzen der Hamburger Richterschaft, die sich entschieden gegen jeden Gedanken verwahre, die Todesstrafe wieder einzuführen. Und am 1. Oktober 1997 um 11.00 Uhr, in einer Ansprache zur Einweihung des Mahnmals "Hier und Jetzt", vom Pult im Eingang des Hanseatischen Oberlandesgerichts aus folgt der nächste Hieb aus derselben Feder: Wie könne sogar darüber fabuliert werden, Straftaten könnten auch genetisch bedingt sein; von solchen Auffassungen sei doch ein recht gerader Weg zurück zu Euthanasie unseligen Angedenkens.
So weit, so schlecht. Zunächst einmal:
Unserem Kollegen, der über Nacht zu einer zumindest "relativen" Person der Zeitgeschichte geworden und deshalb dem Medieninteresse wohl kaum noch zu entziehen ist, muß vorgeworfen werden, daß er mit seiner Kritik an anderen Richtern den falschen Ort ausgesucht, inhaltlich undifferenziert und wenig sachkundig argumentiert hat. Er hat Möglichkeiten, die er ausschließlich über sein Amt erlangt hat, mißbraucht, um einer - berechtigten oder nicht berechtigten - Kritik ein Gewicht zu verschaffen, das ihr bei einer wissenschaftlich geführten Auseinandersetzung nicht zugekommen wäre. Er hat sich im Bereich einer Schmähkritik bewegt. Damit hat er die Geister gerufen, die er nicht mehr loswird, weil er ihre Erwartung, ihn zum Katalysator machen zu können, der einerseits das sagt, was der "Stammtisch" gern hört, andererseits deshalb auch zum willkommenen Prügelknaben taugt, nur zu gut gerecht geworden ist.
Und diejenigen, die ihn bremsen wollen, -
machen sie es nun besser als er?
Dem Folgenden ist voranzuschicken: Ich bin gegen die Todesstrafe.2)
Daß es dieser salvatorischen Klausel überhaupt bedarf, scheint mir ebenso bedauerlich wie unstreitig. Juristen differenzieren bis zur Auflösung aller Konturen, wenn es um Rechtsfragen geht. Aber sobald es um das persönliche Bekenntnis geht, halten auch wir erst einmal Ausschau nach dem, was der Zeitgeist gerade ansagt. Dann ersetzen Emotionen jede Argumentation, Fragen haben allenfalls deklaratorischen Charakter. Würden Sie ernsthaft mit jemandem diskutieren, der heute noch für die Todesstrafe ist? Da gibt es nichts zu diskutieren! Oder doch?
Nun: Der Präsident, der sich da so mannhaft vor die Hamburger Richterschaft stellt, mag die Auffassung vertreten, mit dem Erlebnis des vieltausendfachen Mißbrauchs in der Nazidiktatur und mit der durch den ersten Deutschen Bundestag beschlossenen Abschaffung der Todesstrafe sei die Diskussion darüber ein für allemal erledigt. Er steht damit nicht allein.
Allerdings: Verleiht ihm sein Amt übermenschliche Erkenntniskräfte? Woher will er wissen, daß - mit der uns bekannten Ausnahme - alle Richter in Hamburg hinter seiner Erklärung stehen? Und: Verleiht ihm sein Amt die Kompetenz, in dieser Sache für alle Hamburger Richter zu sprechen? Ich jedenfalls habe niemandem das Recht abgetreten, mich in einer Frage, die den Rang einer Gewissensentscheidung hat, für eine pauschale Stellungnahme zu vereinnahmen.
Es kann in diesem Bereich keine Vorgaben geben, welche dieses Thema der Freiheit des Denkens und der Meinungen entziehen. Wäre es je anders gewesen, so hätten große Geister wie Martin Luther, Rousseau, Kant, Friedrich der Große (alle für die Todesstrafe), Ernst Moritz Arndt (gegen die Todesstrafe außer bei Elternmord und Vaterlandsverrat), Savigny (für die Todesstrafe) und Moritz Liepmann (gegen die Todesstrafe)3) wohl kaum ernsthaft und leidenschaftlich darüber gestritten. Das Strafgesetzbuch von 1871 sah die Todesstrafe vor für Mord. Das Paulskirchenparlament und die Preußische Nationalversammlung votierten 1848 mit großer Mehrheit für die Abschaffung der Todesstrafe. Die Länder des Norddeutschen Bundes entschieden in dritter Lesung mit knapper Mehrheit dafür, die Weimarer Nationalversammlung beschloß ihre Beibehaltung, das Grundgesetz beseitigte sie. Die Europäische Konvention und die UN-Deklaration der Menschenrechte hatten die Todesstrafe anerkannt,4) seit 1957 wiederum bemühen sich die UN um deren Abschaffung.5) Noch am 17. Oktober 1958 widmete die Große Strafrechtskommission einen ganzen Sitzungstag der Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe. Die Schlußabstimmung ergab 4 Stimmen für, 16 gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe, eine Stimme für die Wiedereinführung bei "mit Überlegung" ausgeführten Morden.6)
Fast alle Stellungnahmen, gleich aus welcher Epoche, nehmen eine im Volk leidenschaftlich geführte Diskussion um das Für und Wider der Todesstrafe auf. Dreher7) spricht von dem "in seiner weltanschaulichen Tiefe kaum auszulotenden und in seinen kriminalpolitischen und prozessualen Verästelungen schwer überschaubaren Problem der Todesstrafe." Er referiert Umfragen und kommt zur Feststellung einer 2/3-Mehrheit für die Todesstrafe, "sehr wahrscheinlich einer noch viel größeren Mehrheit." "Das ist ein sehr ernst zu nehmendes Faktum." Als 1950 im britischen Unterhaus Abschaffung oder Fortbestehen der Todesstrafe zur Abstimmung stand, gaben die großen Parteien ihren Abgeordneten die Stimmabgabe frei. Und wer will bestreiten, daß die Todesstrafe in unserem Lande mal mehr, mal weniger, aber immer leidenschaftlich Thema ständiger Diskussionen ist?
Gewiß kann man dieses Phänomen mit
Aschrott8) so kommentieren: "Doch werden nach meiner Überzeugung alle theoretischen Gründe gegen die Todesstrafe so lange wirkungslos bleiben, als nicht der Kulturzustand eines Volkes ein solcher ist, daß die Todesstrafe von dem allgemeinen Volksbewußtsein auch bei den schwersten Verbrechen für entbehrlich gehalten wird." Diesen Kulturzustand herbeizuführen, muß das Bestreben jeden Gegners der Todesstrafe sein. Ganz gewiß ist das aber nicht zu bewirken mit jener intellektuellen Überheblichkeit, mit der dem Volke übers Maul gefahren wird nach dem Motto: "Wir haben nicht den Ehrgeiz, die Luftherrschaft über den Stammtischen zu erringen." Die öffentliche Meinung ist nicht zu beeinflussen durch Denkverbote, Maulkörbe und Publikumsbeschimpfung. Sie ist nur umzukehren durch redliche, rationale Argumentation im Rahmen einer offenen Diskussion.
Auch Richter sind Bürger und genießen Meinungsfreiheit. Unser junger Amtsrichter hat seine Meinung zur Todesstrafe nicht ex cathedra, sondern in einem Interview auf Befragen geäußert. Das ist sein gutes Recht, und es ist nicht angemessen, ihn deshalb unter Einsatz eines öffentlichen Amtes an den Pranger zu stellen.
Daß strafbares Verhalten auch genetisch bedingt sein könnte, scheint so wenig bewiesen wie das Gegenteil. Die Frage ist aber bis in unsere Tage hinein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und Diskussion.9) Immerhin definiert der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung10) den Begriff der in § 17 Abs. 2 JGG genannten "schädlichen Neigungen" dahin, es handle sich um erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel. Der frühere Bremer Generalstaatsanwalt Dr. Dünnebier, Mitautor des StPO-Kommentars von Löwe-Rosenberg und gewiß über den Verdacht erhaben, ein rückwärtsgewandter Jurist gewesen zu sein, hat sich gegen die Todesstrafe gerade mit dem Argument ausgesprochen, jede Tat sei "auch auf Anlage und - bewußte und unbewußte - Umwelterlebnisse" zurückzuführen und könne dem Täter niemals als freie Willensentscheidung vorgeworfen werden.11)
Einen Richter, der sich an dieser Diskussion beteiligt, in die Nähe der Liquidatoren vermeintlich lebensunwerten Lebens zu rücken, ist eine moralische Fehlleistung und eine grobe Verletzung des Mäßigungsgebotes, dem alle Richter ungeachtet ihres Ranges unterliegen. Dasselbe gilt für die Feststellung, dieser Richter habe den Boden des Grundgesetzes verlassen. Abgesehen davon, daß sich dieser Kollege womöglich in Gesellschaft eines überwiegenden Teils der Bevölkerung befindet: Hätte derjenige, der diesen Vorwurf erhebt, den Mut, ihn auch im Angesicht der überlebenden Mitglieder der Großen Strafrechtskommission zu wiederholen, die die Frage, ob die Todesstrafe wieder eingeführt werden sollte, 1958, immerhin erst 13 Jahre nach dem Ende der Nazibarbarei, mit Ernst und Sorgfalt diskutiert haben?
Wenn schon nicht die Moral, so sollte die Vernunft lehren: Es hat sich nie ausgezahlt, Märtyrer zu schaffen.
Jürgen Franke