(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/97) < home RiV >
Kommunikationstraining
(Teil III)Ich kann nicht umhin, mir einzugestehen, daß dieses Schauspiel mich zugleich verwirrt und bannt. Leicht beklommen, fühlt man sich in den Sessel eines Voyeurs verpflanzt, ohne auch nur im geringsten darum gebeten zu haben. Der arme Kerl dort: darf man den wirklich so vorführen - wie einen Anstaltspatienten im psychiatrischen Oberseminar? Kann man gemächlich zugucken, wie eine gequälte Seele seziert wird und sich vor aller Augen entblößt ...?
In diesem Widerwillen liegt allerdings nur die halbe Wahrheit. Denn jetzt, da die Szene sich entrollt, ohne daß ich dies auch nur im geringsten selbst zu vertreten hätte, möchte ich - Hand auf’s Herz! - meinen Beobachtungsposten gar nicht wieder räumen: Wo sonst bekommt man, unter solcher Regie, dergleichen Schauspiel vorgeführt?
So etwa mag ein jeder vor sich hin sinniert haben, als Siegfried selbst ganz unvermittelt allem Grübeln und Skrupelieren ein Ende setzt:
"OK Leute, das war’s; ... mußte mal wieder sein, nun ist mir schon besser: dank’ euch!" Das kommt sachlich heraus, freundlich, kühl und ganz tränenlos - fast technisch, wie wenn einer mitteilt, er habe sein Gebiß soeben durch kräftiges Zähneputzen von lästigen Speiseresten befreit. ... Und er setzt hinzu: "Bin froh, daß ich es gemacht habe; Hanne war lieb zu mir: Danke!", und sein Dank geht weiter an andere, die auch in Statistenrollen hilfreiche Beiträge zur Szene geleistet hätten.
Dann kommt die Gruppe dran - zunächst mit viel warmem Zuspruch für unseren so wunderbar schnell genesenen Patienten. Die Diskussion dann fällt fast sachlich aus, verläuft aber dennoch in einer ausgesprochen "weichen" Atmosphäre: Aus allen Poren dringen das Mitgefühl für den Geheilten, Rührung, Verständnis und Aufmunterung; nicht wenige Augen sind gerötet. Aber dazwischen hört man auch leise Fragen nach der Legitimität dieser Vorführung: Skrupel, die sich um so beharrlicher halten, als offenbar keiner (letztlich mich selbst eingeschlossen) dies als ein bloß extrovertiertes Theater abtun kann: Man hatte hier wirkliche Konvulsionen eines wirklich beschädigten Geistes erlebt. ...
- Ich entnehme meinen Notizen (ohne die ich davon nichts mehr wüßte), daß ich damals auf Befragen erklärt (und wohl auch gemeint) hatte, mich habe zunächst das Gefühl des Abgestoßen-Werdens geradezu überwältigt, der Fortgang dann mich erschüttert und für den Patienten sogar ein-genommen, ohne daß ich allerdings ein Grundgefühl von Mißbehagen und Ablehnung überwunden hätte..-
Nun, da der Boden bereitet ist, die Tränen locker sitzen und man jede falsche Scham (anders als falsch kann sie jetzt gar nicht mehr sein: "Würdest du gern weinen?" - "Ich beherrsche mich!" - "Ist das wirklich gut für dich?!" usw. usw.), überwunden hat, fließt so manche Träne, in schwesterlicher oder brüderlicher (oder geschwisterlicher) Umhegung und vom allgemeinen Mitgefühl begleitet. ...
Letzter Tag - Schluß und Abschied
Die wenigen Tage bisher waren ungewöhnlich intensiv und anstrengend gewesen. In ihnen war gruppendynamisch mehr passiert ("gelaufen") als sonst in Jahren oder im Leben überhaupt - jedenfalls für all’ jene, die jetzt nicht nur ihre schon gesammelten Encounter-Erfahrungen wiederholt und neu belebt hatten.
Der gestrige Tag hatte noch einmal alles geboten und schien abschließend demonstriert zu haben, wie Tränen und Seligkeit, Unterwerfung und Macht, Hingabe und Verführung sich vermengen und bedingen; und wie leicht es einer kundigen und geschickten Hand doch fällt, die Schleusen fremder Seelen widerstandslos zu öffnen. ...
Ist es diesem Spannungsabfall und dem zugleich wieder hervortretenden und nun nicht mehr abgewiesenen Gruppenwunsch nach Hintergrundwissen und tieferen Erklärungen (sozusagen nach Theorie) zu verdanken, daß man jetzt endlich, kurz vor Schluß, vom Guru doch noch manche interessante Beobachtung und Erfahrung, auch diskutable Reflexionen hören kann - nichts zwar über ihn selbst, dem man so gern ins Gehirn hinter die dunklen Augenbrauen schauen würde; er tritt keinen Augenblick aus seiner Deckung heraus! -; aber es ist immerhin etwas anderes als der notorische Psychobetrieb. ...
Schließlich aber - nach wie langen Stunden? - stolpert wieder ein Opfer in die Runde. Aus eigenem Antrieb, um noch einmal etwas mit und in sich zu erleben? Oder weil die Szene letztlich doch noch suggestiv aufgeladen und er nur ihre Marionette ist? Dieser junge Mensch - nennen wir ihn Theodor - gleicht der Inkarnation des Jammers. Schon vorher, bei Tische, hatte er den Nachbarn anvertraut: Das Ganze hier habe ja keinen Sinn für ihn; er sei fix und fertig; aber die anderen, die so stabil schienen, seien in Wirklichkeit noch kaputtere Typen als er selbst ... Theodor also marschiert auf den Guru los und redet von gehegten Erwartungen, von Hoffnungen auf Ungeheures, auf Hilfen ..., verheddert und wiederholt sich, läuft herum, fleht, sich ständig entschuldigend, zum Guru: "Ich weiß ja nicht, ob du das hören willst, sicherlich willst du nicht ..., bin ja so unfähig, mich auszudrücken, mich einzubringen, dir etwas zu sagen ...; ich bin kümmerlich und erbärmlich ...".
Es ist schrecklich, Zeuge solchen Elends und, wie es scheint, so hoffnungsloser Selbstverwerfung zu werden; man möchte den armen Kerl in seiner Pampe nicht sitzen lassen; was tun?
Aber da bekommt er schon seine Order, wandert den Kreis der Sitzenden ab und versucht, jedem - unter Handauflegen auf beide Schultern - sein persönliches Wort zu sagen:
"Dich fand ich schrecklich, mit dir war nichts anzufangen!", "dich fand ich dufte, wirklich Klasse!", "von dir war ich enttäuscht", "du warst ein dicker Brocken ..., zu schwer für mich!", "du warst lieb zu mir, danke!", "bei dir war es mir kalt, hast mir angst gemacht ...", "bei dir war Wärme." Bald gehen die Angesprochenen dazu über, ihm ihrerseits mit gleicher Geste ein paar Worte mit auf den Weg zu geben: freundliche, helfende, aufmunternde oder solche, die jedenfalls wie ein bemühtes Echo auf sein Stammeln klingen.
Wieder schießt mir die Frage durch den Kopf, ob hier nur Theater gespielt wird. Aber damit läßt sich die Sache nicht abtun, zum wiederholten Male nicht. Mir scheint erstmals in diesen Tagen, daß ein Fall - dieser hier! - auch den Guru nicht unberührt und unbesorgt läßt, so daß er hier einmal nicht auf die Demonstration seiner Macht, sondern auf Hilfe sinnt:
Als Theodor, die Tröstungen der Runde im Ohr, seinem Stuhle zustrebt, steht der Meister auf und tritt ihm - schwarz und riesig (wie mir scheint, dabei ist er tatsächlich einen Kopf kleiner als der andere) - in den Weg: "Nun sag’ auch mir etwas!" Aber ein klägliches Stammeln nur entringt sich dem Munde des jungen Menschen. Schnell will er sich setzen, dort im Stuhl verschwinden wie die Maus im Loch. Aber er hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht:
"Sag’ nun auch dem etwas, dem dort auf dem (leeren) Stuhl. Sprich zu ihm!".
So steht Theodor blaß und hochaufgerichtet vor dem Stuhl, der zum magischen Symbol seiner selbst gemacht worden ist - ein paar ewige Sekunden lang wortlos, stumm. Kein Laut fällt in der Runde. Plötzlich ein Fußtritt gegen den Stuhl: "Dich verachte ich, du bist widerlich!". "Aber warum verachtest du den?". "Der kann nichts, ist nichts, macht alles falsch, immer alles falsch ...!". Da ertönt freundlicher Widerspruch aus der Runde: "Keineswegs ... du hast hier doch eben manch’ richtiges Urteil abgegeben, vernünftige Worte geredet ... war doch keineswegs alles schlecht!". Das greift der Guru auf: "Siehst du: du brauchst den gar nicht so zu beschimpfen - oder was eigentlich verlangst du von dem da?". Die Antwort ist Gerede, das offenbar auf die Antwort hinausläuft: " ... Leistungen mittlerer Art und Güte". "Nein, Theodor: ein Weltmeister soll der sein, einsame Spitze, immer der Beste, toll wie keiner sonst ...!". Fühlt der Knabe sich jetzt geschmeichelt - als jemand, der so Phantastisches von sich selbst jedenfalls verlangt? Warum er derart viel fordere, wird er gefragt. Er habe eben solche Ansprüche, sagt er.
Aber da fällt der entscheidende Satz des Guru - ernst gesprochen, frei von lauernder Schärfe, fast predigend:
"Ich will es dir sagen: du verweigerst dich dem Leben, indem du Ansprüche an dich stellst, die du weder erfüllen kannst noch erfüllen willst. Du stellst dich einfach nur daneben - neben dein grotesk überhöhtes Selbstbild - und jammerst und klagst, statt das zu tun, was du tun kannst. Nicht unfähig bist du, sondern zu bequem, die Hand zu rühren!".
Diese Wendung scheint den jungen Mann zu überraschen:
"Ja, ich dachte, hier gibt’s so ‘ne Formel, so ein paar dolle Hinweise, womit man einfach was machen kann. ...; aber vielleicht hast du recht: Ich muß kleinere Brötchen backen, die aber richtig. ...". Darüber gehen noch ein paar - durchaus verständige - Worte hin und her und durch die Runde. ...
Dieser Abschluß wirft - als letzte Szene - nun wieder ein leicht versöhnliches Licht auf diese Tage, die Wunden geschlagen und bohrende Fragen offen gelassen hatten.
Das Schlußgespräch verläuft in allseits sanftem Ton. Zum einen gewiß deshalb, weil jeder findet, nur so könne es Frucht bringen; aber auch dank des Umstands, daß alle den psychischen Dauerstreß von Herzen satt haben und sich nach wärmender Harmonie sehnen. Der Veranstalter selbst denkt gewiß auch an weitere Seminare ... und daß ein paar persönliche Empfehlungen beim HansOLG dafür keineswegs unnütz wären. ...
"Die Gruppendynamik vermittelt - in einem tiefen Einbruch in das bisherige Leben - für vielleicht 70 Stunden das Gefühl eines neuen Aufbruchs in ein mütterliches Kollektiv" - diesen Satz erblättere ich später fast zufällig in den "Stimmen der Zeit" (H. Günther: Gibt es christliche Gruppendynamik? Heft 5/1976 S. 305 ff. (310)):
Aber was bleibt übrig - nach diesen 70 Stunden? Wie lange dauert solche Euphorie? Wird sie den Alltag auch nur der nächsten Woche überstehen? Und die Verletzungen, die einige davongetragen haben: was wird mit ihnen?
Auch darüber spricht man noch - am Freitag, den 18. Februar 1977...Jeder hat damals seinen unvertretbar persönlichen Eindruck empfangen und seine je eigenen Erinnerungen behalten - bis sie mit der Zeit verblaßt und verweht sind. Ich behaupte nicht, daß meine damaligen Notizen oder mein jetziger Bericht in den MHR ein verläßliches oder gar objektives Seminarprotokoll seien. Vielleicht würden andere, die dabei waren, ganz anders davon erzählen. Ich erführe es gern, habe aber seit über 20 Jahren kein Wort mehr über die immerhin ungewöhnlichen vier Tage im Elsa-Brandström-Haus gehört.
Günter Bertram