(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/97) < home RiV >
Der "gesetzliche" Richter
I. Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen treiben" - dieser Satz Richard Wagners steht in Geltung und voller Blüte, seitdem er ihn vor 130 Jahren niedergeschrieben hatte ("Deutsche Kunst und deutsche Politik"). Diese nationale Mentalität läßt hierzulande fast keine Äußerung gesellschaftlichen Lebens unberührt: ein weites Feld! Doch bleiben wir bei unserem eigenen Tagwerk - dem deutschen Rechtsstaat:
Er war die große und segensreiche Wiederentdeckung, nachdem die Nation zuvor, unter tätiger Mithilfe ihrer Juristen, zwölf Jahre lang - note bene: mit deutscher Perfektion und bürokratischer Hingabe! - seine Fundamente und Strukturen zerstört hatte. Nun aber, nachdem der Spuk vorbei war, sollte kein Volk der Welt sich rühmen dürfen, es der wiedererstandenen deutschen Rechtsstaatlichkeit gleich zu tun oder gar sie zu übertreffen. Über dergleichen Hoffart wiederum haben kluge Zeitgenossen ihre Anmerkungen und Glossen gemacht. Wolfgang Zeidler war es gewesen, der die ironische Sentenz Horst Sendlers von der deutschen "Instanzen-Seeligkeit" kraft seines hohen Amtes zu popularisieren gewußt hatte. ... Jedem von uns dürfte dazu eine Menge einfallen.
Auch das deutsche Strafprozeßrecht bietet ein fast unerschöpfliches Reservoir einschlägiger Belege; ich greife lediglich den schönsten heraus, weil er den besonderen Vorzug besitzt, sich gleich selbst zu kommentieren: Im Herbst 1992 hielt man in Paris ein multinationales Symposion über Strafverfahren ab. Dort veranstalten Juristen, insbesondere auch Richter aus England, Frankreich, Italien, Holland, Spanien, Portugal und Deutschland ein Prozeßspiel, um herauszufinden, wie ein und derselbe Fall im jeweiligen Staat forensisch ablaufen würde. Darüber berichtet einer der maßgeblichen deutschen Vertreter (der Vizepräsident des Landgerichts Amberg: Günter Müller) in der DRiZ 1993, 381 ff. Die Lektüre lohnt - lohnt mehr als das übliche Strafwissenschafts-Schrifttum, das ewig auf und ab und vor sich hin dümpelt:
Wir erfahren, daß unsere Nachbarn mit Staunen, Verwunderung, keineswegs ganz ohne Anerkennung und Hochachtung, aber doch mit häufigem Kopfschütteln registrieren, was deutsche Gründlich- und Förmlichkeit, teutonische Skrupel, also "deutsche Rechtsstaatlichkeit" zu leisten oder gerade auch nicht zu leisten vermag. Daß eine Hauptverhandlung durch Beweisanträge "zum Platzen" gebracht werden könnte - diese Besorgnis wurde als deutsche Rarität bestaunt. Daß verspätete Anträge doch nicht verspätet sein sollen (§ 246 StPO), reimt sich offenbar nur in deutschen Köpfern. Die hübsche Rückfrage eines französischen Untersuchungsrichters, der im deutschen Prozeß die Schöffenrolle zu spielen und bei einer Gesamtstrafenbildung (§ 54 StGB) mitzuwirken hatte: "Qu’ est-ce que c’est, ce machine?" hätte damals gut als Kürzel allgemeiner Verwunderung über den deutschen Rechtsstaat gepaßt, sofern und soweit er in Paris als musterhaft - perfekte Maschinerie zu besichtigen gewesen war. ...
Ich wiederstehe der Versuchung, andere Glanzstücke dieses Maschinenparks vorzuführen, schließe die allgemeine Einleitung und versuche, die kritische Stimmung, in die ich meine geschätzte Leserschaft versetzt zu haben hoffe, auf einen speziellen Gegenstand zu lenken:
II. "Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden" (Art. 101 (1) GG); so hatte es schon 1877 in § 16 GVG, später auch im Art. 105 der Weimarer Reichsverfassung geheißen. 1949 war die Erinnerung an eine zwöfjährige Rechtsperversion, an den Berliner Volksgerichtshof, die NS-Sondergerichte, an Freisler & Konsorten noch frisch und lebendig: Der Sinn der Norm war evident, das wiedererstandene Gesetz eine Wohltat.
1. Inzwischen ist, unter den Händen höchstrichterlicher Rechtsprechung (nicht des Gesetzgebers, wie hier zur Ehre des sonst Vielgescholtenen angemerkt werden soll!), die Wohltat zur Plage geworden. Wer mit den Leiden der Strafverfahrenspraxis auch nur obenhin vertraut ist, weiß, daß die ihrer Substanz nach großartig-archaische Idee des gesetzlichen Richters im grauen Alltag längst jedes Pathos verloren hat. Die Idee hat sich verflüchtigt in endlose Bürokratie, ist verdorrt unter dem sorgenvollen Bemühen vieler Hände, das Herausfischen der richtigen Namen zum richtigen Zeitpunkt aus den richtigen Schöffenlisten - um Gottes willen! -, bloß richtig zu besorgen.
Mit seiner "Frankfurter Schöffen-Entscheidung" vom 21.09.1984 (BGHSt 33, 41) hatte der 2. Strafsenat des BGH die Schraube wiederum eine Windung schärfer angezogen, indem er ein dort praktiziertes (ohnehin schon fast unbegreiflich kompliziertes) Verfahren zur Schöffenbestimmung in Acht und Bann tat und ihm den rechtsstaatlichen Segen versagte:
"Die Entscheidung wirkte wie ein Schock, die Tagespresse hatte wieder ein Pannenthema. Strafkammer- und Schöffenrichter mußten Termine aufheben, konnten nicht terminieren, die Folge waren Stau und Stillstand ...", schrieb damals ein Frankfurter Beobachter (NStZ 1985, 83). Auch das Hamburger Landgericht, wo damals das Hell’s Angels-Verfahren anstand, und andere Großstadtgerichte wurden in die selben Turbulenzen hineingerissen. Daß der 2. Senat damals verfehlt, keinesfalls aber überzeugend richtig entschieden hat, steht (als "Blick in die Zeit" unseres leider früh verstorbenen Kollegen Lutz Jasper) in der MDR 1985, 110 zu lesen.
Der 2. Senat hat sich dann auch bald selbst bemühen müssen, in späteren Entscheidungen eine Art von Schadensbegrenzung zu treiben (BGHSt. 33, 126 und 33, 261; zutreffend die Kritik v. Knauth DRiZ 1984, 474). ...
2. Jetzt gibt es wieder etwas Neues zum Thema des "gesetzlichen Richters": Diesmal nicht vom BGH, sondern unter dem 8. April 1997 (1 PBvU 1/95) vom Plenum des BVerfG, - man möchte fast sagen: ihm höchstpersönlich! -, und wie es jedenfalls auf Anhieb scheint, diesmal nichts über Schöffen, sondern nur über Berufsrichter.
Der Spruch gilt für alle Gerichtsbarkeiten; und die meisten - die Zivilkollegen zumal - dürften nichts Aufregendes in ihm entdecken. Ich selbst indessen habe ihn mit den Augen eines Strafkämmerers gelesen und mache aus meinem Verdruß kein Hehl:
a) Den Inhalt der 18 Seiten kann ich für meine Zwecke dahin zusammenfassen, daß jede strafkammerinterne Geschäftsverteilung für überbesetzte Spruchkörper (das ist wegen § 76 (2) GVG neuerdings ein jeder, und wenn Halbtagskräfte dazugehören: umsomehr!) nur dann rechtens ist, wenn in ihr schon zu Jahresbeginn bestimmt worden ist, welcher Richter bei einer künftig eingehenden Sache an deren Hauptverhandlung teilnimmt. Diese Vorausbestimmung läßt sich nur treffen, indem jedem Richter und jeder Richterin Akten-Endnummern und nicht mehr - wie bislang als jedenfalls mitlaufendes Kriterium üblich - Sitzungstage zugewiesen werden.
Der Vorteil, den die Verhandlungsordnung nach Sitzungstagen (z.B.: "Sachen, die dienstags anfangen: A, B und C.; donnerstags: A, B und D") für die Kammer besitzt, nämlich die Handhabe, Belastungen gleichmäßig und gerecht zu verteilen (was sich hinter puren Nummern verbirgt, hat zuweilen höchst unterschiedliches Gewicht!), ist im Auge der hohen Verfassungsrichter gerade der Dorn:
Eine Geschäftsverteilung üblicher Art erlaubt (für wie anständig man die Vorsitzenden auch halten mag) "Manipulationen", ja macht sie schlechterdings erforderlich, weil, was nicht bis auf’s tz abstrakt festliegt, notwendigerweise von Menschhand arrangiert ("manipuliert") werden muß.
Demzufolge dürfen wir uns eigentlich nicht darüber wundern, daß wir im Plenarbeschluß (ebenso wie in der Divergenz-Vorlage des 1. Senats: NJW 1995, 2703) nach tatsächlichen Befunden oder praktischen Hypothesen vergebens suchen. Ob Schiebung und Mißbrauch wirklich vorgekommen sind oder als greifbare Gefahr drohen: davon kein Wort. Der Spruch erschöpft sich im begrifflichen Zirkel.
Man stelle sich vor, einer der Verfassungsrichter hätte den Inhalt des Beschlusses seinerzeit in Paris vortragen müssen: Nicht nur die notorisch pragmatischen Angelsachsen hätten diese seltsam-abstrakte Kreation deutscher Rechtsstaatlichkeit mit runden Augen bestaunt: "Encore une machine?"
b) Vielleicht darf ein Praktiker auf menschliches Verständnis hoffen, wenn er mit Knurren registriert, daß der geballten Hierarchie unseres höchsten Gerichts nichts Besseres eingefallen ist, als ohne Grund und Not Sand ins Gebriebe des Lebens zu schütten. Aber ist es darüber hinaus erlaubt, den Spruch auch rechtlich anzuzweifeln? Das mag einer Hochgebirgstour in dünner Luft gleichen, auf der man gut daran täte, sich an 100 klugen Fußnoten anzuseilen.
Dennoch - auch ohne Haken und Ösen ein paar Worte:
Strafgerichte sind ganz überwiegend eine Schöffengerichtsbarkeit - "eins zu zwei", "zwei zu zwei" und "drei zu zwei"; 1981 gab es in Westdeutschland 37.598 Schöffen, heute sind es insg. vielleicht 60.000. Schöffen sind Richter, Mitrichter, deren Stimme entscheidet: ohne ihr Votum fällt kein Schuldspruch (§ 263 StPO).
All’ diese Richter, deren Zahl die der Berufsrichter weit übertrifft, werden auf Sitzungstage bestellt. So schreibt es das Gesetz (§§ 43 ff. GVG) vor. Anders läßt sich - schon rein technisch - die Laienbeteiligung auch nicht organisieren. Den Schöffen Akten-Endnummern zuzuteilen, hieße nichts anderes,als ein absurdes Theater zu inszenieren und ein unregierbares Chaos anzurichten, an dessen Beschreibung allenfalls die Gerichtssatiriker ihren Spaß hätten. ... Man schüfe die Laienbeteilung dann lieber gleich ganz ab!
Das Verfassungsgericht verdammt also, wie oben gesagt, die gesetzliche Methode der Schöffenbestellung. Merkwürdigerweise wird diese Seite der Sache nicht nur nicht hervorgehoben, sondern ausdrücklich eskamotiert mit dem Satz, die Entscheidung könne sich auf die Heranziehung von Berufsrichtern beschränken, weil nur insoweit eine Divergenz zwischen den Senaten bestehe (S. 7 zu C. des Beschlusses). Natürlich ist das ein dünner Formaltrick, um einen sachlichen Zusammenhang zu zertrennen und der substanziellen Frage auszuweichen, wie das, was für die eine Sorte von Richtern verboten ist, bei der anderen gestattet bleibt.
In einem Satz: Solange das Gesetz (§§ 43 ff. GVG) gilt - und das bloße Stirnrunzeln des Verfassungsgerichts ändert daran keinen Deut -, ist die Bestellung auch der Berufsrichter nach Sitzungstagen rechtens.
c) Steigen wir aus der dünnen Luft des Rechts noch einmal hinab zur sozialen Wirklichkeit:
Berufsrichter sind durchweg "professionelle" Leute. Ob der Kammer-Kollege A oder Kollegin B in einer Sache "sitzt" - sitzen muß! -, ist generell, und aus der Sicht des Angeklagten zumal, ganz gleichgültig. Bei Schöffen kann es dann und wann schon einmal anders liegen: Da mag der Strafrichter wohl einen Blick auf die Schöffenliste werfen, um zu sehen, ob er die schwierige oder nervenbelastende Sache 16/97 mit einer Terminierung auf Donnerstag ... vielleicht den beiden alten Damen X und Y auf’s Auge drückt ...: "nein, das lieber nicht!", ...und es gibt hundert andere, durchaus legitime Gründe, den Zettel vorweg ruhig einmal anzuschauen.
Ich wiederhole es - überflüssigerweise, aber lieber einmal zu oft als zu wenig: Diese nur angedeutete Skizze gerichtlicher Alltagspsychologie besagt nicht, daß ich der Meinung wäre, die gesetzliche Praxis der Schöffenbestellung sei im geringsten anfrechtbar. Sie ist rechtsstaatlich, gesetzlich und höchst vernünftig. Mir liegt hier nur am Umkehrschluß: Wenn schon sie es ist, dann gelten die gesetzlichen Maximen für Berufsrichter nur umso mehr. Das Verfassungsgericht hat die Dinge also genau auf den Kopf gestellt. Wer bringt sie auf die Füße zurück?
Die Praxis wird sich mit der gefällten Entscheidung der verdrehten Welt irgendwie arrangieren und dieVernunft, die vorn hinausgeworfen worden ist, durch die Hintertür wieder hereinholen müssen. Das aber läuft auf eine Gerichtssoziologie en miniature hinaus, über die man klüglich den Mantel des Schweigens breitet.
Günter Bertram