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Ein Platz in Nafplion -
oder: Selbstregulierung nach Maximen
Urlaubsbetrachtungen aus dem letzten Sommer

Ein zentraler Platz in Nafplion, einer alten Stadt im Süd-Osten des Peloponnes gelegen. Ein von alten Häusern umgebener, von Restaurants, Cafés und kleinen Läden eingegrenzter und mit blanken Granitplatten ausgelegter Marktplatz. Irgendwo zwei Laternenpfähle und zwei rollbare Plastik-Müllbehälter. Handel, Dienstleistung, Vergnügen und Freizeit - alles wird hier zugleich betrieben und Generationen lernen, miteinander umzugehen.

Noch am Nachmittag schweigt die Stadt: viele Griechen schlafen in zwei Blöcken (nachmittags und nachts). Den ganzen Abend bis nach Mitternacht haben sie deshalb Zeit für aktives Leben. Während abends die Älteren noch betriebsam sind oder irgendwo schwatzend herumstehen, speisen und trinken andere in den Restaurants und Cafés der Stadt, also auch am Platz. Kinder, bis in den späten Abend auch kleine, und Jugendliche sind in großer Zahl dabei. Die Teens allerdings kaum. Ihnen ist alles hier vermutlich zu betulich. Die wenigen, die hier sind, flanieren über den Platz, wie auch Ältere und ein paar Touristen. Zur Stadtgesellschaft gehören ferner Hunde, oft herrenlose, zumindest frei herumlaufende.

Der nicht mit Auslagen der Läden oder mit Tischen und Stühlen der Gaststätten belegte Teil des Platzes gehört dem - im weitesten Sinne des Wortes - nicht ruhenden Verkehr, vor allem den Kindern. Ihre Utensilien: ein paar Bälle und viele Fahrräder. Die beiden beweglichen Mülleimer werden neben die Laternenpfosten gestellt, so daß zwei Tore entstehen. Die Mülleimer werden doppelfunktional. Zwischendurch, wenn das Fußballspiel Pause hat, kommt eine dritte Funktion hinzu. Sie eignen sich nämlich auch als Spielzeug für Kleinere, die sie über den Platz rollen. Keiner wird umgekippt oder beschädigt. Wenn dann das Fußballspiel wieder beginnt, werden sie problemlos wieder Torpfosten.

Die Fußballmannschaften bilden sich mehr oder minder ad hoc. Schiedsrichter gibt es nicht, wohl aber werden Fußballregeln befolgt, wenn auch etwas vereinfachte. An anderen Stellen des Platzes spielen die kleineren Kinder zu zweit oder dritt Fußball, ohne Tor, einfach so. Flanken und Schüsse der Großen wie der Kleinen verfehlen häufig ihr Ziel. Der Ball kullert in das Restaurant, er prallt gegen die Wand des archäologischen Museums, er wird von einem Kioskbesucher zurückgeschossen oder die Kinder holen ihn gerade noch ein. Auch die Hunde werden durch die Bälle nicht wirklich gestört, sei es bei ihrem Liebesspiel, sei es, wenn sie sich auf dem noch warmen Stein mitten auf dem Platz zum Schlafen legen. Ihr Schlaf wird respektiert. Zwischen allen, den Hunden, den Spaziergängern und Fußballspielern, toben Kinder mit Fahrrädern, einzeln oder in Gruppen. Für kurze Zeit kommt ein jüngerer Jugendlicher mit einem Artistenfahrrad und übt hochakrobatische Kunststücke. Niemals kollidiert er mit einem Fußgänger, Fußballspieler, Hund oder mit dem Baby, das von seiner fünf Jahre alten Schwester über den Platz geschoben wird. Die im Rund der Plätze aufgebauten Auslagen von Buchläden, Zeitungskiosken, Souvenirgeschäften und Juwelierläden bleiben merkwürdigerweise von den Schüssen, auch von den mißglückten, meist verschont.

Es ist durchaus laut auf dem Platz, aber beherrscht von fröhlichen Stimmen. Drei Abende war ich da. An keinem der Abende lauter Streit. Kein anhaltendes Weinen frustrierter Kinder. Kein Schimpfen genervter Eltern, keine Zurechtweisung durch Restaurant- oder Kioskbesitzer. Jeder toleriert jeden, jeder nimmt irgendwie Rücksicht - soweit das eigene Geschick es ermöglicht. Wenn das Geschick nicht reicht und der Ball doch zwischen die Restaurantgäste rollt, dann wird er lachend zurückgeworfen, ohne Belehrung durch den Kellner, beim nächsten Mal aber besser aufzupassen.

Auf diesem Platz, auf dem viele das machen können, was sie gerade wollen, lernt man eben ohne Belehrung. Formale Regeln, nach denen sich das Durcheinander richtet, sind nicht zu erkennen. Und doch ist die Selbstregulierung am Platz nicht anarchisch. Das Bestimmende scheint eine Maxime flexibler Toleranz zu sein, eine normative Daumenregel, die in ihrer Ausrichtung auf ein akzeptiertes Ziel und in ihrer pragmatischen Einsichtigkeit auch für das komplexe soziale Leben am Platz handlungssteuernd wirkt. Die Maxime für das flexible Tolerieren des an sich Nichtvereinbaren zielt auf eine ganzheitlich orientierte Situationsangemessenheit. Eindeutige und konkrete Verhaltensanweisungen enthält sie nicht.

Eine Regel wie "rechts vor links" würde bei dem Durcheinander der Radfahrer sinnlos sein. Nichts bewirken würde eine Regel, die den Fußballern gebietet, den Ball auf dem freien Platz zu halten. Die Regel, daß die den Platz überquerenden Fußgänger von den Fußballern "mit Vorfahrt" versehen werden oder umgekehrt, könnte ebenfalls keine angemessenen Ergebnisse erzielen - ganz abgesehen davon, daß eine solche Regel Überwacher fordert, deren Tätigkeit umgehend die unaggressive wechselseitige Toleranz in Anklagen und Rechtfertigungen verwandeln würde. Gerade weil die formalen Aufpasser fehlen, unterlaufen Mißgeschicke nicht als Folge der Angst vor Mißgeschicken.

Angst scheint niemand zu haben - weder vor den herumflitzenden Radfahrern noch vor den Kindern, noch vor den Kioskbesitzern. Dies schließt nicht aus, daß sie alle eine gewisse Autorität ausstrahlen, die zu respektieren sich im eigenen Interesse lohnt: die Autorität des schnellen, nicht sofort abbremsbaren Fahrrads; die Autorität des nur auf den Ball konzentrierten Stürmers; die Autorität des schlafenden Hundes; die Autorität des auf Schutz seines Eigentums bedachten Ladenbesitzers - sie alle scheinen Garanten der Funktionsweise defensiver Flexibilität zu sein. Dazu trägt umgekehrt auch die Autorität des zielstrebigen Fußgängers bei, der das Fußballspiel stören könnte, wenn die Stürmer und Verteidiger von ihm nicht Kenntnis nähmen, oder die Autorität des Mülleimers, der den Spaß am Spiel verderben würde, wenn er seine Dosen, Plastiktüten, Apfelsinenschalen und Flaschenreste auf das Feld verteilte. Es lohnt sich offenbar für alle, das Lebens- und Unterhaltungsrecht des anderen zu respektieren, allerdings nicht absolut, sondern in der Relativität, die von dem eigenen Unterhaltungs- oder Spaziergehwunsch ausgeht. Dies ist kein Platz des jeder gegen jeden. Dies ist ein Platz flexibler Selbstregulierung des jeden neben jedem.

An diesem Platz wird Leben in Gemeinschaft gelernt, nicht über fremdformulierte Regeln oder durch Aufpasser sanktionierter Regeleinhaltung. Jeder Beteiligte kennt auch gewisse Regeln. So natürlich die Fußballspieler die Regeln von Abseits, Einwurf und Tor. Aber diese segmenthaften Regeln sind nur ein Teil der Vorgaben, nach denen sich das Zusammenleben am Platz richtet. Die Spieler wissen von der Erfahrung, daß sie an diesem Platz nur weiterspielen können, wenn sie auch das Daseinsrecht der anderen respektieren. Dann aber müssen sie solche Verhaltensoptionen wählen, die verschiedene Aktivitäten gleichzeitig und am gleichen Platz ermöglichen. Die meisten Radfahrer sind zu klein, um schon Vorfahrtregeln zu kennen. Ein offener Platz eignet sich auch nur begrenzt zur Umsetzung der für enge Straßen und klarwinklige Kreuzungen produzierten Regeln. Ganz abgesehen davon würden sie den Spaß am Durcheinander - also gerade den speziellen Spaß, den das Durcheinander ermöglicht - zerstören. Aber die Maxime, daß niemand verletzt werden darf und daß auch der Radfahrer sich selbst nicht verletzen möchte, ist einsichtig und wird im Rahmen des Möglichen respektiert. Gleiches gilt für den Schutz der Kioskbesitzer und Kellner. Nur wie diese Schutzinteressen im konkreten Konfliktverhalten umgesetzt werden, das ist nicht vorherbestimmt: das muß situationsangemessen, letztlich ganzheitlich-intuitiv erfaßt werden.

Dieses Verhalten wird nicht durch Konditionalprogramme gesteuert, also Wenn-Dann-Sätze. Auch Zielvorgaben, also Finalprogramme, wären nicht hinreichend, da aus ihnen allein Verhaltensvorgaben für die Zielerfüllung nicht abgeleitet werden können. Die Lage ist so komplex, daß am ehesten Maximen steuernd wirken. Maximen engen den Optionenreichtum zwar ein, belassen aber einen Korridor für höchst unterschiedliche Handlungsoptionen im jeweils konkreten Fall. Optionenorientierte Maximen im Umgang mit multidimensionalen Konfliktsituationen wirken als Orientierungsmuster zur ganzheitlichen Problembewältigung. Ungeachtet ihrer Komplexität sind sie auch für Kinder leichter einseh- und handhabbar als die notwendig auf wenige Alternativen einengenden, durch Lernen erworbenen Regeln von Konditionalprogrammen. Die Verhaltensmaximen sind zwar relativ abstrakt, wegen der Einsichtigkeit der Zielsetzung und der praktischen Bewährung und damit Erfahrung im täglichen Umgang mit ihnen aber möglicherweise selbst für Kinder leichter erlernbar als konditionalprogrammierende Regeln.

Sanktionen für die Maximenverletzung gibt es auch. Sie werden von den in die Interessenkonflikte verwickelten Akteuren im Normalfall selbst verwaltet und sind dadurch in der konkreten Situation umgehend erlebbar. Das bei rechtlichen Regelungen übliche zeitliche und personelle Auseinanderfallen von Regelbefolgung bzw. Verletzung und Sanktion entfällt insoweit. Werden aber zugleich die vom Staat gesetzten Ordnungsregeln nachhaltig und ohne Abhilfemöglichkeit verletzt, so werden als letztes Sicherheitsnetz auch die Hüter der staatlich verwalteten Ordnung verfügbar sein. Nur: wer will das schon?

Für den Normalfall der tausend Kleinkonflikte in der jeweiligen konkreten Situation könnten besondere Regelaufpasser auch kaum Sinnvolles bieten. Sie würden mit ihrer Regelsubsumtion unbeachtet lassen müssen, daß es in den hochkomplexen Konfliktsituationen am Platz viele Optionen des flexibel-defensiven Problembewältigens gibt. Wollten sie gleichwohl die von ihnen bevorzugte Subsumtion durchsetzen, müßten sie über eine Definitions- und Subsumtionsherrschaft verfügen, die das relativ herrschaftsfreie Nebeneinander auf dem Platz zerstören würde. Ihre Sanktionsgewalt könnte auch in fast nichts anderem bestehen als in Verboten, denn Gebote bestimmten Verhaltens, die der komplexen Situation angemessen, also ganzheitlich formuliert sind und trotzdem auch von Kindern und Jugendlichen eingesehen werden, sind kaum vorstellbar. Verbote aber müssen sanktioniert werden, letztlich durch Ausschlüsse. Die Fußballspieler würden auf bestimmte Felder begrenzt mit der Folge, daß sie darauf bestehen werden, diese Felder ausschließlich nutzen zu dürfen; die Radfahrer würden auf Radwege oder Radspielflächen verbannt, würden dann aber auch ein Vorrecht auf diese beanspruchen. Den Kioskbesitzern würde auferlegt, ihre Stände weniger freizügig in den Raum hinein aufzustellen. Vielleicht würden die Restaurantbesitzer aufgefordert, die von den unzähligen Tischen und Stühlen belegte Fläche zu reduzieren, aber eher doch wohl nicht, da dies ihr Geschäft beeinträchtigen würde, ein Schutzgut, das bei der Güterabwägung beste Chancen hätte, ein Vorrecht vor dem Spaß am Spiel zu erhalten.

Am Ende würde es vermutlich so ordentlich zugehen wie auf den meisten deutschen Marktplätzen: dort spielt niemand regelmäßig Fußball, dort flitzen keine Kinderfahrräder endlos herum, dort stehen keine mobilen Mülltonnen, die sich als Torpfosten eignen. Dort gibt es für fast alles Regeln und viele sorgen dafür, daß diese meist befolgt werden.

In Nafplion auf dem Platz lernt man auch Ordnung, und zwar eine durch die Lebensweisheit des flexibel-defensiven Miteinander-Umgehens geprägte. Sicherlich haben Staat und Gemeinde auch dort viele rechtliche Regeln erlassen. Viele von ihnen werden wohl auch am Platz befolgt. Aber die Ordnung des sozialen Miteinanders beruht nicht in erster Linie auf ihnen. Es ist eine Ordnung sozialer Selbstregulierung, gestützt auf Maximen des pragmatischen Miteinander und motiviert durch viele Optionen für Verhalten. Auch diese Ordnung ist nicht reibungslos. So wird es auch Abende geben, an denen unter den Kindern Streit herrscht und ein Ladenbesitzer wütend wird, weil ein Ball mehrere Postkarten beschädigt hat. Sicherlich wird auch einmal jemand zu Fall kommen und sich verletzen. Das aber wird niemand veranlassen, sofort neue Regeln aufzustellen.

Was vor allem überrascht, ist das Fehlen erkennbarer Aggressivität. An die Stelle treten Lebens- und Bewegungsfreude und die damit verbundenen, durchaus auch eigennützigen Maximen wechselseitiger Rücksichtnahme. Besonders überrascht es, wie sorgsam mit den beiden Mülleimern umgegangen wird. Keiner ist beschädigt, obwohl an dem Ausbleichungszustand erkennbar ist, daß sie schon einige Zeit auf dem Buckel haben. Graffiti gibt es an dem Platz keine. Allerdings entspricht die Stadt keineswegs deutschen Idealen des Zusammenlebens. So lärmen bis spät nach Mitternacht die Lautsprecher aus Diskotheken und Privathäusern und frisierte Mofas, Motorroller und Motorräder jagen mit schlafraubendem Lärm durch die Gassen. Auch ist die Stadt so arm, daß viele der schönen, viele Jahrhunderte alten Häuser verfallen. Vermutlich entsprechen auch nicht alle Küchen und Restaurants mitteleuropäischen Hygienestandards. Die Bürgersteige sind keineswegs in einem amtshaftungssicheren Zustand. Wer über ein Loch im Gehweg stolpert und seine Knöchel verletzt, wird vermutlich nicht auf ein ähnlich reichhaltiges Arsenal an Sanktionen für Verkehrssicherungspflichtverletzungen und auf das dichte System sozialer Krankenversicherung zurückgreifen können wie der Deutsche, wenn dieses Mißgeschick ihm am Marktplatz unterläuft. Wäre dort einmal ein Loch im Bürgersteig, voraussichtlich würden sich erheblich mehr Deutsche verletzen als Griechen auf ihren Bürgersteigen mit hochgebrochenen Platten, schiefen Steinen und abgesackten Kanten.

Daß das Leben in Nafplion nicht lebenswert ist, dieser Eindruck drängt sich nicht auf, jedenfalls nicht auf seinem zentralen Platz. Das Motto hier scheint zu sein: gesellschaftliche Selbstregulierung bringt Spaß und macht lebenstüchtig. Vor allem aber: sie funktioniert, jedenfalls zur Bewältigung solcher Konflikte, wie sie das tägliche Durcheinander am Platz produziert.

Wolfgang Hoffmann-Riem