"Am 1.9.96 tritt die Verfassungsreform in Kraft. Die Beratungen in der
Bürgeschaft sind von der Presse leider nur unvollkommen begleitet
worden. Es gab nur Berichte über Detailfragen oder Nebenschauplätze
wie z.B. über die Residenzpflicht der Verfassungsrichter. Da ich in
der Enquete-Kommission "Parlamentsreform" den stellvertretenen Vorsitz
hatte, war ich an einer Gesamtschau des "Werkes" interessiert. So habe
ich einige Gedanken zur Hamburger Verfassungsreform aufgeschrieben. Vielleicht
könnten sie der Unterrichtung der Kollegen am Sievekingplatz dienen".
Wir kommen der Anregung gern nach. Hier ist sein Beitrag:
Gedanken zur Hamburger Verfassungsreform
Von Verfassungsgerichtspräsident a.D. Professor Dr. Walter Stiebeler
Nachdem die Enquetekommission "Parlamentsreform" ihren Abschlußbericht
im Oktober 1992 vorgelegt hatte, begann die Umsetzungsphase, mit welcher
der bürgerschaftliche Verfassungsausschuß 3 1/2 Jahre beschäftigt
war. Das jetzt vorgelegte Produkt seiner Arbeit, das die Bürgerschaft
inzwischen beschlossen hat und das am 1. September d.J. in Kraft tritt,
vermittelt unterschiedliche Eindrücke: Fortschrittliche Weiterentwicklung
der Verfassung, Beharren auf einem Status quo und bedauerliche Fehlentwicklungen.
Zunächst zu den positiven Seiten, welche den Status der Abgeordneten
und des Parlaments betreffen.
Mit dem Wegfall der Ehrenamtlichkeit der Abgeordnetentätigkeit
wird keine Festschreibung eines Leitbildes des Abgeordneten verbunden.
Vielmehr kann die Arbeit künftig auch hauptberuflich ausgeübt
werden. Die Vergütung dafür bleibt allerdings erheblich hinter
der Empfehlung der Enquetekommission zurück. Diese wollte DM 6.800,--
(zu versteuern) gewähren. Die Bürgerschaft hat DM 4.000,-- (zu
versteuern) festgesetzt. Die Präsidentin erhält den dreifachen
Betrag, ebenso Fraktionsvorsitzende; Vizepräsident und einige Funktionsträger
erhalten den zweifachen Betrag.
Zu den begrüßenswerten Neuregelungen gehört weiter
die Präzisierung des Immunitätsrechts der Abgeordneten, die Überleitung
des Bestimmungsrechts über den Wahltermin zur Bürgerschaft vom
Senat auf die Bürgerschaft selbst und die Beendigung des sogenannten
ewigen Senats (mit Zusammentritt der neuen Bürgerschaft endet die
Tätigkeit des Senats). Ferner werden alte Zöpfe abgeschafft,
so der Bürgerausschuß (ein kleines Schnellparlament) und der
Beamtenernennungsausschuß.
Besonders erwähnenswert ist die Gewährung einer Volksgesetzgebung
in drei Stufen (Volksinitiative - Volksbegehren - Volksentscheid).
Die zweite positiv zu beurteilende Regelungsebene betrifft die Regierung
und dort besonders deren Spitze.
Nur der Erste Bürgermeister ist fortan durch die Bürgerschaft
zu wählen. Er erhält die Kompetenz, die Richtlinien der Politik
zu bestimmen, und er ernennt und entläßt die Senatoren und nicht
mehr die Bürgerschaft.
Leider hat sich die Bürgerschaft der Empfehlung der Enquetekommission
verschlossen, die anschließende Bestätigung des ganzen Senats
(nicht mehr einzelner Senatoren) durch die Bürgerschaft in offener
Abstimmung vorzunehmen. Nach der Entschließung der Bürgerschaft
soll es bei der alten Geheimniskrämerei bleiben. Die Enquetekommission
wollte verhindern, daß in der entscheidenden Kreationsphase der Regierung
"U-Boote" unzufriedener oder gar frustrierter Abgeordneter der eigenen
Couleur den Akt torpedieren können.
Der Stärkung der Regierung steht aber auch eine Schwächung
gegenüber. Die Tätigkeit des Senats im Gesetzgebungsverfahren
als rudimentäre zweite Kammer entfällt. Gegen Gesetzesbeschlüsse
der Bürgerschaft kann der Senat keinen Einspruch mehr einlegen. Der
entsprechende Art. 50 wurde gestrichen. Dies entspricht der Empfehlung
der Enquetekommission.
Auch wird der Senat etwas mehr an die Leine der Bürgerschaft genommen.
Durch einen neuen Art. 32 a - Schaffung von detaillierten Informationspflichten
des Senats für die Bürgerschaft. Schließlich gehört
zu den positiven Seiten des Werkes eine Verbesserung der Repräsentation
von Frauen innerhalb der Staatsgewalt mit einer allgemeinen Förderungspflicht
(Art. 3 Abs. 2) und schließlich die Herabsetzung der Minderheitsantragsquoten
von einem Viertel auf ein Fünftel der Abgeordnetenzahl (mit Ausnahme
bei der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen).
Bei den Status quo-Regelungen fängt das Bedauern darüber
an, daß die Bürgerschaft nicht bereit war, Schritte in die Zukunft
zu tun. Das gilt insbesondere für die Ablehnung eines dualen Wahlsystems
mit Elementen der Verhältniswahl und der Mehrheitswahl durch Einrichtung
von Wahlkreisen. Da die CDU-Abgeordneten für eine solche Neuregelung
nicht zu gewinnen waren, verzichteten die übrigen Parteien, die durchaus
bereit waren, Wahlkreise zu errichten, auf eine solche Regelung, die keiner
Verfassungsänderung bedurft hätte.
Zu mißbilligen ist die Beibehaltung der Abgeordnetenzahl von
121 in der Bürgerschaft. Die Enquetekommission hatte eine Herabsetzung
auf 101 empfohlen. Immerhin entfällt in Hamburg auf nur 1.300 Einwohner
1 Abgeordneter. Im Durchschnitt der Bundesländer entsendet etwa die
doppelte Anzahl von Einwohnern einen Abgeordneten.
Die Verkleinerung der Bürgerschaft wäre auch aus einem anderen
Grund dringend geboten gewesen: Wenn der Staat den beiden anderen Gewalten
eine Schrumpfung verordnet (Stichworte: Sparpolitik, schlanker Staat, schlanke
Verwaltung, schlanke Justiz), so ist nicht nachzuvollziehen, daß
die Bürgerschaft sich der Forderung nach einer schlanken Bürgerschaft
verweigert.
Völlig unverständlich ist die Beibehaltung des sogenannten
ruhenden Mandats in Art. 38 a. Während der Amtszeit eines Senators
ruht sein Bürgerschaftsmandat, und ein anderer Bewerber auf der Kandidatenliste
tritt an seine Stelle. Besser würde diese Regelung als "hüpfendes"
Mandat zu bezeichnen sein, denn das Wechseln kann mehrfach hin- und hergehen,
je nachdem, wie häufig ein Abgeordneter zum Senator bestellt wird.
Die Enquetekommission hatte wegen der verfassungsrechtlichen Bedenken (Verstoß
gegen Bundesrecht - Unmittelbarkeit und Gleichheit der Wahl sind nicht
gewahrt - (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG)) eine Streichung empfohlen. Auch bei
der Anhörung Sachverständiger im Verfassungsausschuß der
Bürgerschaft waren erhebliche Bedenken gegen die Aufrechterhaltung
der Vorschrift geäußert worden. Gleichwohl hat die Bürgerschaft
eine verfassungswidrige Vorschrift beibehalten.
Im übrigen hatte die Enquetekommission eine Verlängerung
der Wahlperiode auf 5 Jahre vorgeschlagen; darin steckte auch ein Spareffekt.
Die Bürgerschaft ist dem nicht gefolgt. Schließlich hatten auch
die Rechte der Oppositionsfraktionen erweitert werden sollen durch Erwähnung
der Chancengleichheit in dem Art. 23 a. Auch diesem Wunsch ist die Bürgersschaft
nicht gefolgt.
Es bleibt ein Rest: Die negativen Seiten der Neuregelung.
Dazu gehört einmal die sogenannte Volkspetition (neuer Art. 25
c), eine Art Sammelpetition mit mindestens 10.000 Einwohnerunterschriften.
Zu dem Bericht der Enquetekommission hatte ich ein Minderheitsvotum abgegeben
und gesagt: "Ich warne dringend vor der Einführung eines solchen Instituts
in Hamburg. Ich halte die Regelung einer dahingehenden Form der Massenpetition
für verfassungsrechtlich überflüssig und in der konkreten
Ausgestaltung für politisch schädlich, weil die Grenzen zum Demonstrationsrecht
in nicht sinnvoller Weise verwischt werden."
Dazu stehe ich auch heute noch.
Die das Hamburgische Verfassungsgericht betreffenden Regelungen verbinden
eine gute mit einer schlechten Nachricht. Die gute zuerst: Die Erweiterung
der Zugangsregelung zum Hamburgischen Verfassungsgericht um die sogenannte
Organstreitigkeit, also einen Streit unter Prozeßparteien (Senat,
Bürgerschaft, Abgeordnete u.a.) in der Verfassung ergänzt die
durch Richterrecht gefundene Rechtsprechung des Hamburgischen Verfassungsgerichts,
die bisher für solche Parteien, die nicht das Antragsquorum von ¼
der Abgeordneten erfüllten, den Weg nach Karlsruhe bedeutet hatte.
In meiner Amtszeit ergab sich leider nicht die Möglichkeit, im Kollegium
des Verfassungsgerichts die Frage zur Entscheidung zu stellen, ob das Einviertelquorum
überhaupt für Organstreitigkeiten zu gelten hatte.Schließlich
ist auch die Schaffung einer Zuständigkeit des Verfassungsgerichts
für die Volksgesetzgebung zu begrüßen.
Die schlechte Nachricht ist die Aufhebung der Amtsidentität des
Präsidenten des Verfassungsgerichts mit dem Oberlandesgerichtspräsidenten.
Alle Verfassungsrichter, also auch der Präsident, sollen jetzt von
der Bürgerschaft mit einfacher Mehrheit auf 6 Jahre gewählt werden.
Die Enquetekommission hatte dazu immerhin eine Mehrheit von zwei Dritteln
der Stimmen verlangt. Ich halte diese Lösung nicht für eine Stärkung
der Dritten Gewalt in Hamburg, auch wenn sichergestellt ist, daß
der zu wählende Präsident ein Berufsrichter sein muß (anders
z.B. in Berlin, siehe den heftig kritisierten Honnecker-Beschluß).
Die alte hanseatische Tradition (schon nach der Verfassung von 1921
war der Oberlandesgerichtspräsident geborener Vorsitzender des Staatsgerichtshofs)
- die überdies kostengünstig war - sollte nur dann geändert
werden, wenn die Vorteile einer neuen Regelung überwiegen. Solche
Vorteile sind nicht ersichtlich; im Gegenteil, die Nachteile überwiegen.
Eine Wahl des obersten Richters durch die Bürgerschaft gibt die Position
des Verfassungsgerichtspräsidenten in den Strudel möglicher politischer
Auseinandersetzungen. Wenn auch der Senat das Vorschlagsrecht bekommen
soll, ist zu befürchten, daß die Verständigung unter den
Parteien auf einen Kandidaten nach dem sogenannten kleinsten möglichen
Nenner erfolgt. Daß dies für eine so bedeutsame Aufgabe dienlich
ist, möchte ich bezweifeln.