Der Spruch des römischen Militärtribunals vom 2. August d.J.
- "schuldig, aber wegen Verjährung straflos" - ist mit öffentlichem
Zorn, mit Bitterkeit, Enttäuschung und allgemeiner Betroffenheit quittiert
worden: "Schandurteil!", so hieß es in Italien und anderswo, auch
bei uns in Deutschland.
Der Angeklagte, vom Gericht gerade auf freien Fuß gesetzt, wurde
schnell erneut in "provisorische" Haft genommen (um ihn vor dem Volkszorn
zu schützen), wie später bestätigt wurde - aus offenbar
unterschiedlichen Gründen, auch in Erwartung eines Bonner Auslieferungsersuchens
an Italien in gleicher Sache.
1. Der Sachverhalt sei kurz rekapituliert:
Priebke hatte am 24.03.1944 in den Fosse Ardeatine (Tuffsteinhöhlen
südlich von Rom, nahe den Katakomben) als SS-Hauptsturmführer
(Hauptmann) an der Erschießung von 335 italienischen Geiseln, Gefängsnisinsassen
und Juden teilgenommen. Diese Aktion war von der deutschen Besatzungsmacht
als Vergeltung dafür angedroht worden, daß am Vortag italienische
Partisanen einen Bombenanschlag in der römischen Via Rasella verübt
hatten, durch den 33 Angehörige einer Polizeieinheit (aus zwangsverpflichteten
Südtirolern) getötet und viele Soldaten verwundet worden waren.
Die Attentäter meldeten sich nicht (später ließen sie erklären,
deutsche Repressalien hätten durchaus in ihrem Kalkül gelegen,
weil diese die Wut der Römer auf die Besatzungsmacht steigern mußten),
und der Geiselmord fand statt.
Priebke, damals 30 Jahre alt, war für Sicherheitsaufgaben in der
italienischen und päpstlichen Hauptstadt zuständig. Sein damaliger
Vorgesetzter, der SS-Sturmbannführer Kappler, wurde nach dem Kriege,
am 20. Juli 1948, wegen des "Blutbads der Fosse Ardeatine" zu lebenslangem
Zuchthaus verurteilt, ausweislich der Urteilbegründung genauerhin
deshalb, weil er, entgegen der damaligen Vergeltungs-Arithmetik "1:10",
fünf Menschen zuviel habe umbringen lassen (weitere Einzelheiten der
Verfahren berichtet Prof. Herde: Italiens Gerichtsbarkeit 1948, 1954 und
1996, FAZ v. 14.08.1996).
Kapplers Untergebener Priebke war im November 1995 von Argentinien
an Italien ausgeliefert worden; der Prozeß, während dessen er
eisern schwieg, hatte im Mai 1996 begonnen. Jetzt - nach dem Urteil 1.
Instanz - kündigt die Bundesrepublik, wie gesagt, ihr Auslieferungsgesuch
an: laut und medienwirksam.
2. Der Fall hat die Gemüter bewegt; er beschäftigt sie noch:
Der Spruch habe alte Wunden wieder zum Bluten und Schande über Italien
gebracht. Aber auch aus den Worten des vehement gescholtenen Gerichtsvorsitzenden
Agostino Quistelli:
"Wenn ihr den Kopf von Priebke wollt, nehmt ihn euch. Wenn jedoch die
Straße entscheidet, sind wir nicht mehr in einem Rechtsstaat, sondern
einem totalitären, mittelalterlichen Regime"
spricht vibrierende Erregung und eine geradezu literarische Dramatik.
Jeder muß sich seinen eigenen Vers auf die Berichte machen; in
FAZ und ZEIT kann man, wie häufig, genau Konträres lesen: "Ein
herausforderndes Urteil - Über die Frage der Verjährung von Verbrechen"
(FAZ 3.8.96); "Schuldig straflos - Freispruch für Priebke: Die römische
Militärgerichtsbarkeit bleibt sich treu" (ZEIT v. 9.8.96).
Ich möchte dieses Mitteilungsblatt nicht zweckentfremden, indem
ich meine persönliche Ansicht ausbreite. Auch will ich die offenbar
etwas diffizile Frage nicht weiter behandeln, ob einer Auslieferung Priebkes
nach Deutschland vielleicht rechtliche Hürden entgegenstehen. Wie
es heißt (FAZ v. 6.8.96: Bonn rechnet vorerst nicht mit Prozeß
gegen Priebke in Deutschland), ergeht sich das BMJ seither in emsiger Prüfung
von dergleichen Fragen. Immerhin kommt unlängst Prof. Fastenrath (Dresden)
zu dem Schluß, der Satz "ne bis in idem" stünde einer hiesigen
Neuverhandlung letztlich nicht entgegen, weil der Fall in Rom (dortige
Rechtskraft, die z.Zt. aussteht, vorausgesetzt) zwar formal entschieden,
aber nicht im Sinne der maßgeblichen Auslieferungsabkommen sachlich
"abgeurteilt" worden sei (FAZ vom 10.08.96: Wenn Bonn um Auslieferung nachsucht).
Das mag hier auf sich beruhen. Jedenfalls gibt es keinen rechtlichen Zwang
für eine deutsche Staatsanwaltschaft, auf eine Auslieferung zu drängen.
Nach § 153 c (1) 1 StPO dreht es sich um eine reine Ermessensentscheidung.
3. Ich möchte durch den juristischen Sand in tiefere Schichten
hinabstoßen und mich selbst und meine Leser fragen:
Haben wir - hat Deutschland - einen vernünftigen, zumal einen
politisch-moralischen Grund, sich für diese Auslieferung ins Zeug
zu legen?
Das Blutbad in den Tuffsteinhöhlen von Rom war sicherlich ein
Kriegsverbrechen - eine Untat, wie sie (Gott sei es geklagt: offensichtlich!)
immer wieder, seit die Erde steht und Menschen auf ihr wohnen, vollbracht
werden. Verbrechen! - keine akzeptierten Kriegsführungsakte, aber
doch solche Verbrechen, wie sie mit der blutigen, allgemein verrohenden
Prozedur des Krieges erfahrungsgemäß immer wieder verknüpft
sind. Nach der - vielleicht ja anfechtbaren - Meinung des italienischen
Gerichts im Kapplerverfahren vor 50 Jahren hätte noch nicht einmal
ein Verbrechen, sondern ein noch erlaubter Kriegsakt vorgelegen, wenn nur
fünf Menschen weniger von den Deutschen umgebracht worden wären.
Alle Völker und Staaten dieser Erde breiten über ihre Kriegsverbrechen
(wenn sie dergleichen überhaupt später verfolgen, was keineswegs
die Regel ist; zuweilen werden die Untaten heroisiert, und der Täter
bekommt sein Denkmal) irgendwann, meist bald, den Mantel der Amnestie,
des Schweigens und Vergessens. Kriegsverbrechen und allgemeine Kriminalität
pflegt man hinsichtlich der Täter (nicht der Opfer: für deren
Leiden gibt es keinen Unterschied) mit guten Gründen auseinanderzuhalten.
Die Staaten untereinander tragen sich ihre wechselseitigen Kriegsverbrechen
nicht ewig nach - klugerweise nicht, denn hier droht wie nirgends sonst
die Replik:
"tu quoque!" ("du auch ...!").
"Aber Priebke war schließlich SS-Führer: Nazi; unter den
Opfern waren Juden ..., und für Nationalsozialistische Gewaltverbrechen
(NSG) gelten nun einmal andere, besondere Maßstäbe!".
Das hört und liest man zum Fall Priebke immer und allenthalben.
Aber das wird durch Wiederholung nicht richtiger, sondern bleibt ein grobes
Mißverständnis:
Die nazistischen Massenmorde: die Salven vor den Erschießungsgruben
der Einsatzkommandos, die Schlächtereien bei "Aussiedlungen", die
Gaskammerverbrechen und viele, viele weitere satanische Scheußlichkeiten
einer Zeit, in der Hitler, Himmler, Heydrich & Konsorten unter dem
Deckmantel und im Schutz des Krieges im riesigen Maßstab das betreiben
ließen, was man heute unter dem üblen Begriff der "ethnischen
Säuberungen" wieder kennenlernt - sie also hat man mit gutem Grund
als crimes against humanity ("Menschheitsver-brechen", nicht "Verbrechen
gegen die Menschlichkeit", wie eine lächerliche Übertragung ins
Deutsche lautet, die Hannah Arendt so treffend als "understatement des
Jahrhunderts" ironisiert) oder eben als "NSG" von der allgemeinen Kriminalität
zu unterscheiden gesucht:
Mit ernsten, gewichtigen Gründen. Die großen Verjährungsdebatten
der Jahre 1965, 1969 und 1979 haben (freilich neben einem gerüttelten
Maß außenpolitischem Opportunismus’) das Ringen des Parlaments
mit den rechtlichen, moralischen, tatsächlichen und politischen Problemen
vorgeführt, die mit dieser Differenzierung: der Verschärfung
der Maßstäbe für NSG verknüpft waren. Damit just diese
Straftaten auch praktisch verfolgt werden konnten, wurde 1958 die "Zentrale
Stelle" in Ludwigsburg, dafür wurden desgleichen fachkundige Spezialstaatsanwaltschaften
der Länder eingerichtet: auch die Dortmunder, die jetzt in Sachen
Priebke dem Bonner Justizministerium zuarbeitet.
Ich selbst habe mich jahre- und jahrzehntelang (als Landgerichtsrat
im Schwurgericht, als Untersuchungsrichter, Schwurgerichts- und Kammervorsitzender)
mit der besonderen Materie "NSG" zu beschäftigen gehabt - was mir
eine ziemlich genaue Vorstellung von dem verschafft hat, wovon hier und
jetzt zu reden ist.
Daß es im rechtlichen Getriebe zuweilen knirscht, habe ich vor
20 Jahren anläßlich eines Urteils zu Papier gebracht (NJW 1976,
1756), das übrigens BGH und BVerfG je zweimal beschäftigt hat
(BGH NJW 1977, 1544; BVerfG NJW 1978, 151; BGH NJW 1978, 1338; BVerfG NJW
1980, 1943). Eine Schlußbilanz, die offene Fragen nicht verschweigt,
habe ich vor 10 Jahren in einer Hamburger Historiker-Festschrift (für
Werner Jochmann, 1986) aufzumachen versucht. Aber alle Problematik, alle
Fragen der Gerechtigkeit und Gleichheit, der individuellen Schuld und persönlichen
Verstrickung haben mich an Legitimität und innerer Vernunft des Tagewerks
(soweit es sich um unsere Fragen drehte) letztlich und im Ergebniss nicht
zweifeln lassen.
Trotzdem - nein: gerade deshalb! - registriere ich mit Ärger und
Groll, wie leichtfertig nunmehr der Fall Priepke - dieses typische Kriegsverbrechen!
- ahnungslos, aber beflissen in den falschen Topf geworfen wird. Daß
es ein Kriegsverbrechen war, kein NSG, sollte nach dem hier Gesagten als
unstreitig gelten. Unnötig zu sagen, daß weder der Rang des
Täters als SS-Führer noch der Umstand, daß unter den Opfern
Juden waren, an dieser Sachlage einen Deut ändern.
Allerdings hat diese Vermischung und Verwischung Tradition: Schon der
große Nürnberger Prozeß gegen Göring und Spießgesellen
wurde am 20. November 1945 feierlich als "Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher"
eröffnet, ist dann als solcher in die Geschichte eingegangen und nicht
zuletzt wegen seiner miserablen Etikettierung um einen Teil des Kredits
gebracht worden, den er trotz aller Mängel verdiente.
Aber auch die Adenauerregierung hat mit dergleichen Begriffsverwirrung
- in sozusagen umgekehrter Richtung - Schindluder getrieben: Sobald die
Westalliierten in den 50er Jahren wegen ihres Wunsches nach Aufstellung
westdeutscher Streitkräfte erpressbar geworden waren, brach sich hier
das lärmende Begehren nach der Begnadigung "sogenannter Kriegsverbrecher"
Bahn, und darunter wurden ausdrücklich auch schwerstbelastete, von
den Amerikanern zum Tode verurteilte Einsatzgruppen-Führer, also wirkliche
Massenmörder verstanden. Einer Vielzahl von ihnen wurde daraufhin
die Freiheit gewährt, und es war dann eine schaurig-groteske Zumutung
für die deutschen Schwurgerichte, diese Leute, die nun persönlich
"immun" geworden waren, in den Hauptverhandlungen gegen ihre früheren
Untergebenen als Zeugen aufmarschieren zu sehen (Näheres z.B. bei
Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, 1982 S. 127 ff.).
Ob es wohl einen einzigen NS-Prozeß gegeben hat, in dem die Verteidigung
das Argument ausgelassen hätte, der Angeklagte habe als Soldat gehandelt,
habe unter den harten Reglements des Krieges gestanden, nur seine Pflicht
getan usw.: Verbrechen ? - vielleicht, dann aber eben "nur" Kriegsverbrechen!
Deshalb habe ich mich oft veranlaßt gesehen, in der Urteilsbegründung
daran zu erinnern, daß die Massenverbrechen z.B. im Generalgouvernement
(Polen) zwar unter Ausnutzung des Krieges und in seinem Schatten veranstaltet
worden seien, aber nie und nimmer als Akte der Kriegsführung (die
Massentransporte, Aussiedlungen, Massenliquidierungen und dergleichen hatten
im Gegenteil - schon rein logistisch - schwere Beeinträchtigungen
der deutschen Kriegsführung im Gefolge) ...
Prof. Herbert Jäger hat in alten und neuen Publikationen unermüdlich
und verzweifelten Ernstes den fundamentalen Unterschied zwischen NS- und
Kriegsverbrechen herauszuarbeiten gesucht (vgl. z.B. Verbrechen unter totalitärer
Herrschft, 1967: Krieg und Genocid, S. 329 ff.).
Aber, wie der Fall Priebke zeigt, vergeblich:
Eine Strafverfolgungsbehörde, von der man eigentlich besondere
Sachkunde erwarten darf, und das BJM selbst ziehen - ahnungslos oder beflissen?
- die völlig falsche Flagge auf. Wenn das am grünen Holze passiert,
wessen muß man sich dann im dürren Geäst allgemeinen Medienbetriebs
versehen?
"Nun zeigen wir den Italienern, wie man Vergangenheit richtig bewältigt!
...".
Beim Kaiser Wilhelm II hieß der Spruch:
"Denn es soll am deutschen Wesen, einmal noch die Welt genesen!"
Ach nein: davon wird sie die Nase bald voll haben.
Günter Bertram