Nach der Polenfahrt im Mai 1993, über die Raimund Kniep für
die beteiligten 9 Kolleginnen und Kollegen berichtet hat (MHR 3/93), und
dem Gegenbesuch von 10 polnischen Richterinnen und Richtern im Juni 1994
(MHR 3/94) machte sich am frühen Morgen des 2. Juni vom Parkplatz
des Hanseatischen Oberlandesgerichts eine ungleich größere,
27 Köpfe zählende Gruppe mit dem Reisebus der Firma mit dem beziehungsreichen
Namen Dornblüth auf den weiten Weg. Und diese strapaziöse 18
Stunden dauernde Fahrt mit dem Bus (entsprechendes zurück) war gleichsam
der dornige Teil der ansonsten in jeder Hinsicht gelungenen ("blütenreichen")
Begegnungs- und Studienreise.
"Polen hat, um das zu erwähnen, bereits eine Art europäisches
Festlandsklima, was sich, unter anderem durch ein heißes und trockenes
Hochsommerwetter auszeichnet", so erzählt die Heldin Gittie Marczinkowski
im 1974 erschienenen Roman des DDR - Autors Rolf Schneider "Die Reise nach
Jaroslaw". Und auch weitere Feststellungen aus diesem Buch, das für
manche eine Art Kultbuch wurde, fanden sich auf unserer Reise bestätigt.
Zum Beispiel dieses, daß es etwas anderes ist, ob man Dinge dieser
Art bloß aus Büchern oder in der Schule erfährt, oder ob
sie einem gewissermaßen lebendig gegenüberstehen. "Ich wußte
natürlich, daß sie trotzdem ungeheuer vergangen waren, aber
sie waren es plötzlich irgendwie auch wieder nicht". So ähnlich
erging es uns im Konzentrationslager Majdanek bei Lublin oder auch im Rathaus
der wunderschönen Renaissancestadt Zamosc, als von den während
der Okkupation nach Deutschland verschleppten Kindern und der Umbenennung
der Stadt in "Himmlerstadt" die Rede war. Dabei war es, um Mißverständnissen
vorzubeugen, keinesfalls die Absicht unserer polnischen Gastgeber, uns
mit den Schrecken der Vergangenheit zu konfrontieren. Der Präsident
des Stadtrats ging erst auf unsere Nachfrage auf das bedrückende Schicksal
der "Kinder von Zamosc" (in Polen ein Begriff für eines der düstersten
Kapitel der Besatzungszeit) ein. Vorher hatte er lebhaft und positiv über
die guten Beziehungen zu der deutschen Partnerstadt Schwäbisch-Hall
berichtet und auch darüber, daß erfolgreich versucht werde,
die Spannungen zum Nachbarland Ukraine durch kulturelle Begegnungen und
Jugendaustausch im Rahmen einer Städtepartnerschaft zur Stadt Lvov
(Lemberg) abzubauen. Dieser eindrucksvolle Repräsentant der Stadt
stammt in direkter Linie von dem Stadtgründer Jan Zamoyski (1542 -
1605) ab, seinerzeit "Kronkanzler", also hochrangiger Politiker und darüber
hinaus Kunst- und Italienfreund, wovon der Große Markt mit dem Rathaus,
den reich verzierten Bürgerhäusern und den Arkaden zeugen. Die
UNESCO nahm Zamosc 1992 in das Verzeichnis des Weltnatur- und Kulturerbes
auf.
Höhepunkte unserer von den Gastgebern vorzüglich vorbereiteten
Reise waren der Besuch im Sejm, wo uns die Vizepräsidentin des Senats,
Frau Prof. Kuratowska, begrüßte, die als junge Frau im Untergrund
gegen die deutsche Okkupationsmacht kämpfend sich nicht hätte
träumen lassen, daß sie einmal - so wörtlich - so viele
deutsche Freunde haben würde.
Weiter ist zu nennen der Empfang durch die Präsidentin der Nationalbank,
Frau Prof. Gronkiewicz-Waltz, die in fließendem Englisch den Eindruck
eines energischen und erfolgreichen Umsteuerns des Bankensystems auf marktwirtschaftliche
Verhältnisse vermittelte.
Im Verfassungsgericht erhielten wir (auf deutsch) einen instruktiven
Vortrag über die Geschichte und Bedeutung dieses höchsten polnischen
Gerichts. In Polen gibt es noch nicht die Einrichtung der Verfassungsbeschwerde,
auch wird die Wirksamkeit der Urteile des Verfassungsgerichts dadurch relativiert,
daß das Parlament mit 2/3 Mehrheit ein Verdikt zurückweisen
kann. Der zweitägige Ausflug nach Warschau endete mit dem Empfang
durch den stellvertretenden Justizminister, mit dem lebhaft Fragen des
Justizsystems und besonders der richterlichen Unabhängigkeit diskutiert
wurden.
In Lublin gab uns Prof. Wasek, Strafrechtler an den juristischen Fakultäten
sowohl der staatlichen als auch an der katholischen Universität, der
sich als ehemaliger Humboldt-Stipendiat für längere Zeit zu Forschungsaufenthalten
in Deutschland (bei Prof. Roxin und Schüler-Springorum in München)
und in der Schweiz aufgehalten hat, einen interessanten Überblick
über - teils bereits verwirklichte - Reformvorhaben im materiellen
Strafrecht wie auch im Prozeßrecht, welche u.a. durch den Wechsel
von einem kommunistischen auf ein demokratisches Rechtssystem erforderlich
wurden.
Neben dem fachlichen Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen von
den Lubliner Gerichten kam auch der gesellig kommunikative Teil nicht zu
kurz, begünstigt durch die ideale Unterkunft oberhalb von Kazimierz
Dolny in einem Gästehaus. Ballettabend in der Warschauer Oper, Schiffahrt
auf der Weichsel, Lagerfeuer in Karlik und die Wanderung im National Park
Rostocze, die einige zu einem erfrischenden Bad nutzten, seien lediglich
als Stichworte erwähnt.
Jacek Baranowski und Andrzej Kuba waren - wie schon 1993 - unsere zuverlässigen
und kompetenten Begleiter und Dolmetscher. Ihre Geduld, ihr Durchblick,
ja einfach Ihre große Liebenswürdigkeit waren Grundlage dafür,
daß unsere so bunt zusammengewürfelte Reisegruppe - von der
Präsidentin des Landgerichts bis zur Staatsanwaltschaft Harburg -
überaus erfreulich harmonierte. Ihnen zuerst galt unser Dank, ausgesprochen
beim bewegenden Abschiedsabend, der mit Tanz auf der Terrasse des Gästehauses
zu Ende ging.
"Polen ist schön" hat schon Gittie M. seinerzeit im Roman gefunden.
Und auch das konnten jedenfalls unsere weiblichen Teilnehmer erleben: "J.
küßte mir die Hand und tat, als wäre das die selbstverständlichste
Sache der Welt. Das warf mich glatt um!". Ob letzteres allerdings auch
von unseren Frauen so empfunden worden ist, entzieht sich meiner Kenntnis.
Gottfried Sievers