Der Rechtsausschuß der Bürgerschaft hatte zur Anhörung geladen. Einziger Tagesordnungspunkt: Belastung der Justiz.
Angehört werden sollten Sachverständige und Auskunftspersonen gemäß § 65 (6) GO, d.h. alle Präsidentinnen und Präsidenten, Behördenleiter, Verbände und - natürlich - der Justizsenator und weitere Vertreter der Justizbehörde. Die Justizbehörde hatte sorgfältige Vorarbeit geleistet. Sie legte einen Bericht zur Belastung der Hamburger Justiz 1996 vor. Dieser Bericht enthält auf 44 Seiten eine schonungslose Bestandsaufnahme und Zustandsbeschreibung der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Ich habe einen in der Offenheit und Vollständigkeit vergleichbaren Bericht von und in der Justizbehörde bislang nicht erlebt und gesehen. Dem Bericht kann nur zugestimmt werden, jedenfalls in seinem diagnostischen Teil. Er macht deutlich, daß Defizite in den Gerichten und Staatsanwaltschaften flächendeckend auftreten und sich nicht nach politischer Priorität und Opportunität sortieren. Wer an diesem Bericht Interesse hat, möge sich bei mir melden.
Über die Ausschußsitzung ist in der Presse berichtet worden. Es ging um die Funktionsfähigkeit der Justiz, um Bürgerservice, Sparmaßnahmen, Stellenstreichen, Vakanzen, IuK und immer wieder um die Verbesserung der Organisation und der Arbeitsabläufe. Besondere Brennpunkte: das Amtsgericht und die Staatsanwaltschaft. Lichtblicke gibt es, speziell bei der Staatsanwaltschaft, für die Teile der GMO-Organisationsuntersuchung umgesetzt werden sollen.
Einige Anmerkungen mit dem Versuch, dabei nicht zu sehr haushaltstechnisch"
zu werden:
Aufzuräumen ist mit der Mär, Organisationsverbesserungen
scheiterten vielfach an der Unabhängigkeit der Richter (so zuletzt
im Hamburger Abendblatt zu lesen). Davon kann keine Rede sein. Ich habe
in meinem Richterleben eine Unzahl an Organisationsuntersuchungen erlebt.
Die Umsetzung keiner einzigen dieser Untersuchung ist an der Unabhängigkeit
der Richter gescheitert. Die Gründe des Scheiterns lagen vielmehr
- im fehlenden Mut zu Beginn,
- der fehlenden Bereitschaft zu investieren
- der unsinnigen Forderung, vorab noch nicht erzielte Rationalisierungsgewinne
abzuliefern, die erst nach Abschluß eines erfolgreichen Projektes
entstehen und berechnet werden können,
- in unzureichenden Rahmenbedingungen (Tarife, Analytik etc.),
- am fehlenden qualifizierten Personal, z.B. Fachleute in IuK-Technik
und Organisation.
Den Gerichten und Staatsanwaltschaften wird vorgeworfen, sie seien nicht innovationsfähig, klagten und forderten ständig, seien wehleidig, anstatt ihre Sache in die Hand zu nehmen und für Verbesserung zu sorgen. Auch dieser Vorwurf ist abwegig. Wir haben ein Verwaltungsgericht, das aufgrund seiner Organisation mit sinnvoller Technikintegration als Mustergericht bezeichnet werden kann und in der Republik beispielhaft ist (vgl. auch die lobenden Ausführungen in dem vorletzten Rechnungshofbericht). Ähnliches läßt sich von dem Finanzgericht sagen. Die Gruppen- und Tandem-Geschäftsstellen brauchen keinen Vergleich zu scheuen. Einen Besuch anderer Großstadt-Landgerichte mit Dr. Makowka letztes Jahr hat vielmehr deutlich gemacht, daß das Landgericht in der Organisation der Zivilgeschäftsstellen durchaus einen Vorsprung hat.
Dies alles sind Leistungen, die ganz überwiegend von den Gerichten
selbst, von den Mitarbeitern des nichtrichterlichen Dienstes, den Richtern
und den Gerichtsverwaltungen erbracht worden sind. Hier lag die Initiative
für die Projekte, die mit eigenem Personal entwickelt und getragen
worden sind.
Unzweifelhaft ist in der Organisation der Gerichte und Staatsanwaltschaften
noch viel zu tun. Es besteht zum Teil ein erheblicher Nachholbedarf. Auch
stehen Gerichte und Staatsanwaltschaften in der Pflicht, sich selbst um
bessere Organisation und Arbeitsabläufe zu bemühen. Dies ist
eine Frage der Glaubwürdigkeit.
An dem Fehlen der Bereitschaft der Gerichte und Staatsanwaltschaften scheitert jedoch nicht, daß dieser notwendige Weg gegangen wird. Der Hamburgische Richterverein hat bereits Mitte der 80er Jahre eine Organisationsuntersuchung für die Staatsanwaltschaft gefordert - im Ergebnis ohne Erfolg. Erst als Anfang der 90er Jahre der Haushaltsausschuß bzw. die Bürgerschaft unter dem Eindruck einer Vielzahl neuer dem Landgericht wegen der Probleme im Strafverfahren zugewiesener Stellen eine Überprüfung wünschte, kam eine Organisationsuntersuchung. Untersucht wurde dann allerdings nicht das Landgericht, sondern kurioserweise die Staatsanwaltschaft - so sind die Wechselfälle des Lebens.
Organisationsverbesserungen sollen den (inner- und außerbetrieblichen) Service verbessern - aber natürlich auch Rationalisierungsgewinne in die Scheuern einfahren. Ich befürchte, daß diese Gewinne die bestehenden und zukünftigen Bedarfe nicht abdecken werden, die aus der Aufgabenerfüllung unmittelbar resultieren. Das zeigt z.B. das Mißverhältnis zwischen den Einsparmöglichkeiten bei einer optimal funktionierenden Geschäftsstelle und den immensen Personalkosten, die allein ein strafrechtliches Großverfahren produziert. Dieser Pessimissmus darf natürlich nicht dazu führen, daß man von einer Organisationsoptimierung dann gleich "die Finger läßt".
Wenn es Probleme bei der staatlichen Aufgabenerfüllung gibt, wird
regelmäßig nach den Ursachen gefragt. Der Begriff "Aufgabenkritik"
gehört zum Standardrepertoire im Wortschatz staatlicher Spitzenbeamter.
Es zählt zu den faszinierenden Phänomenen, daß bei der
Justiz der Untersuchungsfaden in umgekehrter Richtung verläuft:
Zunächst geht es um die Symptome, sie sind Gegenstand diverser
Erörterungen und Untersuchungen. Die eigentliche Ursache, nämlich
der Aufgabenkanon der Justiz, kommt später oder überhaupt nicht
ins Bild. Entweder man will in diesem Bereich keine Änderung, eine
Auffassung, die ich ganz überwiegend teilen kann, oder der Bundesgesetzgeber
steht vernünftigen Reformen im Wege.
Ich will zu diesem Thema nicht zuviel Tinte verschwenden. Nur eines: Daß der kostenträchtige § 229 StPO (maximale Unterbrechungsfrist bei einer Hauptverhandlung 10 Tage) immer noch in alter Fassung besteht, gehört für mich, der als Strafkammervorsitzender Tag für Tag, Woche für Woche die ausufernden Kosten erleben darf, die für fünfminütige substanzlose Lufttermine entstehen (z.B. Einfliegen eines Schöffen aus dessen Urlaubsort), zu den Unverständlichkeiten, die zeigen, was sich auf dem Reformmarkt tut oder besser: eben nicht tut. Kollege Bertram hat sich verschiedenen Ortes zu diesem Thema erklärt, ich habe eine Passage für einen Rechnungshofbericht geschrieben. Inzwischen finde ich mich drein mit der Erkenntnis: Ein Staat, der sich diesen Kostenunfug leisten kann, muß es offensichtlich "noch dick haben".
Statt hochnotwendige Remedur zu schaffen, schickt der Bundesgesetzgeber sich an, der Justiz einen neuen Aufgabenbereich einzubescheren: die Insolvenzrechtsreform. Jeder, der von der Sache etwas versteht, weiß, daß dieses - an sich durchaus vernünftige - Reformvorhaben eine erhebliche Personalaufstockung der Amtsgerichte erfordert. Das kann sich zur Zeit kein Bundesland leisten und wird es sich auch für absehbare Zeit nicht leisten können.
Sollte der Bundesgesetzgeber nicht doch noch zur besseren Einsicht kommen
und jedenfalls Aussetzung beschließen, vorsorglich dies:
Es möge hinterher keiner kommen und sich über Personalforderungen
der Justiz beklagen oder den Gerichten vorhalten, sie sollten sich erst
einmal vernünftig organisieren und Technik einsetzen, dann würde
es schon irgendwie laufen. So nicht! Es wird nicht irgendwie laufen. Die
neue Aufgabe ist ohne eine deutliche personelle Verstärkung nicht
zu schultern.
Neue Stellen wird es nicht geben, davon träumen Präsidentinnen,
Präsidenten und Behördenleiter selbst in schlaflosen Nächten
nicht. Sie gibt es im übrigen bereits seit Anfang der 90er Jahre nicht
mehr. Was Senatoren bei Vorstellung ihrer Haushalte freudig und stolz als
neue Stellen verkaufen und feiern, war und ist nichts anderes als das Ergebnis
von Umschichtungen. Es wurden also neue Stellen geschaffen, andere dafür
im gleichen Wert gestrichen. Tatsächlich neue, also zusätzliche
Stellen hat das Amtsgericht zuletzt für das Betreuungsgesetz erhalten,
nach Meinung des Präsidenten Metzinger allerdings viel zu knapp bemessen.
Im übrigen gehörte auch dieses - an sich sinnvolle - Reformvorhaben
zum Thema "Bundesgesetzgeberische Unarten". Der Bundesgesetzgeber hatte
eher die Vorstellung, das Gesetz sei annähernd kostenneutral, als
daß die Wahrheit ungeschminkt auf den Tisch kam: erhebliche Mehrkosten
im Personalbereich.
Nein, neue Stellen erwartet niemand. Was drückt und Teilbereiche
der Justiz in die Knie zwingt, sind Stellenstreichungen aufgrund der Konsolidierungsprogramme
in Verbindung mit dem Vakanzenverfahren (Freihalten von Stellen).
Wie soll es weitergehen, wenn alle Rationalisierungsmaßnahmen
und Organisations- und Ablaufsoptimierungen die Not nicht nachhaltig lindern?
Dann muß wohl der Ball an die Politik zurückgegeben werden.
Die Politik steht in der Pflicht. Denn schließlich ist es die Politik,
die gestalten und Schwerpunkte setzen soll.
Schaun ’mer mal.
Heiko Raabe