Bis zur Einführung der preußischen Justizverfassung im Jahre 1867 bildeten fast überall in den Landdistrikten der Herzogtümer Schleswig-Holstein Laiengerichte die ordentliche erste Instanz. Die Beisitzer dieser unter der Bezeichnung der Dinggerichte zusammengefaßten Volksgerichte hatten recht verschiedene Namen. In Schleswig hießen sie Sandmänner, Bonden, Dingmänner, Hardesmänner; in Holstein wurden sie Holsten, auch fromme oder sichere Holsten, Hausleute, Dingmänner, Schöffen genannt. Die regelmäßige Rechtsprechung befand sich indessen tatsächlich längst in den Händen der landesherrlichen Beamten, und zwar infolge der den Oberbeamten überall zustehenden sog. prima audentia, welche jeder Verhandlung vor den Dinggerichten vorangehen mußte. Ursprünglich war die prima audentia nichts weiter als ein Versuch der Güte; allmählich war eine förmliche Verhandlung vor dem Oberbeamten an die Stelle getreten, welche regelmäßig mit dem laudum in der Form eines Urteilsspruches abschloß. Von diesem laudum konnte innerhalb bestimmter Frist ad ordinarium provoziert werden, dann erfolgte die Verweisung an das Dinggericht. In manchen Distrikten war es zur Regel geworden, vom laudum des Amtmanns unter Überspringung von Ding und Recht unmittelbar an das Kgl. Obergericht zu provozieren. Das Obergericht sah alsdann die Kompetenz des Amtmanns als die eines fori prorogati an, behandelte aber das laudum nicht wie eine sententia a qua, sondern ließ die Prozeßsache vor sich wie vor einer ersten Instanz verhandeln.
Etwas abweichend hatte sich der Rechtszustand in der Herrschaft Pinneberg entwickelt, welche zum sog. Schaumburgischen Landesteil gehörte, der erst im Jahre 1640 nach dem Tod des letzten Schaumburger Grafen Otto auf die königliche Linie des Oldenburgischen Hauses übergegangen war und manche selbständige Einrichtungen bewahrt hatte. Die Klagsache konnte an das Dinggericht oder an den Landdrosten gebracht werden, an dessen Stelle seit 1855 ein Landrichter getreten war. Erfolgte die Einlassung vor letzterem, so trat derselbe vollständig an die Stelle des Dinggerichts. Es wurde vor ihm in ordinario verhandelt, von seinem Urteil an das Obergericht appelliert. Wurde die Einlassung verweigert, so erging sofort die Verweisung an das Dinggericht.
Wie sehr nun auch die Wirksamkeit der Dinggerichte im Laufe der Zeit sich geändert hatte, immerhin war ihre Tätigkeit nicht eine so geringe, wie man nach gelegentlichen Äußerungen in der wissenschaftlichen Literatur annehmen möchte. Die Erinnerung an die ersten zehn Jahre meiner Tätigkeit von 1857 bis 1867 umfaßt eine nicht ganz kleine Zahl von Verhandlungen vor Dinggerichten. Gewiß war die damals in den Herzogtümern vorhandene Einrichtung der Advokatur nicht ohne Einfluß darauf, daß die Volksgerichte häufiger in Tätigkeit traten. Zwar enthielt die im wesentlichen in Geltung befindliche freie Advokatur eine größere Zahl vornehmer Elemente, daneben machte die wohl unausbleibliche Folge eines Proletariats in unerwünschter Weise sich geltend. Nicht selten erfolgte durch diesen mäßigen Teil der Advokatur die Verweisung von Prozeßsachen an die Dinggerichte. Auch bessere Elemente entschlossen sich dazu, wenn die Aufführung eines den ganzen Distrikt interessierenden Schauspiels zweckmäßig erschien.
Die Erfahrung jener Tage über die Wirksamkeit der Dinggerichte konnte ein günstiges Vorurteil für die Teilnahme von Laien an der Rechtsprechung nicht erwecken und mag für spätere Zeit gegenüber abweichender moderner Anschauung für manchen maßgebend geblieben sein. Dennoch ist nach meiner Erinnerung ein gewisser Nimbus patriarchalischer Tradition damit verbunden gewesen. Man hatte nicht die Empfindung einer widerwärtigen überlebten Einrichtung und suchte sich mit dem verbliebenen Rest freundlicher volkstümlicher Sitte abzufinden.
In Pinneberg trug der uralte Dingvogt noch beinahe korrekt die lange Dingformel vor. Die Verhandlung wurde vom Landrichter geleitet. Herkömmlich wurde der Gerichtssekretär mit in die Acht genommen, von dem auch regelmäßig das wohlvorbereitete Urteil stammte. Die Gebühr des Dingvogtes bestand darin, daß die Dingmänner, der Landrichter und der Sekretär, sowie die Advokaten nach der Verhandlung im Hause des Dingvogtes eine Hühnersuppe zu genießen hatten, die übrigens einen Bratengang und eine Flasche Rotwein mitenthielt. Der Preis der Mahlzeit war gering, die Güte des Weines noch geringer. Ich hatte gelegentlich meinen Platz neben einem als Original bekannten Bauern, der wegen seiner Vorliebe für die Fischerei "der Wittfischer" genannt wurde und die Gewohnheit hatte, jeden mit "Du" anzureden. In damaliger Zeit wurde noch von den Advokaten auf die gute Form des Vortrags besonderer Wert gelegt, und so mag auch ich in zusammenhängender Rede meine Sache vertreten haben. Das mußte dem Wittfischer gefallen haben, denn er klopfte mich kräftig auf das Bein und sprach sein Lob mit den Worten aus: "Junge, will ick die man seggen, warum büst nicht Paster worrn!"
Ein ganz anderes Bild bot das Dinggericht im Distrikt der Klostervogtei Uetersen. Nach meiner Erinnerung wurde das Ding und Recht nicht förmlich durch einen Vogt gehegt. Der Klosterprobst leitete die Verhandlung, damals ein hochangesehener Herr aus der Ritterschaft und ein vorzüglicher Jurist. Aber die Dingmänner verstatteten weder ihm noch dem Klostersyndikus besonderen Einfluß auf die Urteilsfindung. Sehr ausführlich wurde in einem Erbschaftsstreit der Angehörigen einer bekannten Uetersener Bürgerfamilie verhandelt. Dann zog das Gericht sich in die Acht zurück und die Beratung nahm eine geraume Zeit in Anspruch. Endlich erschienen die Richter wieder und der Obmann verkündete den Advokaten feierlich den Spruch: "De Herren möt sik vergliecken!" Der hinzugefügte Entscheidungsgrund lautete: "Wi könnt mit de Sack nich klar warrn." Ob und welchen Einfluß damnächst die Dingmänner auf die streitenden Parteien geübt haben, steht dahin; jedenfalls gelang es, dem Spruch des Gerichts Folge zu leisten und den Rechtsstreit durch Vergleich zu erledigen.
In interessanter Erinnerung ist mir aus der Zeit meiner Glückstädter Advokatur eine Verhandlung vor dem adligen Marsch-Lod-göding, die im sog. Marschhaus in Krempe stattfand. Das genannte Lod-göding kombinierte zwei Instanzen dergestalt, daß das Lodding im Halbkreis unten seinen Sitz hatte und darüber im gleichen Halbkreis auf erhöhten Sitzen das etwas stärker besetzte Göding sich befand. Die Verhandlung fand nur einmal vor beiden besetzten Gerichten statt. Dann ging das unten sitzende Lodding in die Acht und kehrte mit seinem Spruch zurück. Der Advokat der unterlegenen Partei schalt stante pede, viva voce das abgegebene Urteil, "prästierte Solemnien" und "erlegte das Schoßmal mit zwei blanken Speziestalern" klingend auf den Tisch vor den Pulten. Dann ging feierlich von der oberen Estrade das Göding hinunter in die Acht und kehrte mit seinem Spruch zurück. - Es mag ein Aberglaube gewesen sein, jedenfalls war die Meinung verbreitet, daß das Göding mit seinen höher sitzenden und gereifteren Richtern jedesmal das Urteil des unter ihm sitzenden Loddings aufgehoben habe.
Als im Jahre 1867 die ersten altländischen Juristen in die Herzogtümer kamen, wurde wohl von ihnen geäußert, daß hier gar kein entwickeltes Rechtsleben existiere. Inzwischen hat die neue preußische Provinz, was vermißt wurde, längst nachgeholt. Ich konnte damals nur dem ersten preußischen Staatsanwalt, dem späteren Reichsgerichtsrat Mittelstaedt erwidern, daß wir doch darin sicher den alten Provinzen voraus seien, regelmäßig in Zivilsachen fünf Instanzen angehen zu können, zunächst die prima audentia des Oberbeamten, dann das Dinggericht unterer Instanz, sodann das Göding, von dessen Spruch die Rechtssache an das Obergericht und im Wege der Oberappellation an das Oberappellationsgericht gelange.
Literatur: Ferdinand Philipp, Aus der Erinnerung eines alten Juristen, I. Die Dinggerichte in Schleswig-Holstein. In Festgabe zum XXVIII. Deutschen Juristentage, Berlin, 1906.