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Rituale
I.

Neulich hörte ich von einer Mitarbeiterin der Präsidialabteilung: "Es ist so traurig, daß er geht. Wir kriegen nie wieder so einen Präsidenten, der uns zum Frühstück besucht und uns die Wurst mit den Fingern vom Brötchen zieht."

II.

Hin und wieder gibt es Beförderungsrunden beim Oberlandesgerichtspräsidenten. Es treffen sich die Präsidenten der Ordentlichen Gerichte mit ihren Vizepräsidenten und Präsidialrichtern und mit Vertretern der Justizbehörde, um zu besprechen, wer zur Beförderung vorgeschlagen werden soll. Für die meist vielen geeigneten Bewerber vom Landgericht und Amtsgericht gibt es regelmäßig zu wenig Beförderungsstellen, so daß nicht selten ein heftiges Tauziehen zwischen Landgericht und Amtsgericht stattfindet. Diese Gespräche, bei denen jeder der Präsidenten auf seine eigene, unnachahmliche Weise auf der Klaviatur des Überzeugens und Argumentierens zu spielen versteht, wäre eine Geschichte für sich; wie z.B. Herr Dr. Makowka nach langer Zeit des Schweigens und Zuhörens mit leiser, kaum vernehmlicher Stimme aus der Deckung kommt und seinen Kandidaten anpreist und dessen Verdienste hervorhebt, ohne die das Landgericht kaum noch existieren würde.

Ich will hier aber von einer Beförderungsrunde berichten, die länger zurückliegt und anders als die anderen verlief. Alle Beteiligten hatten sich nämlich längst im Vorwege auf einen Kandidaten geeinigt.

Vielleicht, weil dieses Vorgehen nicht so recht zu dem Ritual paßt, setzt einer der Beteiligten an, lange Ausführungen darüber zu machen, wie o f f e n doch letztendlich der Ausgang des Vorschlagsverfahrens sei und welche großen Vorzüge es bei jedem der Kandidaten gäbe. Alles döst ein bißchen vor sich hin. Auf einmal richten sich die Augen zunehmend auf Herrn Dr. Makowka. Was macht er denn da? Er sagt nichts, sondern schreibt konzentriert mit seiner bekannt kleinen Schrift etwas auf einen weißen Notizzettel. Komisch, es gibt doch gar nichts zu notieren.

Das Interesse an Dr. Makowkas Schreibaktivität erlahmt daher mit der Zeit wieder. Ich sitze neben ihm, und nach einer Weile schiebt er mir den Zettel herüber. Ich lese ihn, mache eine kurze Notiz darauf und gebe ihn zurück. Dieses Spiel wiederholt sich noch einmal, und schließlich wird die Gesprächsrunde mit dem von vornherein bekannten Ergebnis einvernehmlich beendet. Der kleine weiße Zettel liegt jetzt vor mir:

Wir sind völlig offen

Wir sind völlig offen

Wie sind wir doch offen

Wie offen sind wir

Offen sind wir völlig

Völlig sind wir und offen

ODER SIND WIR OFFENBAR VOLL ?

Völlig voll bin ich gleich

Und nicht mehr offen

DAS IST WIEDER VÖLLIG OFFEN.

Bei aller Offenheit soll hier offen bleiben, wer schließlich vorgeschlagen wurde.

Sibylle Umlauf