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1964/1986: Zeitunterworfen und zeitlos zugleich

I.

Riskante Pinkelpause

Wir schreiben das Jahr 3 nach Errichtung der Berliner Mauer. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West dauert unvermindert an. Berlin droht die Isolierung von Westdeutschland.

Diese Isolierung zu mildern, macht sich eine Gruppe von 2 Gerichtsreferendarinnen und 23 Gerichtsreferendaren aus Hamburg per Bus durch die "DDR" (nicht mehr Zone) auf den Weg. Der Bus der Fa. Thies hat keine Toilette, die "DDR" Ulbrichts noch keine BAB 24. Man fährt über Land, jeder Halt unterwegs ist verboten.

Mit an Bord und für alle Nöte zuständig ist als Leiter der Truppe ein jüngerer Landgerichtsrat, Dr. Makowka, Makowiak oder so ähnlich, soll AG-Leiter sein. 2 Referendare, die behaupten, ihn zu kennen, mutmaßen unter der Hand: "Der wird kaum stören". Die Prognose erweist sich mit einer kleinen Einschränkung als überaus treffsicher. "Er will uns offensichtlich auch gar nicht stören".

Nein, stören will er nicht, und was er sich eigentlich unter der Leitung der Fahrt vorgestellt hat, bleibt völlig unklar; aber unterhalten kann man sich mit dem Mann! Was heißt unterhalten, er hört eigentlich nur zu (wann hat man so etwas bei einem Richter, Ausbilder je erlebt?), und wenn er jemandem lange genug zugehört hat, weiß der am Ende über die innere Verfassung der Justiz in Hamburg und Gestaltungsmöglichkeiten für interessierte jüngere Richter mehr, als die ganze bisherige Ausbildung bewirken konnte.

"Sicher, reich wird man nicht", vermittelt er glaubwürdig und im Einklang mit seinem Habitus, "aber die Freiheit im Denken und Handeln, wo gibt es die sonst?". Nun ja, die Berufsentscheidung steht noch nicht an, nach dem Examen sollte man vielleicht sollte man...? Ach was, im Augenblick sind wir in Berlin. Das Programm ist vollgepackt: Mauerbesichtigung, Checkpoint Charlie, Schöneberger Rathaus ("Ich bin ein Berliner", alles noch recht frisch), Document Center, stoßweise Broschüren ("SBZ von A - Z", ein Lexikon in 2 Bänden). Es wird nichts ausgelassen.

Was macht eigentlich unser Titelheld in dieser Zeit? Abends im Hotel hört er zu, dieser, jenem, allen. Tagsüber übernimmt er gelegentlich den Part Begrüßungs- oder Schlußworte, niemals beides. Wo die Zwischenzeit verbracht wird, bleibt sein Geheimnis.

Sicher ist nur, daß er abseits des vorgegebenen Programms mit einigen Teilnehmern der Reise in einer Gerichtsverhandlung in Ost-Berlin gesehen wird und im Anschluß an die Sitzung versucht, mit dem Ostkollegen ins Gespräch zu kommen. Das Gespräch soll nichts gebracht haben. Roland M. war also wohl doch nicht dabei.

Und dann die Rückfahrt: Derselbe Bus, dieselbe Strecke, natürlich auch weiterhin das strenge "Verbot, auf der Transitstrecke anzuhalten". Nur die Not ist erheblich größer noch als auf der Hinfahrt, hatte man doch am Vorabend in der Gruppe, nachdem sich eine überraschende Harmonie entwickelt hatte, ebenso spontan wie ausgiebig und zeitweise sogar im Zimmer des Roland M. das Ende der Excursion in die Frontstadt begossen.

Was kann man tun, wenn nun unterwegs die Not noch größer wird? Und sie wird! Der Fahrer, befragt, erklärt entschieden: "Ich halte auf keinen Fall - und schon überhaupt nicht im Wald oder sonst an unübersichtlicher Stelle. Hier wird alles überwacht. Die schießen!"

In letzter Not hilft - jetzt wie später - Roland M.: "Wir halten. Die schießen auf niemanden, der die Hosen 'runtergelassen hat!".

Dieses blieben über Jahre die letzten Worte des Roland M., die sich dem Verfasser eingeprägt haben. Festgesetzt hat sich dem Verfasser dann erst wieder eine Begebenheit, die 4 Jahre später in der Präsidialverwaltung des Landgerichts spielt. Dort ist Roland M. Präsidialrichter und erklärt dem Verfasser überzeugend die Vorzüge einer richterlichen Tätigkeit in der Wiedergutmachungskammer mit Dienstsitz im Zippelhaus. Im Hinausgehen fragt er beiläufig: "Waren Sie nicht auch mit in Berlin? Es sind übrigens eine ganze Reihe der damaligen Teilnehmer inzwischen bei der Justiz gelandet. Hätten Sie das damals gedacht?" Hätte ich? ... Hatte ich? Was hat unser Zusammentreffen in der Präsidialverwaltung überhaupt mit der kleinen Fahrt nach Berlin zu tun?

II.

Erkundungen, Improvisationen und andere Unüblichkeiten

Inzwischen schreiben wir das Jahr 1986. Daß die Mauer in 3 Jahren fallen wird, ahnt niemand, nicht einmal Roland M. Was er aber nicht nur ahnt, sondern als nunmehr Landgerichtspräsident täglich spürt, sind die Nöte der Strafkammern, die sich nicht mehr durch ein plötzliches Anhalten im Wald beheben lassen. Das Präsidium hat auch lange schon die Hosen heruntergelassen, sprich zahllose Hilfsstrafkammern besetzt. Dennoch wird von Seiten der Verteidiger weitergeschossen, wenn auch nur hilfsweise und mit ausdrücklich erklärtem Bedauern.

Roland M. erkennt, es gibt wie so häufig im Leben zwei Möglichkeiten:

Alt. 1: Man ändert das Lebensmotto etwa dahingehend:

"Nur Verteidiger schießen auf jemanden, der bereits die Hosen heruntergelassen hat".

Diese Möglichkeit wird umgehend verworfen. Schließlich ist man bemüht, Konfrontationen zu vermeiden, und glaubt auch sonst an das Gute im Menschen. Verteidiger sind Menschen.

Es bleibt also

Alt. 2: Wir starten eine Suche nach den Ursachen und schreiben einen Bericht. Da die Ursachen unmöglich in Hamburg liegen können, beginnen wir mit der Suche außerhalb.

So macht sich eine Gruppe bestehend aus Roland M., seinem damals besten Mann, Präsidialrichter Jürgen Me., und einem mit Strafsachen befaßten Mitglied des Präsidiums zu rechtsvergleichenden Studien auf den Weg nach Düsseldorf, Köln, Frankfurt und München.

Die Justizbehörde steht dem Vorhaben gleichermaßen begeistert und skeptisch gegenüber, ist offenbar angetan von der Idee Roland M.'s, aber außerstande, sie zu finanzieren. Dienstbefreiung würde man sicherlich gewähren. Hinsichtlich der Kosten könnte doch vielleicht der Richterverein ... Kann er nicht, sollte er auch nicht, meint Roland M.

Schließlich findet man nicht ohne den "persönlichen Einsatz" eines leitenden Beamten, der deshalb oder trotzdem später Innenminister in Sachsen werden soll, eine großzügige Regelung. Präsident und Begleitung erhalten die Fahrtkosten mit der Bundesbahn 2. Klasse ohne Zuschläge ersetzt, Übernachtungskosten bis zur Höhe von DM 56,--, zum Glück je Person, zuzüglich keine Tagegelder. Gegessen hätte man ja auch in Hamburg.

Obwohl die Gruppe sich daraufhin des Gedankens kaum erwehren kann, nunmehr bereits einen Teil der Ursachen gefunden zu haben, bricht man dennoch in der Hoffnung auf, zumindest Ansätze für die Lösung der noch verbleibenden Schwierigkeiten zunächst im Rheinischen zu finden.

Dort - wie auch sonst auf der Reise - ergibt sich zunächst, daß die Quartiere in Pensionen der jeweiligen Bahnhofsviertel den Erwartungen entsprechen. Ein wenig Pech nur hat Roland M. Er hatte nachgemeldet und bekommt jeweils das 3. Zimmer, ohne Telefon, Dusche, aber zumeist mit WC und regelmäßig über der Küche, so daß ihn und seine Kleidung bei den Gerichtsbesuchen angenehm nahrhafte Gerüche umgeben. Glück hingegen hat er später in Frankfurt, daß er als Zeuge eines im Nachbarzimmer lautstark begangen zumindest versuchten Mordes (das Präsidiumsmitglied meint nach der Tatschilderung Roland M.'s: "Vielleicht doch nur eine Vergewaltigung oder ein Beischlafbetrug") als Zeuge nicht benötigt wird.

Präsidialrichter Jürgen Me. kennt seine Pflichten gegenüber allen Richtern, insbesondere seine Fürsorgepflicht, die er stellvertretend für den Präsidenten natürlich auch gegenüber dem Präsidenten auszuüben hat. Er bietet spontan an, der Ehefrau Roland M.'s telefonisch mitzuteilen, daß man gut angekommen ist. Notfalls könne Roland M. bei ihm auch einmal duschen. Das mitreisende Präsidiumsmitglied hält sich zurück, wie es seine Art ist, und bietet ebenfalls keinen Zimmertausch an. Schließlich würde man damit den mindestens 6 Monate dienstjüngeren Präsidialrichter beschämen, und vor die Entscheidung gestellt, verderbe ich es lieber mit dem Präsidenten oder dem Präsidialrichter, hat sich noch jeder mit guten Gründen für den Präsidenten entschieden.

Was solcherart hoffnungsvoll beginnt, gestaltet sich auch in der Sache erfolgreich. Die Gespräche mit den Angehörigen der besuchten Gerichte verlaufen sogar außerordentlich erfreulich -für diese. Man hat dort Hamburger Probleme nur, wenn Verteidiger aus Hamburg auftauchen. Letzteres ist zum Glück, wie man sagt, extrem selten. Was bleibt sind die Ratschläge der Gastgeber, nicht so freundlich mit den Verteidigern umzugehen, dann hätte man weniger Schwierigkeiten. Die abschließenden Worte des Präsidiumsmitgliedes enden regelmäßig mit der Bemerkung, daß er hoffe, in Düsseldorf, Köln oder München bleibe alles beim Alten, aber solches für eher unwahrscheinlich halte. In Frankfurt lagen die Dinge schon damals etwas anders.

Dieses alles erfährt Roland M. jedoch lediglich aus Erzählungen anläßlich der verbindenden Bahnfahrten und der Lektüre des späteren Berichts, ist er doch bei keiner einzigen Besprechung zugegen.

Kaum ist die Begrüßung absolviert ("Eine interessante Idee, sich gerade hier umzusehen, vielleicht kommen wir auch einmal nach Hamburg; bitte schicken Sie uns ein Exemplar Ihres Berichts") sowie Zeit und Ort für das gemeinsame Mittagessen festgelegt, verschwindet Roland M., was Präsidialrichter und Präsidiumsmitglied durchaus nicht unangenehm ist. So wird insbesondere Präsidialrichter Jürgen Me. nicht selten für den Präsidenten gehalten, das Präsidiumsmitglied leider nie.

Aber auch für das Landgericht Hamburg erweisen sich die Absenzen seines Präsidenten später als nützlich, hat er sich doch fast unbemerkt eine Übersicht über die Lage auf den Geschäftsstellen, die dort bestehenden Probleme und ihren Lösungsmöglichkeiten verschafft, die räumliche Gestaltung der Gerichte angesehen und ihre personelle und sachliche Ausstattung erhoben und mit Hamburger Verhältnissen verglichen; ein Vergleich, der für die zu untersuchenden Ursachen nicht wenig hergibt, aber darüber hinaus auch mehr als nur Ansätze für Reformen im Geschäftsstellenbereich im eigenen Sprengel bietet. Dazu Roland M.: "Was nützt uns die beste Ausstattung im richterlichen Bereich, wenn auf den Geschäftsstellen alles den Bach 'runtergeht?".

Und dann wiederum die Rückreise:

Am Vorabend wurde das Hofbräuhaus aufgesucht. Spätestens bei dieser Gelegenheit wird dem Präsidiumsmitglied klar, bei Reisen mit Roland M. sollte es entweder keinen Vorabend der Rückreise geben oder noch besser nur solche Vorabende.

Die Rückreise selbst vermittelt einen überraschenden neuen Eindruck. Roland M. ist ein ganz vorzüglicher und mit allen Wassern gewaschener Skatspieler. Auf der neunstündigen Bahnfahrt (D-Zug ohne Zuschlag, s.o.) gelingt es ihm, an Präsidialrichter und Präsidiumsmitglied genau den Betrag zu verlieren, den diese bisher an Reisekosten zugesetzt hatten.

So hinterläßt die Reise zum Glück nur einen Geschädigten, was die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und in Sonderheit auch den späteren Innenminister des Freistaates Sachsen gleichermaßen freuen wird.

Nachwort:

Anläßlich dieser Retrospektive ist mir eine Idee gekommen, mit der sich 2 Probleme lösen ließen - nämlich

1. Wie ehrt man eine Person wie Dr. Roland M. nachhaltig?

2. Welche Folgen zieht Hamburg aus dem Kruzifix-Beschluß des BVerfG? Hatten wir noch nie Kruzifixe in den Sälen (Hinweis für den Setzer: Hier - um Gottes Willen - nicht Seelen schreiben, das gäbe Ärger) und damit das bisher ungelöste Problem: Wie schmücken wir die Wand hinter dem Richtertisch?

Mein Vorschlag also: In allen Verhandlungssälen des Landgericht werden Tafeln mit dem Zitat angebracht:

"Man schießt auf niemanden, der die Hosen heruntergelassen hat."

Dr. Roland Makowka, Landgerichtspräsident

Albrecht Mentz