Man schreibt das Jahr 2002. Zur Sanierung der Staatsfinanzen ist ein Gesetz in Kraft getreten, durch das alle pensionierten Staatsdiener unter 75 Jahren in den aktiven Dienst zurückgeholt werden. Für Dr. Roland M., Präsident des Landgerichts ex-a.D., ist es der erste (neue) Arbeitstag.
08.30 Uhr: Roland M. betritt das Ziviljustizgebäude. Ihm ist vorläufig ein Zimmer im 2. Stock des Altbaus zugewiesen (der 3. Stock ist seit 2 Jahren wegen Einsturzgefahr gesperrt). In einem schnuckeligen 9 qm-Zimmer, mit Schreibtisch (40er Jahre), Schreibmaschine (50er Jahre), Telefon (nur für Ortsgespräche, 60er Jahre) und Schreibtischstuhl (70er Jahre) zweckmäßig eingerichtet und mit gelblich-orangen Vorhängen (undatierbar) anheimelnd ausgestaltet, macht er es sich gemütlich.
08.32 Uhr: Kaum hat er sich die Zigarette angesteckt, ertönt eine laute Sirene. Über der Tür leuchtet ein Warnschild auf: "Rauchen verboten. Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit und verstößt gegen das Hamburger Luftreinheitsgebot von 1998". Ein herbeieilender Wachtmeister gibt den Tip, unter dem Tisch weiterzurauchen, dann sprächen die Rauchsensoren (90er Jahre) nicht an.
08.40 Uhr: Ein erster Besuch in der Präsidialabteilung. Statt von PräsidialrichterInnen wird Roland M. von einem 3-köpfigen "Dynamic Team Kienbaum" begrüßt. Durch Einsparung von 10 Richterstellen war es 2001 gelungen, die Organisation des Landgerichts zu professionalisieren. Kekse hält das "Dynamic Team" für unprofessionell.
09.00 Uhr: Begrüßung durch die soeben eingetroffene amtierende Landgerichts-Präsidentin. Man unterhält sich über Roland M.'s neuen Titel: Zur Diskussion stehen Mit-PräsidentLG, Co-PräsidentLG, Ex-Pensions-PräsidentLG, Alt-PräsidentLG, Weisheits-PräsidentLG. Herr Ponndorf soll einige Entwürfe für Briefköpfe/Stempel erstellen. Bei der Justizbehörde soll eine Arbeitsgruppe eingerichtet werden.
09.50 Uhr: Treffen mit anderen Ex-Pensionären, die ebenfalls ihren 1. Arbeitstag haben. Mit einer altmodischen Kaffeemaschine (80er Jahre) werden Unmengen Kaffee gebraut (Bleigehalt ungewiß, tendenziell zu hoch). Die Zimmerfrage wird erörtert. Probleme gibt es angesichts des Ende 1996 in Kraft getretenen Einstellungsstopps nicht.
11.00 Uhr: Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf des 14. Ergänzungsgesetzes zum 9. Rechtspflegeentlastungsgesetz. Die Zuständigkeitsgrenze soll für das Landgericht in Zivilsachen auf DM 1 Mio erhöht werden. Bis zu einem Streitwert von DM 5 Mio soll der Zwangsvergleich zulässig werden. In Strafsachen soll nur noch bei einer Straferwartung von mindestens lebenslang beim Landgericht angeklagt werden. Urteilsbegründungen sollen nur noch mündlich erfolgen (max. 2 Minuten). Man erwartet eine Entlastung von 10 %.
11.30 Uhr: Anruf vom Pförtner, daß der Wagen von Roland M. gerade abgeschleppt werde. Er hatte vergessen, den Parkautomaten rechtzeitig zu beliefern (derzeit DM 20,--/Std.).
11.40 Uhr: Besuch in einer Tandem-Geschäftsstelle. Das Motto lautet nunmehr "Team in one". Alle anfallenden Arbeiten können von einem Richter erledigt werden.
12.20 Uhr: Anruf vom Justizsenator. Es gebe Anhaltspunkte in der Personal-Akte, daß Roland M. noch vor dem 01.01.1927 geboren und daher von der Pensionärs-Reaktivierung nicht betroffen sei. Roland M. habe Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 12 Stunden. In einer ersten Reaktion ist von "Wunschdenken" die Rede.
12.30 Uhr: Kantine: Es hat sich nichts geändert.
13.30 Uhr: Sitzung in einer Wohnungseigentumssache. Roland M. unterbreitet als Vergleichsvorschlag, nur Gartenzwerge mit grünen Zipfelmützen aufzustellen. Die Parteien zögern.
14.10 Uhr: Entscheidung über eine Dienstaufsichtsbeschwerde. Ein Richter ist in einer Sitzung mit einer Robe ohne Knöpfe erschienen. Roland M. erklärt sich für befangen.
14.20 Uhr: Roland M. sucht den Kontakt mit jüngeren Assessoren. Auf der Suche nach dem jüngsten Richter des Landgerichts trifft er auf eine mittlerweile 40jährige Kollegin, mit der er über die alten Zeiten plaudert.
15.40 Uhr: Signierstunde anläßlich des Erscheinens der 7. Auflage von "Gesammelte Reden auf Bierabenden des Landgerichts".
16.40 Uhr: Gespräch in der Justizbehörde über Mittel für Kommentare und Zeitschriften. Es soll zunächst versucht werden, aus den neuen Bundesländern um Spenden zu bitten, um jeder Zivilkammer einen nicht mehr als 5 Jahre alten Palandt zur Verfügung stellen zu können. Aktuelle Jahrgänge von Zeitschriften können von jedem Richter in der Staatsbibliothek eingesehen werden.
17.00 Uhr: Gespräch mit dem Personalrat über zusätzliche Pausen für Schreibkräfte ab 70 (sog. Gichtstunden).
17.30 Uhr: In der auf Anregung von Axel B. und Ralf Oe. in "St. Rolands Hall" umbenannten Grundbuchhalle findet eine Vernissage unter dem Motto "Justiz im Computerzeitalter" statt. Der Ausfall des Zentralcomputers des Landgerichts führt zu einem vorzeitigen Abbruch der Veranstaltung.
18.30 Uhr: Versehentlich sind Richter-Delegationen aus Papua-Neuguinea und San Marino gleichzeitig eingeladen worden. Der Weinkeller von Roland M. ersetzt die fehlenden Dolmetscher.
05.30 Uhr: Schweißgebadet wacht Roland M. in seinem Haus in der Toskana, das er seit 1996 bewohnt, auf. Gott sei Dank, es war alles nur ein (Alp-) Traum.
Martin Buchhol