Wir schreiben das Jahr 1973. Der Referendar Jochen Cassel sucht einen Ausbilder bei dem Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg.
Ein Personalrat der Referendare, der, wie heute, Stationszeugnisse über Ausbilder vorrätig hält, existierte nicht. Die damalige Interessenvertretung nannte sich Referendarausschuß und beschäftigte sich im Sog der 68-er Bewegung vorrangig mit der Umsetzung marxistisch-leninistischen Gedankenguts. Ideologie war wichtiger als die Weitergabe praktischer Tips und so mußte man sich auf Empfehlungen von Mitreferendaren verlassen.
Das Oberlandesgericht galt bei vielen Referendaren als unneinnehmbare Festung. Horrorgeschichten über Ausbilder und deren Bewertungsmaßstäbe (damals wurden die Stationsnoten zur Errechnung der Examensnote mit herangezogen) wurden verbreitet. Wenige Namen von Ausbildern, zu denen man gehen konnte, wurden sogleich mit dem Vorbehalt versehen, ausgelastet zu sein und keine Referendare mehr zu nehmen. In dem Dickicht von Wahrheiten, Halbwahrheiten, Gerüchten und Falschdarstellungen, tauchte immer wieder der Name eines OLG-Richters auf, bei dem man sich Rat holen könnte: Dr.Makowka (er wurde abgekürzt"Mac" genannt), der auch für die Richtereinstellungen zuständig sei. Der habe zwar unmittelbar mit der Referendarausbildung nichts zu tun, er sei aber "ein unheimlich dufter Typ".
So begab also auch ich mich eines Tages in das Gebäude des Hanse atischen Oberlandesgerichts, um im ersten Stock in einem Seitenzimmer Dr. Makowka zu treffen. Es dauerte nicht lange, und ich fand die Einschätzung meiner Mitreferendare über "Mac" bestätigt. In der mir später immer wieder auffallenden Art, mit nachdenklich unbewegtem Gesichtsausdruck, seinen Vorstellungen nicht entsprechende Dinge zu kommentieren, verwarf er meine Personalvorstellungen und schlug sich selbst als Ausbilder vor. Natürlich sagte ich sofort zu.
Meinen Sommerurlaub verbrachte ich mit dem Durcharbeiten des "Brauer/Schneider, Der Zivilrechtsfall in Prüfung und Praxis" und begann so, für die Anfertigung von Relationen gut vorbereitet, meine OLG-Ausbildung. Trotz des sicheren Gefühls, einen idealen Ausbilder gefunden zu haben, stellte sich eine natürliche Unsicherheit ein. Würde man vielleicht etwas gefragt werden, worüber man nicht Bescheid wußte? Natürlich gab es Dunkelgebiete, die zu erlernen man vernachlässigt hatte. Vielleicht hatte der 13. Zivilsenat, dem mein Ausbilder angehörte, auch eine Spezialzuständigkeit. Er hatte! Mit der Frage "Haben Sie schon einmal etwas über Fideikommißrecht gehört?" begann meine Ausbildung mit einer Attacke auf das frisch erworbene juristische Selbstbewußtsein und warf mich in einen lähmenden Zustand, der es nicht zuließ, meine Unkenntnis zu offenbaren. "Ja", log ich, getreu der zu Schulzeiten erlernten Strategie, Unkenntnis und Halbwissen zu verschleiern und darauf zu hoffen, daß der Nächste drankommt. Doch wer war der Nächste? Außer mir und meinem Ausbilder gab es keinen in dem Raum, an den die Frage hätte weitergereicht werden können. Mußte jetzt nicht unweigerlich der vernichtende Schlag mit der Frage "Na, dann erzählen Sie mal!" kommen? Er kam nicht. In diesem Moment erfuhr ich an eigenem Leibe, warum "Mac" eben der dufte Typ war,als der er von den Mitreferendaren gelobt wurde. Wohl wissend über die Falle, in die sich sein Referendar begeben hatte, ließ er diese nicht zuschnappen. Vielmehr half er ihm mit einem "Na, dann wissen Sie mehr als ich" nicht nur heraus, sondern stellte ihn auf sicheres Terrain, indem er von der Fideikommißakte berichtete, die er als Berichterstatter zu bearbeiten hatte und zeigte Ansätze zu einer möglichen Lösung auf. Natürlich habe ich dies dankbar aufgegriffen und durch intensives Literaturstudium mir die erforderlichen Spezialkenntnisse angeeignet und einen Lösungsvorschlag vorgelegt. Den letzten Schliff erhielt dann die Fideikommißsache Göttsch (Gesch.Nr. 13 Fs 2/73) in einer Kellerkneipe am Karl-Muck-Platz bei einem Glas Bier, zu dem mein Ausbilder mich eingeladen hatte.
Diese Geschichte festzuhalten, erscheint mir wichtig, weil sie einen Charakterzug Dr. Makowkas illustriert, nämlich menschliche Schwächen zu erkennen, diese nicht auszunutzen, sondern sie so zu überspielen und Hilfestellungen anzubieten, daß sein Gegenüber keinen Gesichtsverlust erleidet.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an meine Vereidigung als Richter vor dem 13. Zivilsenat. Sie wurde durch den damaligen Präsidenten Dr. Stiebeler mit der rhetorisch formulierten Frage: "Die Eidesformel ist Ihnen bekannt"? eingeleitet. Mit einem leichten Schütteln des Kopfes, das nur die zu Vereidigenden sehen konnten, verhinderte der beisitzende Dr. Makowka die bei einer Bejahung sichere Frage :"Na, dann erzählen Sie mal!" zu Gunsten einer ausweichenden Antwort: "Durchgelesen habe ich sie schon, aber der genaue Wortlaut ist mir nicht mehr gegenwärtig."
Ich bin mir sicher, daß mein Ausbilder sich an die damals von mir als liebens- und nachahmenswert empfundenen Reaktionen nicht mehr erinnern wird. Wahrscheinlich sind sie auch für ihn von solcher Selbstverständlichkeit gewesen, daß er sich ihrer gar nicht bewußt war. Ich habe mich später häufig in Situationen, in denen ich wiederholt unwissende Referendare oder schlecht vorbereitete Anwälte spontan mit negativen Reaktionen hätte bedenken können, einen Augenblick zurückgelehnt und mich gefragt, was "Mac" in diesem Fall gemacht hätte. In vielen Fällen konnte das zu Sagende dann menschlicher verpackt werden.
Jochen Cassel