Es war im Dezember vor etwa dreißig Jahren, da saß ein junger Gerichtsassessor am Landgericht Hamburg spät abends in seinem Dienstzimmer am Sievekingplatz. Das große Gebäude war menschenleer. Auf den langen, schmucklosen Fluren brannte kaum noch Licht. Der Assessor war seit einem halben Jahr Richter und hatte gerade in einer anderen Zivilkammer ein lange verwaistes Dezernat übernommen, in dem sich die entscheidungsreifen Akten türmten. Für die nächste Woche mußten noch zwei schwierige Urteile zum anstehenden Verkündungstermin abgesetzt werden. Und der Herr Direktor, der täglich nur kurze Zeit im Dienst erschien, wünschte die Vorlage der Urteilsentwürfe zum Freitagmittag, damit er sie in seiner schmalen Aktentasche zur Lektüre am Wochenende mit nach Hause nehmen konnte. Deswegen arbeitete der junge Assessor an diesem trüben Dezemberabend noch über Bergen von Akten in seinem Zimmer, das zugig kalt, seit über zwanzig Jahren nicht mehr gestrichen und von bescheidener Ausstattung war.
Vor seinem Eintritt in den Staatsdienst war er zwei Jahre lang Rechtsanwalt gewesen und es daher gewohnt, daß der Arbeitsag viele Stunden hatte. Die Menge der Arbeit drückte ihn nicht so sehr, und eigentlich hätte er mit seiner richterlichen Tätigkeit, um die er sich ja beworben hatte, zufrieden sein sollen.
Was ihn bedrückte, war dieser große, unpersönliche Apparat, in dem ein ferner Präsident und ein namenloses Präsidium die Geschicke lenkten. Auch sein Geschick, ohne ihn, den jungen Assessor, auch nur gesehen zu haben oder zu kennen. Die hatten vielleicht kurz seine unergiebige Personalakte überflogen und es dann dem Geschäftsleiter überlassen, ihm beim Dienstantritt dieses Zimmer zuzuweisen. Alles weitere erreichte ihn schriftlich über seine Geschäftsstelle: die ihm zugeteilte Arbeit genauso wie jüngst die Nachricht über den Wechsel in eine andere Zivilkammer. Würde er jetzt wenigstens für ein Jahr in dieser Kammer bleiben können? Machte es Sinn, die vielen entscheidungsreifen Akten anzupacken? Auch der Herr Direktor hatte in seiner knapp bemessenen Zeit keine Antwort auf diese und viele weitere Fragen, die den Assessor bewegten.
Da klopfte es an der Tür. Herein trat ein Herr Makowka, der neulich beim Kollegen nebenan gewesen war und auch ihn, den Assessor, kurz begrüßt hatte. Der Präsidialrichter des Landgerichts kam - wie er sagte - "auf eine Zigarettenlänge", weil sein eigener Vorrat an Zigaretten im Laufe des langen Arbeitstages verbraucht war. Und er blieb in dem ungemütlichen Zimmer des Assessors für viele gemeinsame Zigarettenlängen, bei denen der Assessor seine Fragen stellen konnte und ausführliche Antworten erhielt. Das Gespräch dauerte so lange, bis wirklich alles besprochen war. Der Druck der Arbeit, das Klima in der Kammer, die erste Einzelrichtersitzung, Erwägungen zum Kammerwechsel, das private Umfeld des Assessors, seine beruflichen Neigungen und Wünsche, ein Wort zu den Kollegen, Strafkammern und Zivilkammern, Spezialkammern, Richterfortbildung, die künftige Beurteilung durch den Herrn Direktor, das Pensum, die Maßstäbe: alles das kam zur Sprache.
Erstmals hatte der Assessor in seinem jungen Richterdasein das Gefühl, nicht mehr in einem unpersönlichen Apparat zu arbeiten. Zwischen ihm und dem fernen Präsidenten sowie dem namenlosen Präsidium, die die Geschicke lenkten, stellte nun ein Mensch Beziehungen her, der sich für den Assessor interessierte und ihm das Gefühl gab, daß dieses Kennen und diese Bewertungen bei Lenkung seiner Geschicke nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben würden.
Als sich der Präsidialrichter verabschiedete, begleitete der Assessor ihn zur Tür und sah ihm nach, wie er über den langen, fast unbeleuchteten Flur ging und sich - fast außer Sichtweite - eine seiner eigenen Zigaretten anzündete.
Uwe Mückenheim