Allen nicht mehr ganz jungen Lesern wird die Schulfunksendung "Neues aus Waldhagen" noch in Erinnerung sein, Staatsbürgerkunde der Nachkriegszeit, verpackt in die anschauliche Beschreibung des politischen Alltags in einem niedersächsischen Dorf - wir wurden Zeugen des kommunalpolitischen Geplänkels in deftiger Sprache. Bauernschlaue Kabinettstückchen, herzhafte Streitkultur, politische Schmollwinkel, Schurken, Helden, all’ das machte die Szene aus.
Leider sieht sich der NDR außerstande, zu einer wie auch immer gearteten Rekonstruktion der Geschehnisse beizutragen. Die Originalbänder werden nicht herausgegeben, Abschriften existieren nicht, an eine Wiederholung ist nicht gedacht. Vergangen und vorbei.
Tatsächlich? Seit mehr als einem Jahr in die schleswig-holsteinische Kommunalpolitik geraten, komme ich mir manchmal vor wie in Waldhagen: Was einzelne Bürger sagen, sei ihm egal, sagt ein Ratsmitglied der Partei mit alter Tradition, "Ich bin das Volk!" - das muß er irgendwo gehört haben. War das in Waldhagen?
"Wir sind die gewählten Vertreter, die Bürger brauchen wir nicht zu fragen". War das in den Fünfziger Jahren? In Waldhagen oder wo sonst?
"Ich bin gewählter Ratsherr, ich mache, was ich für richtig halte", schrie einer roten Kopfes - diesmal aus den bürgerlichen Reihen und rauschte aus der Ratsversammlung, als ihm Parteifreunde Vorwürfe machten. Schleswig-Holstein 1995? oder doch wieder Waldhagen?
Als die kleine Gemeinde, in der dies alles zu erleben ist, sich anschickte, eine Stadt zu werden, suchten die Kieler Kommissare ratlos nach städtischen Merkmalen. Aber wozu liegt man so nahe an Hamburg? Die Kieler wurden - so kolportiert man - in den sechsten Stock des Rathauses (Baustil der Siebziger Jahre mit dem Charme einer städtischen Badeanstalt, geziert, obwohl nicht bayerisch, von weißen Kacheln und blauen Fensterrahmen) gebeten, um das Stadtbild zu besehen. Man machte einige Bauernhöfe aus, einzelne Siedlungshäuser, hier und da tatsächlich ein Mehrfamilienhaus, Weiden, Eichen, Knicks und Kühe sowie ein schmales Flüßchen, die Düpenau, der Pinnau zustrebend. Sehr dörflich das alles, mäkelten die Kommissare. So ein Flecken wollte Stadt werden?
Aber dann doch: Da fielen ganz in der Nähe die Hochhäuser des Osdorfer Born ins Auge. Das sah sehr städtisch aus! Man ließ die Kieler Herren in dem Glauben, hier sähe man die ersten "zarten" Ansätze zur Stadtentwicklung.....
Nun, so wird die Geschichte am Stammtisch erzählt - natürlich ist kein Wort wahr. Neues aus Waldhagen.
Nicht, daß es hier in Schleswig-Holsteins tiefem Süden 1995 einen Bauern Piepenbrink gäbe. Er war eine der farbigsten Figuren in Waldhagen. Sein urwüchsiges Platt und sein Dickschädel beherrschten das kommunale Politleben. Damit kann nun die heutige Szene nicht konkurrieren. Zwar sprechen die "Ureinwohner" untereinander noch das traditionelle Idiom, wenn sie in Stimmung geraten, die Charakterköpfe aber sterben aus, wie überall in unserer stromlinienförmigen Dienstleistungsgesellschaft. Die Kommunalpolitiker tun das, was alle Politiker tun. Sie streiten sich - immer schön in den parteipolitischen Lagern - um Sozialwohnungen, Gewerbeansiedlung, Politikformen, um die Frauenbeauftragte, um das Jugendzentrum, um den Weihnachtsmarkt. Dies alles - wie Juristen entsetzt bemerken müssen - ziemlich unbekümmert um die Rechtslage. Jeder führt die einschlägigen Vorschriften mehr oder weniger korrekt im Munde. Ihre Auslegung aber: Eine Mischung aus Bauernschläue und genialer Mißachtung von Sinn und Zweck der herangezogenen Normen. Gelegentliche Gespräche mit der Kommunalaufsicht bestätigen diesen genialen Zug zum eigenen "Stadtrecht".
"Don is'n Ding - snacken könt wi all", war etwa das Motto, das mich Anfang 1994 bewog, vom gelegentlichen abendlichen Müßiggang zu lassen und mich als Bürgerliches Mitglied einer der in diesem Ort des schleswig-holsteinischen Südens vertretenen Parteien anzuschließen. Hochdeutsch ausgedrückt, hatte ich sowohl die allgemeine als auch meine eigene Politikverdrossenheit satt. Die distanzierte Arroganz einer Betrachterin des mäßig überzeugenden Polittreibens aufzugeben und als bisher politisch nicht aktive Bürgerin selbst auszuprobieren, ob der Sache nicht neue Akzente zu geben wären, erschien mir reizvoll.
Meine Erwartungen waren nicht hoch. Der Entschluß ging dahin, so schnell wie möglich das Weite zu suchen, falls sich die Sache als so unerträglich erweisen sollte, wie ich sie mir vorstellte. Heute - nach 1 1/2 Jahren - hat sich der Blickwinkel verändert. Unerträglichkeit ist kein Kriterium mehr, eher die Frage, ob man Angefangenes einfach aufgeben und Menschen, die Vertrauen in die gemeinsame Arbeit gefunden haben, wieder verlassen kann, wann immer der Frust zuschlägt.
Es ist viel zu gestalten in einer so kleinen Stadt, die über eigene Finanz- und Planungshoheit verfügt, in der es Schulen, Sportplätze, ein Jugendzentrum und Kindergärten gibt, die Neubaugebiete und Gewerbeflächen entwickelt und an Verkehrsproblemen leidet. Wie war das doch gleich: "Don is'n Ding - snacken könt wi all". Und so ist es nun wohl einstweilen aus mit dem gelegentlichen abendlichen Müßiggang.....
Karin Wiedemann