Der Berliner Tagesspiegel vom 06.10.1995 berichtet über eine Variante des Streits über richterliche Unabhängigkeit, die alle Aufmerksamkeit verdient. Der Bericht besagt einstweilen etwas über Vorwürfe und teilt mit, was geschehen sein soll. Der Sachverhalt - die Unterscheidung von Soll und Ist! - wird im Laufe des weiteren Verfahrens gewiß zutage treten. Dann wird man urteilen können. Die Sache ist es jedenfalls wert, daß man sie im Auge behält.
Günter Bertram
Stuttgart. Erstmals in der bundesdeutschen Justizgeschichte trifft einen führenden Richter die volle Härte des Disziplinarrechts: Der Präsident des Verwaltungsgerichts Freiburg, August Backhaus, wird bis auf weiteres zum Verwaltungsgerichtshof nach Mannheim versetzt und muß dort als beisitzender Richter arbeiten, allerdings bei bisherigem Gehalt. Das beschloß das Richterdienstgericht beim Landgericht Karlsruhe, eine Art Selbstjustizorgan der Richterschaft. Mit diesem Auftrag an das Justizministerium reagierte das Gremium auf eigenmächtige Eingriffe von Backhaus in Urteile untergebener Richterkollegen. Allerdings sind Abordnung und Degradierung nur vorläufig und gelten zunächst für die Dauer des "förmlichen Disziplinarverfahrens", das jetzt erst eröffnet wird. Backhaus hat gegen die Versetzung Beschwerde eingelegt, die aber keine aufschiebende Wirkung hat.
Dem 63jährigen Präsidenten wird vorgeworfen, als Kammervorsitzender seines Gerichts wiederholt Urteilsbegründungen junger Einzelrichter umformuliert zu haben, insbesondere bei Asylverfahren, und damit gegen die richterliche Unabhängigkeit verstoßen zu haben. Öffentliche Empörung erntete ein Asylurteil,
in dem es geheißen hatte, Unehrlichkeit sei in Pakistan "ein sozialtypisches Phänomen". Später stellte sich heraus, daß der junge Einzelrichter diese Formulierung auf Drängen des Präsidenten aufgenommen hatte. Es soll auch Fälle gegeben haben, in denen Backhaus ohne Wissen der Einzelrichter Urteilsbegründungen nachträglich verändert hat. Nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe hatte Justizminister Thomas Schäuble (CDU) im April ein disziplinarrechtliches Vorermittlungsverfahren gegen Backhaus in Gang gebracht und nach dessen Abschluß Ende Juli ein förmliches Disziplinarverfahren samt vorläufiger Dienstenthebung beantragt.
Über den Spruch des Richterdienstgerichts gehen die Meinungen auseinander. Backhaus ließ seinen Anwalt erklären, er begrüße, daß der weitergehende Antrag auf Dienstenthebung abgewiesen worden sei. In Stuttgarter Regierungskreisen sieht man es anders herum: "Jeden Morgen nach Mannheim fahren und dort als normaler Richter schaffen zu müssen, ist für einen Gerichtspräsidenten doch wohl schlimmer, als eine Zwangspause", so ein Insider.
Der Fall gilt in der Justizgeschichte des Bundes als beispiellos. Das
harte Vorgehen des Richterdienstgerichts gegen einen Kollegen wird in Stuttgart
auch im Zusammenhang mit dem Fall Rainer Orlet gesehen. Der Mannheimer
Strafrichter hatte durch Sympathiebekundungen für den rechtsradikalen
NPD-Chef Deckert Empörung ausgelöst, war aber zunächst im
Amt geblieben, bis er im Mai vorzeitig in den Ruhestand ging. Damals war
der Richterschaft Zaudern und mangelnde "Selbstreinigungskraft" vorgeworfen
worden. Womöglich soll der Fall Backhaus den Gegenbeweis liefern."