"Mögen die Richter unseres Landes nie wieder vergessen, daß es eine Richteranklage gibt, und mögen sie erkennen, warum sie erdacht worden ist. Und mögen sie fähig werden, den Appell zu hören, den die Richteranklage durch ihre bloße Existenz aussendet in die Häuser der Justiz. ..."
Damit schließt Hans Wrobel seine "Bemerkungen zum 8. Mai 1945, zur Richteranklage speziell und zur jüngeren Justizgeschichte überhaupt (DRiZ 1995, 199/203/).
Er meint, das Mannheimer "Deckert-Urteil" sei als ein wahrer Glücksfall über die deutsche Richterschaft gekommen, insofern als es bewirkt habe, daß die Richteranklage aus ihrem unverdienten Dornröschenschlaf gerissen und endlich wiederentdeckt worden sei. Der Glücksfall als solcher hat sich durch den Rückzug Orlets ins Privatleben in der Hauptsache erledigt (es sei denn, man fände es angezeigt, nunmehr - vielleicht auch als Ausfallbürgen - den Vorsitzenden und seine Beisitzerin in den Schwitzkasten zu nehmen), so daß es müßig ist, die Gründe aufzuzählen, die wohl doch für die Dürftigkeit der gedachten Anklage sprächen (eine Einsicht, derenthalben Orlets Abgang in Stuttgart mit hörbaren Seufzern der Erleichterung aufgenommen worden ist). ...
Wrobel beklagt, daß der frische Elan, der sich bald nach dem Kriege in den Landesverfassungen Bremens und Hessens in Gestalt der Richteranklage (als Institution) niedergeschlagen habe, schon 1949 vom Grundgesetz verwässert, dann überhaupt verdrängt und vergessen worden sei:
"Die Bestrebungen der demokratischen Reformer gingen an Herz und Kopf der Richter der Nachkriegszeit glatt vorbei" (a.a.O. S. 200); sie wurden erstickt in der - halbwegs noch heute fortwirkenden - Uneinsichtigkeit eines Berufsstandes. Zur Bestätigung dessen läßt sich in der Tat zunächst Biographisches und Literarisches anführen (so z.B. a.a.O. Fn. 2, 4, 8 und 9).
Trotzdem ist die Analyse in Ansatz und Ergebnis rundum verfehlt:
Die westlichen Alliierten hatten 1944/45 erwartet, sie würden mit ihren Demokratisierungsbemühungen im besiegten, nazistisch verseuchten Deutschland auf erbitterten Widerstand treffen, nicht zuletzt in der Bürokratie, der Richter- und Beamtenschaft. Diese Einschätzung wurde auch von den deutschen Antinazis des In- und Auslands weithin geteilt - mit damals sehr beachtlichen Gründen. Würde man nicht den Bock zum Gärtner machen, wollte man dem alten Personal die Mitwirkung am Neubau von Staat und Gesellschaft gestatten? Es war diese begreifliche und realistische Sorge, die auch in den Verfassungsbestimmungen über die Richteranklage ihren Ausdruck gefunden hatte.
Bekanntlich kam es dann, zum Erstauen des Auslands, aber auch der Deutschen selbst, ganz anders: Wiederaufbau, Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Grundrechte, Wohlfahrt - für den westdeutschen Staat und seine Bürger waren das nur verschiedene Seiten einer Medaille. "Höchst unverdient, nach einem selbst angezettelten Krieg und 12 Jahren der Verbrechen!", könnte man (sozusagen geschichtstheologisch) einwerfen. Mag schon sein: aber so war es nun einmal! Deshalb, getragen von der Gunst der Umstände (die sich vom Schicksal der Ostzone drastisch unterschieden), nicht weil die Söhne bessere Menschen gewesen wären als ihre verstrickten Väter, sind die Richter (und keineswegs sie allein!!) zu "Demokraten" geworden; und die Rechtsprechung hat dann zum Aufbau und zur Festigung von Rechtsstaat und Demokratie kräftig beigetragen. Wiederum: nicht wegen des moralischen Öls, mit dem die Richter plötzlich gesalbt gewesen wären, sondern weil das, was sie nun taten, zum Programm von Staat und Gesellschaft geworden war, zu dem es - glücklicherweise! - eine Alternative (wie insbesondere in der Weimarer Republik, wo selbst die Reichsverfassung dem Volk zwei verschiedene Reichsfarben zur Auswahl gestellt hatte: "Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold. Die Handelsflagge ist schwarz-weiß-rot mit den Reichsfarben in der oberen linken Ecke"!!) einfach nicht gab.
So findet es seine zwanglose und durchaus vernünftige Erklärung, daß 1949 im Grundgesetz über die Richteranklage substanziell weniger steht als in den früheren Landesverfassungen: Der Argwohn, es möchte Richter geben, welche darauf sännen, die Demokratie zu sabotieren, war weitgehend (allerdings noch nicht gänzlich) geschwunden. Daß der Art. 98 (2), (5) GG dann - seit seiner Kreation - Theorie ohne Praxis blieb, ist dem weiterhin günstigen Verlauf westdeutscher Gesellschaftsgeschichte zu danken, liegt also - ganz entgegen Wrobel - nicht am Verdrängen und Vergessen und erhärtet gerade nicht, was der Autor mit zirkulärer Argumentation für bewiesen erklärt (Demokratiedefizit bei den Richtern pp.).
Der "Jurist im Systemwechsel" - als Spezialfall der Gesellschaft in den Umbrüchen der Neuzeit - ist das große Thema des Konstanzer Professors Bernd Rüthers (letztlich: Ideologie und Recht im Systemwechsel, C.H. Beck 1992), und alles Vorstehende ist kaum mehr als die Nutzanwendung seiner Forschungen auf die Frage, die Wrobel aufwirft und so unzulänglich beantwortet:
Nein, "Orlet" war ganz gewiß nicht "genau der Fall", für den die Reformer von 1945 die Richteranklage erdacht hatten (so aber Wrobel a.a.O. S. 203 re.). Damals hatte man wahrlich Sorgen anderen Gewichts und Kalibers als unsere aufgepustete Mannheimer Provinzaffäre.
Was mag das nun für ein Appell sein, der "in die Häuser der Justiz" hinein erschallen soll - zu welcher Raison soll er die Richter bringen? Was Wrobel dazu schreibt, hat wenig Sinn. Was er nicht schreibt, aber vielleicht meint: darüber müßte man spekulieren. Das will ich unterlassen.
"Vergangenheitsbewältigung" indessen war immer schon ein beliebtes Gewand, in dessen Schutz und Schleier ideologische Tageskonflikte sich gut moralisieren und ausfechten ließen. Auch das steht bei Rüthers zu lesen.
Günter Bertram