"Wir gedenken der Opfer, die von 1933 bis 1945 durch Richter und Staatsanwälte der Hamburger Justiz entrechtet, mißachtet, gequält, ihrer Freiheit beraubt und zu Tode gebracht worden sind. Ihr Leiden ist uns Mahnung."
So der Wortlaut der am Eingang des Oberlandesgerichtsgebäudes angebrachten Bronzetafel, die Justizsenator Klaus Hardraht am 9. Mai 1995 mit einer Ansprache vorstellte. Scham über das Versagen des Gewissens und der Wille, für die Zukunft zu mahnen, waren Mittelpunkt seiner Ausführungen. Er schloß mit den Worten: "Wir schämen uns für das geschehene Unrecht. Wir trauern um die Opfer. Wir dürfen nicht vergessen. Die Tafel wird uns mahnen."
Die Tafel selbst war bei Veranstaltungsbeginn schon enthüllt. Die tatsächliche Ent-Hüllung dieses Tages war eine andere. Verborgen hinter einem riesigen weißen Tuch erwartete die Beteiligten das "lebende Bild". Kollegen des Hamburger Richtertheaters hatten es zum Gedenken an die Opfer nationalsozialistischer Justiz vorbereitet. Das Tuch fiel, und sichtbar wurde die gemeuchelte Justitia - über eine hohe Leiter gelegt, in weiße Binden gewickelt, Waage und Schwert kraftlos herunterhängen lassend. Darunter der Richter: Massig, bedrohlich, finster, unbarmherzig. Davor das Volk - entsetzt, erstarrt, in Furcht und Schrecken. Was war geschehen? Das Bild zeigt den Moment der Urteilsverkündung in der Strafsache gegen den 1907 geborenen Kohlenarbeiter Max Schlichting wegen Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung. Der 1. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts verurteilte ihn am 16. Januar 1945 zum Tode.
Es heißt in dem Tenor des Urteils:
"Der Angeklagte, ein gemeinschaftsfeindlicher Kommunist, hat sich am 7. Juni 1944 in ein Straßengespräch eines Zivilisten und eines Soldaten über die Aussichten der gerade begonnenen Invasion eingemischt und trotz verständiger und zuversichtlicher Aufklärung der Gesprächspartner unbelehrbar und eigensinnig die Auffassung vertreten, wir bekämen eine Wucht, es werde höchste Zeit, wir würden zu großschnauzig, der Krieg könne nicht gewonnen werden, die Amerikaner könnten wir nicht besiegen, sie würden auch wie nach 1918 für uns sorgen.
Der Angeklagte wird deshalb wegen Feindbegünstigung und öffentlicher Wehrkraftzersetzung zumTode verurteilt.
Die Ehrenechte werden ihm auf Lebenszeit aberkannt.
Er hat die Kosten des Verfahrens zu tragen."
Das Bild der gemeuchelten Justitia stammt in seiner Idee von John Heartfield. Die Vorlage der Justitia ist einer Fotomontage ohne Text, datiert auf den 30.11.1933, entnommen. Sie hat bei Heartfield die Überschrift "Der Henker und die Gerechtigkeit" und die Unterschrift "Göring im Reichstagsbrand-Prozeß: 'Für mich ist das Recht etwas Blutvolles'."
Max Schlichting, der Verurteilte, wurde am 24.3.1945 hingerichtet. Gauleiter Kaufmann hatte sein Gnadengesuch abgelehnt. Schlich-tings Abschiedsbrief nahm man zu den Akten - er durfte nicht an die Angehörigen weitergeleitet werden. Schlichting schrieb:
"Liebe Schwester und Schwager,
soeben erhalte ich die fürchterliche Nachricht, daß mein Gnadengesuch abgelehnt worden ist. Liebe, - vergeßt Euren unglücklichen Bruder nicht, der wegen ein paar unbedachter Worte hingerichtet wurde. Hoffentlich seht Ihr Eure Söhne noch einmal wieder. Lebt wohl und vergeßt mich nicht - als letzten Gruß - Euer Bruder und Schwager Max
Nun folge ich unseren lieben Hanni, Margret und Kai nach, die bei einem Luftangriff ums Leben kamen."
Diesen Brief zitierte Hans-Erich Jürgens in seinen nach dem Abläuten des ergreifenden lebenden Bildes gesprochenen Worten. Zu Recht wies er auf den für unseren Berufsstand bedrückenden Umstand hin, daß überwiegend dieselben Richter die Todesurteile am Fließband fällten, die zuvor im demokratischen Staat der Weimarer Republik Recht gesprochen hatten. Diensteifrig und würdelos eilten sie unter die Fahnen Hitlers. Wenige nur standen außerhalb, wie etwa Lothar Kreyßig. Die überwiegende Zahl fügte sich den Ansprüchen der braunen Machthaber. Göring: "Der Richter muß ein lebendiger Träger der Weltanschauung des Nationalsozialismus sein".
Dieser jähe Absturz der Mehrzahl deutscher Richter und Staatsanwälte aus dem demokratisch und rechtsstaatlich verfaßten Rechtsleben in die rechtliche Barberei und der damit für jeden einzelnen verbundene Werteverlust lassen bestürzt die Frage nach der Wiederholbarkeit solcher Veränderung aufkommen.
Die abschließenden Passagen der jürgensschen Rede sollen hier zitiert werden:
Es verwundert angesichts dieser Entwicklung nicht, bleibt aber beschämend für unseren Rechtsstaat, daß keiner, auch nicht einer der schuldbeladenen Richter und Staatsanwälte der Straf-und Sondergerichte sowie des berüchtigten Volksgerichtshofs von einem Gericht der Bundesrepublik später verurteilt worden ist. Die kollektive Verdrängung hatte ihre Früchte getragen.
Heute leben wir in einer anderen Zeit. Die historischen Fakten des Unrechts sind gesammelt, sie liegen endlich auf dem Tisch, für jedermann sichtbar. Arbeiten - um nur einige zu nennen - wie die von Hans Robinsohn "Justiz als politische Verfolgung", erschienen 1977, von Werner Johe "Die gleichgeschaltete Justiz" erschienen 1983, von Jörg Friedrich "Freispruch für die NS-Justiz", erschienen 1983, von Ingo Müller "Furchtbare Juristen", erschienen 1987, und ein von der Justizbehörde Hamburg 1992 herausgegebener Sammelband "Für Führer, Volk und Vaterland, Hamburger Justiz im Nationalsozialismus", sowie die vorzügliche Ausstellung des Bundesministers der Justiz "Im Namen des Volkes, Justiz und Nationalsozialismus", haben entscheidend zur Aufklärung beigetragen.
Erforschung und Aufarbeitung von Geschichte, wie sie jetzt nach 40 bis 50 Jahren erst geleistet werden konnte, geben uns erst die Chance, uns der Geschichte auch zu stellen, uns ganz persönlich auf sie einzulassen, unsere politische Sensibilität so zu stärken, daß wir neuen Anfechtungen widerstehen können. Diese sind bereits mit dem wiederauferstandenen Rechtsextremismus deutlich sichtbar.
Ist es undenkbar, daß die Justiz abermals versagt? Es sei kurz an das Deckert-Urteil vom 22.6.1994 erinnert, das den der Volksverhetzung, der Aufstachelung zu Rassenhass, der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener überführten Angeklagten als "charakterstarke, verantwortungsbewußte Persönlichkeit mit klaren Grundsätzen" geradezu idealisiert. Die Formulierung der Urteilsgründe liest sich streckenweise wie eine Verharmlosung des Völkermordes an den Juden.
Daß ein solches Urteil "Im Namen des Volkes" verkündet wird, liebe Kolleginnen und Kollegen, das unsere Geschichte verleugnet, kann nicht hingenommen werden. Es ist eine Beleidigung für die Opfer, derer wir heute gedenken wollen.
Dies Urteil ist ein Zeichen dafür, daß auch heute nicht alle Richter geschichtsbewußt und demokratisch denken; auch die Richterschaft ist nur ein Spiegelbild der gesamten Gesellschaft.
Wir dürfen nicht nachlassen, uns die Lehren aus der Geschichte immer wieder zu erarbeiten, sie auszusprechen, sie weiterzugeben. In unserem Beruf haben wir eine besondere Verantwortung dafür, wie Menschen in unserem Land miteinander umgehen, ob friedlich und würdevoll, oder feindlich und menschenverachtend.
Möge uns also das Thema "Unrecht in der Nazizeit" noch lange umtreiben.
Meine Damen und Herren, die soeben enthüllte Tafel am Hanseatischen Oberlandesgericht ist ein Schritt, aber nur ein kurzer Schritt, in die richtige Richtung. Der Senat steht seit 1991 in der Pflicht, sein Versprechen einzulösen, ein würdiges Mahnmal für die Opfer der NS-Justiz auf dem Sievekingplatz zu errichten. Nur ein solches Denkmal würde den politischen Willen klar erkennen lassen, hier, in Hamburg, an dieser Schlagader der Justiz zwischen den Gerichtsgebäuden, einen Ort der Begegnung mit der Vergangenheit, der Erinnerung und der Mahnung zu schaffen. Der Senat muß sich hierzu endlich erklären,
Wir freuen uns sehr darüber, daß auf die Anregung der Initiative "Hamburger Juristen für den Frieden" an der Hochschule für Bildende Künste für alle Fachbereiche am 27.4.1995 ein Ideenwettbewerb mit dem Thema "Mahnmal für die Opfer nationalsozialistischer Justiz auf dem Sievekingplatz" ausgeschrieben worden ist. Die ausgewählten Arbeiten werden, so hoffen wir, ab Juni 1995 im Hanseatischen Oberlandesgericht ausgestellt werden. - Ihrer aller Meinung dazu ist gefragt.
Lassen Sie uns "in Sachen Mahnmal" beharrlich bleiben, das sind wir den Opfern der 12-jährigen Gewaltjustiz von 1933 bis 1945 schuldig. Ich danke Ihnen."
Wilhelm Rapp hatte zuvor in seinen einleitenden Worten zur genannten Veranstaltung am 9. Mai 1995 zugleich auf eine in der Halle des Oberlandesgerichts gezeigte Ausstellung um den Juristen Arthur Goldschmidt hingewiesen und zu einem Besuch eingeladen.
Wer war Arthur Goldschmidt? Am 30. April 1873 in Berlin als Sohn jüdischer Eltern geboren, erhielt er die evangelische Taufe. Seine Laufbahn wurde die juristische. Am 27. Mai 1895 legte er die erste juristische Staatsprüfung ab und wurde am 19. Juli desselben Jahres Rechtsreferendar. Einen Tag später promovierte er zum Dr. jur. Die zweite Staatsprüfung legte Dr. Arthur Goldschmidt am 23. Februar 1899 ab. Er wurde am 3. März des selben Jahres Assessor in Hamburg. Den Richtereid leistete er am 31. Januar 1902, einen Tag vor seiner Ernennung zum Amtsrichter. In die folgende Zeit fällt die Gründung seiner Familie. Am 6. Januar 1913 wurde Goldschmidt Landrichter. Die Familie zog am 1. April 1916 nach Reinbek in die Kückallee Nr. 27 - heute Nr. 43. Am 16. November 1917 wurde Goldschmidt zum Oberlandesgerichtsrat ernannt. Er übte diese Tätigkeit bis zum 1. Dezember 1933 aus, an dem er entsprechend den nationalsozialistischen "Rassegesetzen" in den Ruhestand versetzt wurde. Am 26. November 1941 kam es zum zwangsweisen Verkauf des Hauses an den befreundeten Kaufmann Dobbertin. Goldschmidt - seine Frau war zuvor gestorben - wurde am 26. November 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Seine Söhne im Alter von 10 und 14 Jahren hatte er bereits ein halbes Jahr vor der Reichskristallnacht nach Italien geschickt, das Unheil voraussehend. In Theresienstadt gründete Goldschmidt die dortige evangelische Gemeinde, deren Prediger er wurde. Er gehörte nach Kriegsende zu den Befreiten des Lagers und kehrte 1945 nach Hamburg zurück. Im folgende Jahr schrieb er ein Buch über die evangelische Gemeinde Theresienstadt. Goldschmidt starb am 9. Februar 1947 während der Eröffnungsfeier der Reinbeker Volkshochschule.
Sein Sohn, Georges Arthur Goldschmidt (*1928), schreibt über den Vater:
Theresienstadt - tschechisch Terezin -, 60 km nördlich von Prag an der Eger gelegen, war eine Festungs-und Garnisonsstadt aus dem 18. Jahrhundert mit Kasernen, Kasematten und den feuchten, dunklen, kalten militärischen Einrichtungen, die wir heute schaudernd in musealen Anlagen dieser Art besichtigen können. Als Unterbringung für Soldaten waren die alten Gebäude schon lange als ungeeignet eingeschätzt worden. Die Festung wurde 1882 aufgegeben. Sie galt danach noch als befestigtes Lager, in dem um 1910, wie Meyers Konversationslexikon aus diesem Jahre vermerkt, Infanterie-Truppen in Garnison lagen. Für die Einrichtung eines Konzentrationslagers kamen die alten Gebäude jedoch gerade recht. In Theresienstadt wurde von der SS im November 1941 ein Konzentrationslager errichtet. Reinhard Heydrich arbeitete die Pläne für ein Sammellager aus. Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren sollten hier für ihren Weitertransport nach Osten zusammengetrieben werden. Im übrigen aber wurde Theresienstadt als Ort eines Ghettos der Alten, derjenigen, die über hohe Kriegsauszeichnungen verfügten und als Sammellager jüdischer Prominenter vorgesehen. Heute ist das ehemalige Konzentrationslager Theresienstadt eine Gedenkstätte.
Theresienstadt wurde als Vorzeigelager der Weltöffentlichkeit vorgestellt. Es sollte das Bild einer mustergültigen Siedlung erzeugt werden. Zu diesem Zweck baute man anläßlich eines Besuches des Internationalen Roten Kreuzes auf dem Markplatz sogar kurparkartige Einrichtungen. Ab 1942 gab es eine Art Kulturleben, das durch die zahlreichen inhaftierten jüdischen Künstler getragen wurde. Im Ausland sollte dies als Beweis für eine anständige Behandlung der Insassen dienen.
Tatsächlich lebten die Gefangenen in primitivsten Baracken mit Doppelstockbetten und dem nötigsten Inventar. Viele Menschen hausten in den Gemäuern der maroden alten Kasernen, 100-400 von ihnen in einen Saal gepfercht. Die Verpflegung war eintönig und mangelhaft, es fehlte an lebenswichtigen Nährstoffen und Vitaminen. Zehntausende starben auch in Theresienstadt an Hunger und Entkräftung. Die Zahlenbilanz zeigt es nüchtern: 153.000 Menschen wurden nach Theresienstadt deportiert. Davon wurden 87.000 weitertransportiert, 35.000.- verstarben im Lager und 17.000 wurden 1945 befreit, unter ihnen Arthur Goldschmidt.
Die Bilder Goldschmidts zeigen Alltagsszenen und Portraits. "Frau Parasky aus Wien" ist eine Zeichnung betitelt. Wir blicken in ein klares, kluges Gesicht mit aufmerksamen Augen, eine energische, tatkräftige Frau war sie wohl, bevor sie durch die Deportation aus ihrem Alltagsleben, von ihrer Familie gerissen wurde. "Vergast 1943" lautet die Unterschrift, die Arthur Goldschmidt dem Bild gab. . . . Die feinen Gesichtszüge der Frau Parasky lassen die Gedanken nicht los. Vor ihren Augen sollte bestehen können, was wir heute zum Gedenken an die Opfer leisten.