Ende 1994 machte ich auf Einladung Christa O'Brians einen Besuch im Wohnheim der Gemeinnützigen Wohnheimgesellschaft des Hamburger Fürsorgevereins v. 1948 mbH in der Max-Brauer-Allee. Das schmale Gründerzeit-Mietshaus zeigt von außen keine Besonderheiten. Viele Klingelknöpfe, viele Namen, ein Schildchen für das Büro. Gegensprechanlage und automatischer Türöffner sichern das Gebäude gegen unerbetene Besucher. Im Treppenhaus ging es bei meiner Ankunft gerade sehr lebhaft zu. Tischlergeselle H. versuchte mit einigen Helfern aus der angeschlossenen Tischlerwerkstatt, einen kräftigen Birkenstamm im Treppenauge zu befestigen. Es wird gerückt, gesägt, verkeilt und schließlich sitzt das Ding: Ein Kratzbaum für Kater Carlo, den Liebling des Wohnheims für Strafentlassene.
Das Ende der Achtziger Jahre renovierte Haus weist in sieben abgeschlossenen Wohnungen 21 Zimmer für haftentlassene Männer auf. Jeder hat seinen eigenen Raum. Jeweils drei Bewohner teilen sich in Küche und Badezimmer. Die Bewohner versorgen sich selbst. Besucher sind zugelassen. Im Keller hat man Gemein-schaftsräume und Telefone eingerichtet. Alkohol wird bei den Zusammentreffen im Hause und unter den Mitarbeitern nicht ausgeschenkt - auch nicht bei den Festen, die zu Weihnachten und im Sommer stattfinden und zu denen Freunde und Interessierte eingeladen werden. In den Privatbereichen können weder Alkohol noch Drogen völlig verhindert werden. Separat, von außen erreichbar, liegt das Büro des Wohnungsberaters, von dem in dem folgende Artikel Frau O'Brian's die Rede ist. Hier können ehemalige Bewohner, die inzwischen eine eigene Wohnung bezogen haben, Rat einholen. Mit Christa O'Brian steige ich die Stockwerke zum Dachboden hinauf. Im ausgebauten Dachgeschoß steht ein großer heller Raum für gemeinsame Gespräche zur Verfügung, in dem sich Bewohner und Betreuer regelmäßig zusammensetzen. Aus den Dachfenstern sieht man weit über Altona. Hier hat Frau O'Brian ein zweites, ruhiges Arbeitszimmerchen für sich. Es zu benutzen, fehlt ihr jedoch die Zeit. Die gelernte Kauffrau und Sozialpädagogin ist von großer Sanftheit im Umgang, leiser Stimme und verhaltenen Gebärden. Hinter den leisen Tönen spürt man Kraft, Ausdauer und Beharrlichkeit. Den ihr anvertrauten Menschen einen Halt zu geben, ohne ihnen die Selbständigkeit und die Würde zu nehmen, ist ihr Ziel. Sie vergißt nie eine Frage, wie es St. Exupéry von seiner Gestalt "Der kleine Prinz" sagt. Sie hört zu, diskutiert, wägt ab und entscheidet. Dabei bleibt es dann auch. Gegeneinander ausspielen lassen sie sich nicht die Mitarbeiter. Zur Verschwiegenheit gegenüber den weiteren Angehörigen des Teams lassen sie sich nicht verpflichten. Jeder muß alles wissen, sonst beginnt die Auslieferung an die Bewohner.
Mein Besuch dient der Vorbereitung einer Veranstaltung im Herbst, bei der sich der Fürsorgeverein und auch die Wohnheim GmbH in der Grundbuchhalle des Ziviljustizgebäudes präsentieren werden. Geplant sind eine Eröffnung mit Wortbeiträgen, Musik und Bücherstand und eine Fotoausstellung. Als ich nach Stunden gehe, ratschlagt man gerade im Treppenhaus, wie man Kater Carlo an den Kratzbaum gewöhnt. Ob er ihn wohl annimmt? Christa O' Brian möchte nicht, daß ich über den Kater und den Kratzbaum schreibe - das findet sie überflüssig. Soetwas hängt man nicht an die große Glocke. Sie möchte das Ganze sachlicher dargestellt sehen.
Die Gemeinnützige Wohnheimgesellschaft des Hamburger Fürsorgevereins v. 1948 mbH gibt dafür ein Flugblatt heraus, dessen spröde Positionen jede für sich die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten des Aufbaus einer kleinen bürgerlichen Existenz erkennen lassen - eines Lebens, das sich viele von den Haftentlassenen nach Christa O' Brians Beobachtungen wünschen:
Tel. 38 73 68
Modell betreutes Einzelwohnen zur Integration in das Wohnumfeld - unter dem besonderen Aspekt der Vermeidung von erneuter Obdachlosigkeit und der Bewältigung der Langzeitarbeitslosigkeit
· Praktische Unterstützung bei Wohnungsbezug: z.B: Hilfen bei den Renovierungsarbeiten oder Organisation von Hilfen beim Einkauf und Transport von Möbeln und Hausrat,
· Aufsuchende Hilfen in der Wohnung: Beratung bei der Haushaltsführung, Krisenintervention o.ä.,
Sprechstunden viermal wöchentlich in der Max-Brauer-Allee 138: Beratung in formellen Angelegenheiten und bei psychosozialen Problemen,
· Unterstützende Hilfen zum Ausstieg aus der meist bestehenden Langzeitarbeitslosigkeit: praktische Hilfen bei der Arbeits- oder Fortbildungsplatzsuche, stabilisierende Hilfe zum Erhalt des Arbeits- oder Fortbildungsplatzes,
· Kontakt zu den betreffenden Behörden wie z.B. Bewährungs- und Entlassenenhilfe, Sozialamt, Arbeitsamt, zum Arbeitgeber, zum Fortbildungs- und Umschulträger und zu allen für die Straffälligenhilfe relevanten Institutionen,
· Begleitung bei Behördengängen und Vorstellungsgesprächen nach Bedarf,
· Erkundung der Stadtteilangebote in allen Hamburger Bezirken in Bezug auf Beratung und Freizeit mit dem Ziel der Anbindung an Hilfsmöglichkeiten auf Stadtteilebene,
· Hilfen bei der Eingliederung in das Wohnungsumfeld und an die regionalen Angebote.
Unser Konzept hat sich als realitätsgerecht erwiesen. So bedarf es z.B. eines außerordentlichen Einsatzes, um bei der ohnehin herrschenden Wohnungsnot für Haftentlassene überhaupt noch eine Wohnung zu finden. Auf dem privaten Wohnungsmarkt ist es völlig aussichtslos, es bleiben nur die öffentlichen Wohnungsunternehmen mit ihrem besonders knappen Angebot. Nach der Wohnungsfindung sind dann viele unserer Bewohner mit den zu erfüllenden Formalien zum Mietvertragsabschluß überfordert. Ebenso sind praktische Hilfen beim Renovieren, Einkauf von Möbeln und Hausrat sowie Transport dringend erforderlich, damit die Startbeihilfen auch tatsächlich zweckgebunden eingesetzt werden. Hauptziel nach dem Auszug ist der dauerhafte Erhalt der unter Mühen gefundenen Wohnung. Dabei ist die persönliche Gesamtbefindlichkeit von ausschlaggebender Bedeutung. Es ist zu berücksichtigen, daß für viele der Aufenthalt in unserer Einrichtung die erste Erfahrung ist, in einem geordneten Wohnumfeld zu leben, da oftmals lange Haftstrafen verbüßt wurden. Auch bei noch so intensiver Vorbereitung auf Eigenständigkeit und bei aller Freude, endlich völlig selbstbestimmt in der eigenen Wohnung das Leben gestalten zu können, ergeben sich bei der praktischen Bewältigung dann doch Probleme.
Die Einsamkeit wird als quälend empfunden, zumal oft Möglichkeiten zu sinnvoller Freizeitbeschäftigung fehlen. Die Gefahr wächst, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen. Das mühsam Erreichte kann schnell wieder verloren gehen, an sich geringfügige Anlässe können in den alten Teufelskreis - erneute Straffälligkeit, Inhaftierung, Wohnungsverlust - zurückführen. Um das zu verhindern, bedarf es einer persönlich schon vertrauten Anlaufstelle, denn unsere langjährigen Erfahrungen zeigen, daß durchaus vorhandene vielfältige anderweitige Beratungsmöglichkeiten nicht in Anspruch genommen werden. Die Hemmschwelle ist offenbar zu groß. Das Büro der "Ambulanten Wohnbegleitung" befindet sich daher ebenfalls in der Max-Brauer-Allee 138, aber mit einem separaten Eingang. Denn wir wollen alles vermeiden, was weiter an den Wohnheimbetrieb binden könnte, und auch damit eine Voraussezung zur Integration in das neue Wohnumfeld schaffen.
Christa O'Brien