In der Zeit vom 03.06. bis 12.06.1994 weilte eine Gruppe von 16 Hamburger Richtern und Staatsanwälten in Königsberg.
Der Präsident des Stadtgerichts von Königsberg, Konstantin Filippowitsch Kremniew, hatte uns zu einem einwöchigen Besuch in die Stadt eingeladen. Die Reise war von Frau Gertrud Rokita und Herrn Dr. Werner Otto psychologisch und sachlich sehr gut vorbereitet worden.
Herr Bertram hatte mich schon vor langer Zeit um einen Bericht gebeten, den ich nunmehr mit einem gewissen Zaudern schreibe; aber nun steht schon der Gegenbesuch der Königsberger - Anfang Juni dieses Jahres - bevor.
Warum mein Zaudern? Königsberg ist meine Heimatstadt. Ich habe dort bis zum 14. Lebensjahr meine Kindheit verbracht und habe die Festungszeit miterlebt. Anfang 1945 meldete ich mich nach einem Appell des Ortsgruppenleiters freiwillig zum Volkssturm und wurde am Maschinengewehr und der Panzerfaust ausgebildet. Am 8. April 1945, dem Tag, als Königsberg fiel und von den Russen eingenommen wurde, wurde ich schwer verwundet, gelangte auf wundersamen Wegen aus der schon eingeschlossenen Stadt heraus - Operation in einem Feldlazarett bei Pillau, alsdann mit einem Lazarett-Frachter von Pillau nach Lübeck. Meine letzte Erinnerung an die Stadt: die brennende Kirche von Ratshof (dem Stadtteil, in dem unser Haus stand).
Aus Filmen und Zeitungsberichten wußte ich, daß es das alte Königsberg mit seinen Fachwerkhäusern in der Innenstadt, dem Schloß, dem Dom, der Albertinen-Universität, der großen Buchhandlung "Gräfe & Unzer" nicht mehr gibt. Der Stadtteil, in dem wir gelebt hatten, Amalienau/Ratshof, sollte zwar noch erhalten geblieben sein. Aber ob das Elternhaus, das Hufen-Gymnasium, die Luisenkirche noch erhalten waren - was kümmerte es mich, wenn die Stadt nicht mehr existierte.
So fuhr ich im Grunde wider Willen und mit Bangen in diese Stadt zurück, ein wenig aufgefangen durch die mich umgebenden Kolleginnen und Kollegen. ...
Unser aller Eindruck am Ende des Aufenthalts: Es war eine hinreißend schöne Reise. Das gilt nicht nur für Königsberg, sondern auch für die anderen Städte Ostpreussens, die wir sehen durften und in denen wir ebenfalls mit einer zu Herzen gehenden Gastfreundschaft aufgenommen wurden.
Ein ausführlicher Bericht würde mehrere Mitteilungsblätter füllen. Nur einige, natürlich sehr persönlich empfundene Eindrücke will ich wiedergeben, welche die anderen Teilnehmer, je aus ihrer Sicht, ergänzen könnten.
Sicherlich, das alte Königsberg gibt es nicht mehr. Die Innenstadt ist wie plattgewalzt, wahllos mit einigen Bauten aus der Stalin-Ära versehen, die wie Bulldozer auf einer Schotterhalde erscheinen. Stehengeblieben sind nur noch die Börse und die Ruine des Doms, der gerade restauriert wird. Aber wir waren ja nicht zu einer Stadtbesichtigung nach Florenz oder San Franzisco gefahren. Wir wollten ein Stück Ostpreussen und seine Menschen erleben.
Und diese Menschen, unsere gastgebenden Kolleginnen und Kollegen, in deren Wohnungen wir aufgenommen worden waren, gaben uns unendlich viel. Ich wohnte in der 3 1/2 Zimmer-Wohnung von Konstantin Filippowitsch Kremniew, zusammen mit seiner Ehefrau, Tochter, Schwiegersohn und Enkelin. Sie alle haben mich rührend umsorgt. Sie begleiteten mich auch auf meinen Wegen außerhalb des offiziellen Programms der Gruppe, etwa als ich meine frühere Schule, das Hufen-Gymnasium, besuchte oder als ich mich aufmachte, mein Elternhaus zu suchen. Und es steht noch. Zwar erkannte ich das Haus - jetzt ein Postamt - erst bei der zweiten Annäherung, als ich hineinging und den nahezu unverändert gebliebenen Treppenaufgang sah, das alte Treppengeländer, auf dem mein Bruder und ich so häufig heruntergerutscht waren. Meine Gastgeber hielten sich in meiner Nähe, aber ließen mich allein - so als ob sie spürten, was in mir vorging. ...
Ich könnte viel von den Gerichtsbesuchen berichten, vom russischen Rechtssystem, darüber spekulieren, ob es in Rußland jetzt eine unabhängige Justiz gibt oder nicht. Ich will es lassen. Unmittelbar - wichtiger und eindrucksvoller waren die gemeinsamen Unternehmungen mit den Gastgebern, das private Zusammensein in unseren Familien, die gemeinsamen Fahrten nach Cranz, Rauschen und Tilsit, die Wanderung auf den Dünen der kurischen Nehrung, die Schiffsfahrt durch das kurische Haff, der Besuch der Vogelwarte Rossitten und der Bernsteinmanufaktur in Rauschen. Wir haben viel von den Problemen des Landes gesehen und erfahren. Auf keiner meiner Auslandsfahrten bin ich jedoch auf Menschen getroffen, denen die Fröhlichkeit ein solches Herzensbedürfnis ist. So wurde auf den gemeinsamen Busfahrten - und nicht nur hier - viel gesungen und gelacht (und wir Hamburger waren froh, vorsorglich deutsche Liederhefte mitgenommen zu haben). In Tilsit beim Mittagessen, wieder an reich gedeckten Tischen, brach es aus allen heraus, und wir tanzten über Stühle hinweg mit unseren Gastgebern die Polonaise. Und in einer Ecke spielte eine Kapelle irgendwann das Ostpreußenlied. Die Reise nach Tilsit endete mit einem gemeinsamen Bad in der Sauna, wobei der Wodka (mit getrocknetem Fisch) wieder einmal reichlich floß.
Unsere Gastgeber hatten - wie wir später hörten - auf einen Teil ihres sicherlich nicht hohen Gehalts verzichtet, um uns überreichlich zu bewirten und zu beschenken. Sprachprobleme beim abendlichen Zusammensein in meiner Familie wurden mit Lexikon, Wodka und kleinen Zaubertricks, die ich aus meiner Jugend erinnerte, gelöst. Tagsüber hatte unsere Gruppe die charmanten Dolmetscherinnen Tanja und Mascha, beide russische Studentinnen, die Deutsch studieren und ihre Aufgabe vorzüglich lösten.
Ich hatte das Glück, in einem der noch ein wenig erhaltenen Stadtteile Königsbergs zu wohnen, nicht weit von meiner Schule und meinem Elternhaus. Natürlich wirkten viele der alten Gebäude, an die ich noch erinnere, verfallen, die Gärten verwildert. Aber irgendwann begann es, daß ich das alles nicht mehr sah. Menschen in Not - und die Not in Königsberg ist übergroß - haben andere Probleme. Zwei Wochen nach unserer Rückkehr riefen uns unsere Dolmetscherinnen Tanja und Mascha aus Kiel an; sie hielten sich dort für einige Tage im Rahmen eines Studentenaustausches auf. Wir holten sie zu einem Besuch nach Hamburg. Ein wenig enttäuscht berichteten sie darüber, daß sich die deutschen Studenten nicht um sie kümmerten. Bei einem gemeinsamen Treffen hätten sich ihre Gastgeber zum Fernsehen zurückgezogen (es war die Zeit der Fußballweltmeisterschaft). ... Nun hofften sie, mit uns wieder lachen zu können. Der Glanz unserer westlichen Fassaden schien sie nicht weiter zu interessieren. Ich glaube, eine von ihnen sagte: Hier in Deutschland, einem Land ohne Fröhlichkeit und Tanz, möchte sie nicht leben.
Um es abschließend zu sagen: Ich bin froh, es endlich geschafft habe, nach Königsberg zu fahren. In den Ängsten des Krieges hatte ich diese Stadt verlassen. Nun kehrte ich in ein Land zurück, in dem Menschen wohnen, die auf uns - so schien es mir - irgendwie gewartet haben. An einem Abend kamen wir im geselligen Beisammensein auch auf das Thema "Heimat" zu sprechen. Einer der russischen Gastgeber sagte: "Auch ich bin in diesem Land groß geworden. Es ist meine Heimat, und es ist Ihre Heimat.
Einigen wir uns darauf: es ist unsere Heimat!"
Wir freuen uns auf unsere Gastgeber aus Königsberg, Cranz, Rauschen und Tilsit. Wir verdanken ihnen ein großartiges Erlebnis. Für viele von uns Hamburger - seien wir ehrlich - war es eine schöne Reise von vielen. Für die aber, die nun zu uns kommen, wird es vielleicht der einzige Ausflug in den "goldenen Westen" sein; einige von ihnen werden davon wohl ein Leben lang zehren.