(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/94) < home RiV >
Die Rechtsprechung als Dienstleistung

(Das folgende Zitat ist in der Papierform der MHR die Photokopie eines Presseartikels)
 

Beherzigenswerte Worte! - dazu manche Sätze, auf die eines Tages vielleicht zurückzukommen sein wird. Aber nur einen wollen wir hier ins Auge fassen mit der Frage, ob auch er in den Beifall eingeschlossen werden kann. Es gibt Sentenzen, denen eine nahezu reflexhafte Zustimmung sicher ist - so wie man eine besonders gängige Melodie widerspruchslos mitsummt, sobald sie ins Ohr gedrungen und man sozusagen in ihr musikalisches Schwerefeld geraten ist. Aber warum sollte man sich der anheimelnden Versicherung, die Rechtsprechung sei "Dienstleistung", nicht ebenso getrost überlassen dürfen?

1. Vor eineinhalb Jahrzehnten, am 15. November 1979, hielt der damals nur kurz amtierende Justizsenator Wolfgang Curilla (er hatte dieses Ressort mitzuversehen, nachdem Frank Dahrendorf für den "Stolzenberg-Skandal" haftbar gemacht und zum Rücktritt genötigt worden war, während die Kür der Nachfolgerin noch ausstand) vor dem Hamburgischen Anwaltsverein einen Jubiläumsvortrag über das Thema "Justiz: Service für den Bürger".

Das Haar, welches ich damals in der Suppe glaubte finden zu müssen, hatte ich in das Mitteilungsblatt 4/1979 geklebt:

"Justiz - Service für den Bürger" - das klingt modern und fügt sich bruchlos in den Reigen gängiger Verkaufsstrategien, mit denen von der Tankstelle nebenan bis zur Bundesbahn - "bequem, sicher, schnell" - sich jedermann empfiehlt, der die Aufmerksamkeit der Kundschaft sucht. Die Bundeswehr steht mit der "Produktion von Sicherheit" zu Diensten,und auch die Polizei betreibt nichts als Service, indem sie zweckdienliche Verhaltensregeln für

Gutmütige, Alte und Kinder unter das Volk bringt, oder Spitzbuben dingfest macht. Warum - in der Tat! - sollten wir nicht auch die Justiz einen Service-Betrieb nennen? Jeder mag Dinge bezeichnen, wie er will. Aber liegt in einer neuen Begriffsverknüpfung nicht der Anspruch, die Welt mit einer sinnvollen Geistesschöpfung zu bereichern?

Hier beginnt der Zweifel:

"Service" heißt laut Duden (Band 7, Etymologie der deutschen Sprache, 1963 S. 640) "Kundendienst, Kundenbetreuung", gehört also von Hause aus in die Welt kommerzieller Werbung. So und nicht anders verfährt auch der Sprachgebrauch. Warum dann die Begriffserstreckung in Bereiche, von denen schwerlich zu sehen ist, daß oder inwiefern ihr Thema die gefällige und angenehme Bedienung von Kundschaft sein sollte. Wen bedient der Strafrichter: Den Angeklagten? Das Opfer? Den Staatsanwalt? Oder der Zivilrichter: Die siegreiche, die unterlegene Partei? "Service" als persönlicher Nutzen ist hier ein widersprüchlich' Ding; was der eine lobt, wird oft der andere schelten. Aber Sinn und Nutzen der Justiz liegen zunächst darin, daß sie Recht und Gesetz ihre Geltung verschafft, mithin die Lebensgrundlage des freiheitlichen Staates verteidigt und wahrt. Das mag dann Beifall finden oder Unwillen wecken, hier persönlichen Nutzen eintragen und dort Verlust bedeuten: Deren Saldo berührt den Sinn der Rechtspflege nicht. Sie braucht zu ihrer Rechtfertigung sich nicht die Tünche der Service Station anzuschminken. Die Offenkundigkeit dieses Tatbestandes drängt zu der Frage, warum die Redeweise Advokaten findet. Man mag sie um eines Sympathiegewinns willen für tunlich und geschickt halten: Ein netter Service - wem sollte der eine Investition nicht wert sein? Aber Wortfassaden blättern ab. Dem Publikum wird auf die Dauer kaum verborgen bleiben können, daß die Richter weder Kaffee servieren noch Konfektionsartikel zu verkaufen haben.

Das tiefere Motiv, das der Flucht in die neue Begrifflichkeit zugrundeliegt, dürfte die Scheu sein, gesellschaftliche Leistungen, die jeweils inkommensurabel sind - wie Wagenpflege auf der Tankstelle oder Bedienung im Lokal gegenüber der Feststellung und Zumessung des Rechts - in ihrer Unterschiedlichkeit auch gelten zu lassen. "Service" ist die Nacht, in der jede Katze grau und alles menschliche Handeln gleichartig ist, der gemeinsame kleinste Nenner, den die Konsumgesellschaft für alles und jedes zur Hand hat: eine kümmerliche Erfindung!"

2. Diesmal ist von "Dienstleistung" die Rede, was jedenfalls seriöser klingt als die oben abgehandelte Allerweltsvokabel, mit der jetzt schlechterdings jedes Terrain überflutet wird, so daß ein "Full-Service-Begräbnis", umfassend Transport, Kühlung sowie Einkleidung des Leichnams in umweltverträglich verrottbare Totenwäsche (vgl. FAZ v. 04.11.94) bemerkenswert sein mag - aber nicht in begrifflicher oder sprachlicher Hinsicht. Selbst "im kirchlichen Raume" (wie man in schwebender Rede zu sagen pflegt) wird dem Publikum fast jedweder Service angedient, vom "weltanschau-lichen Angebot" bis zu Freizeitangeboten für Jung und Alt (wogegen sachlich natürlich nicht das Geringste einzuwenden ist).

Ein ökologisches Handbuch, bei dem ich Rat gesucht habe, meint wohl ganz zu Recht:

"Obwohl Dienstleistungen in den Industrieländern einen immer stärkeren Anteil am Wirtschaftsleben haben, haftet dem deutschen Begriff noch allzuviel vom vordemokratischen "Dienen" an; deshalb ersetzen wir ihn ab und zu durch den neudeutschen Sprachimport "Service".

"Ab und zu" dürfte untertrieben sein; jedenfalls aber handelt es sich in der Tat um lediglich unterschiedlich eingefärbte Vokabeln für genau das gleiche.

3. Sind also Justiz, Rechtsprechung oder - wenn man sich einer außer Kurs gesetzten altfränkischen Ausdrucksweise bedienen will "Rechtsgewährung" - Dienstleistungen: nach Wesen und Substanz? Vielleicht ist es nicht ganz überflüssig, einen simplen Befund voranzustellen:

Die Justiz, der Rechtsprechungsbetrieb - oder wie immer man unser Unternehmen umschreibt -, ist mit Dienstleistung für das Publikum durch tausend Bande verknüpft; vielleicht kann man sogar sagen, die Justiz sei zu 90 % (jedenfalls zu irgendeiner sehr erheblichen Quantität) Dienstleistung oder eben "Service". Das braucht in diesem Mitteilungsblatt gewiß nicht ausgewalzt zu werden: Zumal auf unseren beiden Hamburger Justiztagen ist ganz zu Recht diese Qualität des "Sievekingplatzes" (pars pro toto, denn das meint alle unsere Dienststellen und Gerichte!) herausgestellt worden: einladend, erläuternd, helfend, wegweisend, werbend, aber zugleich selbstkritisch. Denn auch über Mängel, also das Fehlen eines angemessenen und eigentlich geschuldeten Service ist dort und sonst in unserer Publizistik immer wieder berichtet worden. Unser Vorsitzender Roland Makowka hat eine Abhandlung dazu verfaßt (Das humane Gericht - Mauke Söhne 1991) und ist dieser Sache wegen wie ein Wanderprediger durch die Wüsten gezogen. Von all dem ist kein Satz, keine Silbe abzustreichen - und gerade deshalb hier auch nicht zu wiederholen.

Aber - und auf das große Aber ist nun zurückzukommen - das ist dennoch nicht alles, ist nicht das Wesen, das Eigentliche, der Kern oder - burschikoser gesagt: der Witz von Rechtsprechung und Justiz.

Meine alte Glosse färbt - durch polemische Überspitzung des Gedankens - den Service allerdings viel zu negativ ein; aber auch bei voller Wertschätzung aller schönen Dienstleistungen, die unser modernes Leben teils erst ermöglichen, es jedenfalls steigern und bereichern, gehört die Rechtsprechung nicht dahin.

Denn Service ist - sozusagen per definitionem - an konkrete Interessen gebunden. Dient er ihnen, so taugt er was; verfehlt er sie, verfehlt er seinen Sinn und Zweck. Das trifft auf die Rechtsprechung nicht zu:

Der Richter ist nach allem, was er hat und kann, für solche Interessenwahrung und ihre Durchsetzung denkbar ungeschickt, ungeeignet und vor allem: unberufen.

Ob ein Interesse sich vernehmlich oder schüchtern, in kollektiver Ballung oder ohne Hilfstruppen, ob finanziell mächtig oder im dürftigen Kleid der Prozeßkostenhilfe zur Geltung bringt, darf ihn nicht kümmern, während solche Faktoren die Servicewelt legitimerweise prägen und bestimmen. Um es kurz zu machen: Der Richter dient nicht dem Publikum, sondern der Rechtsordnung. Folgt daraus nun vielleicht, daß die Rechtsprechung sich - wie im Eingangszitat gerügt - zum "Selbstzweck" macht, faktisch oder sogar programmatisch? Das möchte auf Anhieb so scheinen, aber doch nur aus einer recht verkürzten Sicht auf Staat und Gesellschaft. Denn die Rechtsprechung dient keineswegs sich selbst (unbeschadet gelegentlicher Verliebtheiten in juristische Theorien, Lehrsätze und Systeme, die aber mehr in den Fakultäten als in der Praxis aufgehäuft werden), sondern letztlich niemandem anders als dem Publikum; allerdings - und hier liegt ihre Besonderheit - mittelbar, jedenfalls ihrer Idee nach nur mittelbar! Aber dieser Dienst kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden: Was nützt der schönste Service, was sind alle Interessen kleiner und großer Leute schon wert, wenn nicht eine jedenfals halbwegs verläßliche, stabile und wirklich praktizierte Rechtsordung besteht? Man braucht den Blick nur über den Erdball schweifen zu lassen, auf dem die Flut von Chaos, Rechtlosigkeit und Elend mancherorts erschreckend steigt, um bestätigt zu finden, daß wir auf einer der nicht gar so zahlreichen "Inseln der Seligen" wohnen, was durch mancherlei Umstände bedingt zu sein scheint. Einer davon ist die rechtliche Verfaßheit der Gesellschaft, für deren Permanenz kein Naturgesetz bürgt. Die Rechtsprechung allein kann diese Bürgschaft natürlich nicht leisten; aber ohne verläßliche Justiz wäre die Partie von vornherein verloren. So ist es dieser Dienst am ganzen, nicht irgendwelche Serviceleistungen im einzelnen, über den es zu reden lohnt, sofern man der Sache auf den Grund gehen will.....

Alles dies ist natürlich weder neu noch im geringsten originell. Über die "3. Gewalt" und ihre raison d'etre sind seit der Aufklärung Bibliotheken mit philosophischer, juristischer und soziologischer Literatur gefüllt worden. Trotzdem mag eine bescheidene Glosse zuweilen dazu taugen, aus aktuellem Anlaß einen abgesunkenen und scheinbar toten Wissensbestand wieder ins lebendige Bewußtsein zu heben.

Günter Bertram